Das Unrecht (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman. Die Schatten unserer Vergangenheit. Die Abgründe einer Familie. Der packende SPIEGEL-Bestseller
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
416 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27177-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Unrecht -  Ellen Sandberg
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Ein Verrat, der Leben zerstörte. Eine Lüge, die Jahrzehnte verborgen blieb. Der große Roman der Bestsellerautorin
Jedes Jahr, wenn der Herbst naht, wird Annett von einer inneren Unruhe erfasst. Dann macht sich die Narbe an ihrem Arm bemerkbar, dann werden die Erinnerungen an den Sommer 1988 und an die Clique von damals wach. Fünf Freunde, die sich blind vertrauten, bis einer von ihnen zum Verräter wurde.
Jetzt, Jahrzehnte später, begreift Annett, dass sie ihren inneren Frieden erst finden wird, wenn sie sich der Vergangenheit stellt. Kurz entschlossen fährt sie nach Wismar. Zurück an die Ostsee, in ihre alte Heimat. Doch je mehr sie dort über die Ereignisse jenes Sommers herausfindet, umso deutlicher wird: Sie hätte die Vergangenheit besser ruhen lassen, denn der Verrat von damals reißt ihr Leben erneut in einen Abgrund ...

Ein großer Spannungsroman über eine ungesühnte Schuld und die Schatten der Vergangenheit, die eine Familie nach Jahrzehnten einholen.

Ellen Sandberg arbeitete zunächst in der Werbebranche, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete - mit riesigem Erfolg: Ihre psychologischen Spannungs- und Familienromane, die immer monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stehen und denen immer ein wichtiges Thema unserer deutschen Vergangenheit zugrunde liegt, bewegen und begeistern zahllose Leserinnen und Leser - wie zuletzt »Das Geheimnis«, »Das Unrecht« und »Keine Reue«. 2022 wurde ihr der Verfassungsorden des Freistaats Bayern verliehen. Unter ihrem bürgerlichen Namen Inge Löhnig veröffentlicht sie erfolgreiche Kriminalromane.

Wismar


Frühjahr 1988


Scharfe Böen jagten über die Bucht. Sie wühlten das Meer auf, rissen die Gischt von den Wellenkämmen und Mischa das Barett mit dem glänzenden Stern vom Kopf. Es fiel in den Sand und wurde vom Wind weitergeschubst. Kaum dachte er, er würde es erwischen, kam die nächste Bö und er lief weiter hinterher, bis er das Teil endlich einfing, das seine Eltern so herrlich ärgerte. Seine Mutter vor allem, die Schwerter zu Pflugscharen schmieden wollte. »Che Guevara war ein Guerillakämpfer. Er hat getötet. Mach dir das klar. Keine Ideologie der Welt rechtfertigt Mord.«

Eigentlich war Mischa ja derselben Meinung. Die Mütze war eher als Provokation gedacht und keinesfalls eine Ansage. Denn Gewalt war für ihn ebenso wenig ein Mittel der Auseinandersetzung wie für seine Mutter.

Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Den Spruch fand er klasse. Auch das Bild von den Schwertern und Pflugscharen. Obwohl es total schief war. Denn der Kampf Aug in Aug, Mann gegen Mann mit dem Schwert in der Hand war Geschichte. Krieg wurde heute aus der Distanz geführt. Mit Migs und Tornados, mit Pershings und SS20-Raketen. Ein Druck auf den roten Knopf und Bumm! Die Menschheit flog in die Luft.

Über all das konnte er mit seinen Eltern nicht wirklich reden, obwohl sie ähnlich dachten. Doch sie waren Duckmäuser, die es nur in den eigenen vier Wänden wagten, den Mund aufzumachen und das System zu kritisieren. Eine ähnliche Sorte Untertan, wie Diederich Heßling in Heinrich Manns Der Untertan. Immer schön buckeln. Allerdings nicht vor einem Kaiser, sondern vor diesen Popelinejackenträgern in Berlin.

»Wir tun das für dich«, hatte sein Vater gesagt, als er ihnen Heuchelei vorwarf. »Was glaubst du denn, weshalb du auf die EOS darfst! Man muss sich anpassen, wenn man weiterkommen will. So ist das nun einmal.«

Natürlich taten sie es nicht nur für ihn, sondern hauptsächlich für sich. Für eine Datsche auf Poel, für eine Segelerlaubnis in der Bucht, fürs eigene Weiterkommen.

