Die Bahnhofsmission (eBook)

Aller Tage Hoffnung. Roman

****

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
445 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-2857-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Bahnhofsmission -  Veronika Rusch
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Berlin, 1908. In der Mission am Schlesischen Bahnhof finden die Verzweifelten, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Großstadt strömen, Schutz. Hier führt das Schicksal auch zwei junge Frauen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die mittellose Abenteuerin Natalie - und Alice, die aus gutem, großbürgerlichem Hause stammt, sich aber mit der Rolle der behüteten Haustochter nicht zufriedengibt. Gemeinsam helfen sie, wo sie nur können. Dabei ist Natalies zupackende Art Gold wert, denn die Menschen vertrauen ihr. Doch bald zeigt sich, dass nicht alle mit dem wohltätigen Tun einverstanden sind. Irgendjemand sieht seine Geschäfte mit den Schutzbedürftigen gestört ...



Veronika Rusch studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona und München. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem Heimatort in Oberbayern. Neben Romanen schreibt sie Theaterstücke für Erwachsene und Kinder. Für ihre Krimikurzgeschichte HOCHWASSER erhielt sie 2009 den zweiten Preis im AGATHA-CHRISTI-KRIMIWETTBEWERB.

Veronika Rusch studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona und München. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem Heimatort in Oberbayern. Neben Romanen schreibt sie Theaterstücke für Erwachsene und Kinder. Für ihre Krimikurzgeschichte HOCHWASSER erhielt sie 2009 den zweiten Preis im AGATHA-CHRISTI-KRIMIWETTBEWERB.

1


BERLIN, 4. SEPTEMBER 1908


Wie hässlich lachende Menschen sind, dachte das kleine Mädchen, während sie die Zuschauer betrachtete, die im Halbkreis um sie herumstanden. Ihre aufgerissenen Münder waren rote Höhlen, in denen fleischige Zungen lagen und schadhafte, schiefe Zähne standen davor wie kaputte Zäune. Sie ekelte sich vor ihnen. Dabei war es gut, dass die Menschen lachten, weil es bedeutete, dass sie heute Abend etwas zu essen bekommen würde.

Seit Tagen hatte es geregnet. Die alte Nuria mit ihrer Glaskugel hatte etwas von der Sintflut und den Heimsuchungen des jüngsten Tages gefaselt und sie damit zum Weinen gebracht, bis schließlich Claudine die Alte angefaucht hatte, sie solle gefälligst die Klappe halten, sonst würde sie ihr zeigen, was eine Heimsuchung sei. Das Mädchen schaute ängstlich in den Himmel. Die Regenwolken waren noch immer da, die Abendsonne streckte nur ganz vorsichtig ihre Finger dazwischen hindurch. Es war nur eine kurze Pause, doch Papa hatte beschlossen, sie zu nutzen und eine Vorstellung zu geben. Sie war eilig in ihr Harlekinkostüm geschlüpft, das schon so zerschlissen war, dass sie es nicht mehr zuknöpfen konnte, sondern es stattdessen mit einem Strick um den Bauch zubinden musste. Dann hatte sie ihr Tambourin mit den kleinen Glöckchen daran genommen und war hinausgelaufen, um die Menschen, die schon neugierig um den Lagerplatz herumschlichen, anzulocken, näher zu kommen. Der Wanderzirkus, mit dem sie unterwegs waren, seit sie denken konnte, lagerte auf einer Wiese vor einer kleinen Stadt und, Papa hatte gemeint, hier wären die Leute reich, hier wäre ein guter Platz für sie. Als sie angekommen waren, hatte auch alles hübsch ausgesehen, die Wiese mit den Bäumen drumherum, der Bach, der vorüberfloss, die hübschen grauen Steinhäuser und die große Kirche. Doch bereits in der Nacht ihrer Ankunft hatte es zu regnen begonnen und seitdem nicht wieder aufgehört. Niemand war gekommen, um ihren Aufführungen zuzusehen, und sie hatten kein Geld verdient, was Papa so wütend gemacht hatte, dass er seine leere Flasche Branntwein gegen die Wand ihres Wagens geworfen hatte, wo sie in tausend Stücke zerbrochen war. Das Mädchen hatte die Scherben schnell aufgesammelt, damit Papa sich nicht schnitt, denn das würde ihn noch wütender machen.

Es regnete nun seit sieben Tagen. Die Wiese hatte sich in einen Sumpf verwandelt, und auf ihrem Lagerplatz stand das Wasser knöcheltief. Es war dem Mädchen daher auch schwergefallen, zu hüpfen und zu springen, so wie sie es tun sollte, weil Harlekine das nun einmal taten. Ihre Schuhe waren zu groß und waren immer wieder im dunkelbraunen Matsch steckengeblieben. Dennoch blieben Leute stehen und sahen zu. Sie musste sich nicht zu der kleinen Bühne des Theaters hinter ihr umdrehen, um zu wissen, wie weit Papa mit der Geschichte war, sie kannte die ganze Geschichte auswendig und wusste auch, wann die Zuschauer wieder ihre Münder aufreißen und lachen würden. Das war ganz einfach. Bei den Erwachsenen genauso wie bei den Aufführungen für die Kinder. Nur dass sie bei den Aufführungen für die Erwachsenen nie so richtig verstand, weshalb die Leute lachten. Sie fand nichts von dem, was bei diesen Stücken passierte, richtig lustig, und Papa erklärte es ihr auch nicht. Sie hatte einmal danach gefragt, aber er hatte nur gelacht und gemeint, sie sei zu dumm, um das zu verstehen. Das war etwas verwirrend, denn Claudine sagte immer »Du bist die klügste kleine Kröte, die mir je untergekommen ist«, und kniff sie dabei grinsend in die Wange. So dumm konnte sie also nicht sein. Aber sie war eben noch klein, und vielleicht war man da auch noch dumm. Wenn man Papa glauben durfte, war sie ungefähr acht Jahre alt. Doch so sicher war das nicht, weil Papa nicht so gut war mit Zahlen und auch sonst viele Dinge vergaß oder durcheinanderbrachte.

Jetzt kam gleich der Moment, der am allerlustigsten war für die Erwachsenen. Sie lauschte Papas Stimme, die kaum wiederzuerkennen war, wenn er spielte. Er konnte sich in alle Figuren seines Stücks verwandeln und redete jedes Mal mit einer anderen Stimme, mal sanft und liebenswürdig, mal gemein und böse. Gerade als die Stelle kam, wo die Leute wieder lachen würden, traf sie ein dicker Regentropfen im Gesicht und sie erstarrte. Nein. Es durfte jetzt nicht regnen! Sie ließ ihr Tambourin fallen, mit dem sie besondere Stellen im Stück immer begleitete, zum Beispiel wenn zwei Figuren tanzten, oder wenn es spannend wurde, und drehte sich um, um die Blechbüchse zu holen, die neben der Bühne bereitstand. Damit ging sie am Ende immer herum und sammelte das Geld ein, das die Leute zu geben bereit waren. Wenn sie genug gelacht und sich womöglich sogar auf die Schenkel geklopft hatten, waren sie spendabler, als wenn sie nicht lachten. Heute hatten sie viel gelacht, aber nun kam der Regen und der würde alles kaputt machen. Das Geld einzusammeln war ihre allerwichtigste Aufgabe. Dafür war sie auf der Welt, sagte Papa immer. Das war ihre Arbeit, mit der sie sich etwas zu essen verdiente. Kein Geld, kein Essen, so einfach war das. Das verstand man, auch wenn man erst acht Jahre alt und dumm war.

Bis sie sich die Büchse geschnappt hatte, war der Regen stärker geworden. Sie wirbelte wieder herum und begann zu laufen, auf die Leute zu, die bereits anfingen, wegzugehen, die Krägen hochgeschlagen, die Köpfe unter dem beginnenden Regen geduckt. Ihre Schuhe blieben im Matsch stecken, zuerst der eine, dann der andere, sie schlüpfte heraus und lief barfuß weiter, auf die Leute zu. Dabei schüttelte sie die Büchse, in der ein paar Kieselsteine lagen, damit es so klang, als sei bereits Geld darin, doch es regnete bereits zu stark, die Menschen beachteten sie nicht mehr, egal wie auffordernd sie ihnen die Büchse vor die Nase hielt. Sie rempelten sie an, schoben sie zur Seite und flüchteten unter die schützenden Dächer der Häuser. Das Mädchen blieb zurück. Der Regen tropfte ihr ins Gesicht und in den Kragen ihres zerschlissenen Kostüms und machte leise Tropfgeräusche auf der leeren Blechbüchse. Auf dem Deckel war eine Tänzerin abgebildet, mit einem grünen Prinzessinnenkleid und schwarzen Haaren, die fast bis zum Boden reichten, und das Mädchen stellte sich oft vor, dass das ihre Mutter sei. Die Tänzerin lächelte aufmunternd, doch das tröstete das Mädchen nicht. Es würde heute Abend nichts zu essen geben. Und morgen früh auch nicht. Höchstens ein Glas Milch bei Claudine, wenn es ihr gelang, sich davonzuschleichen. Papa hatte ihr verboten, bei anderen Leuten etwas zu essen oder zu trinken. Wir sind Puppenspieler, keine Bettler, sagte er immer und wurde sehr wütend, wenn er erfuhr, dass sie nicht gehorchte und ein Stück Brot oder ein Glas Milch annahm.

Sie trottete zurück zur Theaterbühne, wo Papa aufgehört hatte zu spielen. Ihre nackten Füße waren kalt, und zwischen den Zehen drückte sich bei jedem Schritt der Schlamm nach oben. Es klang genauso wie das Geräusch, wenn die alte Nuria, die kaum noch Zähne hatte, ein Stück Weißbrot aß, irgendetwas zwischen Schmatzen und Saugen. Sie war gerade bei ihren Schuhen angelangt, als Papa hinter der Bühne hervorkam. Sie hörte seine schweren Schritte auf sie zukommen, sah jedoch nicht auf, sondern hielt den Blick fest auf ihre Lederschuhe gerichtet, die halb im Schlamm steckten. Als er bei ihr angelangt war, konnte sie seinen Atem riechen, der nach Branntwein roch, den Schweiß und den kalten Rauch der Zigaretten, der immer in seiner Kleidung hing. Er riss ihr die Blechbüchse aus der Hand und öffnete sie. Das Mädchen hörte die Steine darin herumkullern. Dann hörte sie ihn fluchen. Es klang wie das Knurren eines bösen schwarzen Hundes. »Du warst zu langsam. Wieder mal. Du kleines Stück Scheiße taugst einfach zu gar nichts«, knurrte der schwarze Hund, zu dem Papa geworden war und warf die Blechbüchse auf den Boden. Obwohl sie sich duckte, traf sein Schlag sie mit voller Wucht. Sie taumelte, fiel hin und landete mit dem Gesicht im Matsch. Kalter, nasser Schlamm drang ihr in Augen und Mund. Sie spürte ihn rau und kratzig zwischen ihren Zähnen, es schmeckte nach Erde und Moder und vermischte sich mit dem Geschmack von Eisen, als das Blut aus ihrer aufgeplatzten Lippe drang. Irgendwann kamen die Tränen dazu.

Natalie betrachtete prüfend ihre Zähne im Spiegel. Sie waren schwarz von dem Zahnpulver, das sie benutzte, eine Mischung aus zerstoßener Holzkohle, Schlämmkreide und ein paar Tropfen Nelkenöl. Dieses Pulver erinnerte sie jeden verfluchten Morgen an damals. An den Moment, als ihr Vater sie wegen der leeren Blechbüchse verprügelt und sie den Mund voller Schlamm gehabt hatte. Schon oft hatte sie sich vorgenommen, endlich eine dieser neuen, sündhaft teuren Zahncremes zu kaufen, die in den Zeitungen angepriesen wurden. Sie hießen Kalodont und Odors Zahncreme und versprachen »aromatisch erquickend« und zudem hilfreich gegen Zahnschmerzen und Zahnpilz zu sein. Natalie hatte weder Zahnschmerzen, noch konnte sie sich vorstellen, was ein Zahnpilz sein sollte, es ging ihr nur darum, weiße Zähne zu haben und sie so lange wie möglich zu behalten. Ihr selbstgemachtes Zahnpulver leistete ihr dabei seit Jahren gute Dienste. Wenn nur die Erinnerungen nicht wären. Aber vielleicht rief sie diese Erinnerungen auch absichtlich herbei, jeden Morgen aufs Neue, denn anders war es nicht zu erklären, dass sie noch nie zugegriffen hatte, wenn sie in der Drogerie die Zahncremes hatte liegen sehen, ordentlich aufgereiht, daneben ein Aufsteller aus Pappe, auf dem stand: »Anerkannt bestes, unentbehrliches Zahnputzmittel«. Am Geld lag es nicht, obwohl 70 Pfennige für eine Tube schon Wucher waren. Vermutlich war es einfach das Richtige, bei ihrem altbewährten Zahnpulver zu bleiben: Es war preiswert und erinnerte sie daran,...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2023
Reihe/Serie Heldinnen des Alltags
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bahnhofsmission • Berlin • Emanzipation • Frauenschicksale • Freundschaft • Geschenk für Frauen • gute Gesellschaft • Historische Romane • Jahrhundertwende • Kaiserreich • Krimi • Kriminalroman • Mädchenfänger • Muttertagsgeschenk • Prostitution • Saga • soziale Gegensätze • Starke Frau • weibliche Ermittler
ISBN-10 3-7517-2857-0 / 3751728570
ISBN-13 978-3-7517-2857-7 / 9783751728577
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