Sein Vater war Dozent an der Ingenieurhochschule Wismar und erwartete, dass Mischa seinem Beispiel folgte und Naturwissenschaften studierte. So wie er es beim Wechsel von der Polytechnischen Hochschule auf die EOS angegeben hatte. Denn ohne ein Berufsziel, das in den Plan des Staatsrats passte, wäre er dort nicht zugelassen worden. Dass er Literatur oder Philosophie verlockender fand, ahnte niemand. Das würden die da oben und seine Eltern erst nach dem Abi erfahren, wenn er fürs Studium nach Berlin gehen wollte. Und hoffentlich auch durfte. Mischa hob den Blick und sandte eine stumme Bitte an diese Macht da oben, dass der neue Fünfjahresplan zusätzliche Geisteswissenschaftler vorsah, obwohl die Macht, das zu entscheiden, bei anderen lag. Bei sozialistisch gefestigten Bürokraten. Ein dumpfer Druck stieg bei diesem Gedanken hinter seinem Brustbein auf. Es war nicht gerecht!

Er klopfte den Sand von der Mütze, setzte sie auf und ging weiter. Die Ruine eines Wochenendhauses, das während der Nazizeit einem Künstlerpaar gehört hatte, kam in Sicht. Zerstört von den Briten im Frühling 1945 und nie wieder instand gesetzt. Aber auch nicht abgerissen. Wie so viele Häuser in Wismar. Seit Jahrzehnten verfielen die verwundeten Gebäude. Auch das Künstlerdomizil. Die Giebelseite fehlte beinahe komplett. Dunkle Zimmerhöhlen blickten Richtung Land. Zwischen den Balken des zusammengebrochenen Dachstuhls sprossen Birken und Weiden. Die Menschheit würde sich atomar auslöschen und die Natur einfach weitermachen, wie seit Jahrmillionen. Sie brauchte die Menschen nicht.

*

Mischa umrundete das Haus und stieg durch eine Fensteröffnung hinein. Unter seinen Sohlen knirschte Sand. Im Wintergarten hatten sie die scheibenlosen Fenster mit durchsichtigen Planen abgedichtet, an denen der Wind zerrte. Die Folie war ungleichmäßig dick und schlierig. Die Welt dahinter verschwamm zu einem Aquarell. Einen Augenblick genoss Mischa diese surreale Aussicht, dann zog er hinter einem losen Holzpaneel die zerknautschte Packung f6 hervor, ließ sich auf den Trabi-Sitz fallen, den Sandro angeschleppt hatte, legte die Füße auf die bröckelnden Ziegel der Fensterlaibung und gab sich Feuer.

Nachdenklich blies er den Rauch in die Luft. Eins nach dem anderen, sagte Oma immer. Vielleicht war das nicht verkehrt. Also erst aufs Abi konzentrieren. In sechs Wochen begannen die Prüfungen. Danach konnte er überlegen, wie es weiterging. Wobei er seit heute – genauer gesagt, seit dem Vortrag der beiden NVA-Offiziere – kaum noch Hoffnung auf einen Studienplatz hatte. Wer nicht mit dem Strom schwamm, hatte das Nachsehen.

Seit dem Wehrkundeunterricht wusste er, dass er nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen und auf Menschenattrappen schießen wollte. Geschweige denn auf Menschen. Ob ihm das gelingen würde, stand in den Sternen. Vielleicht musste er seine Seele für ein Studium verkaufen. Der Staat als Mephisto. Er selbst als Faust. Es war zum Kotzen.

»Moin Mischa!« Sandro kam, gefolgt von seiner Freundin Peggy, herein. Seit einigen Monaten gehörten die beiden der Grufti-Szene an und trugen nur noch schwarze Klamotten. Nach Unterrichtsende folgte das Styling. Schwarz umrandete Augen, in alle Himmelsrichtungen toupierte Haare. Kreuze und Totenschädel als Schmuck.

»Na, wälzt du schon Suizidgedanken?« Sandro stellte eine Sechserpackung Störtebeker ab und ließ sich auf das mottenzerfressene Plüschsofa fallen. Er war ein großer, schlaksiger Kerl und wirkte in der Schornsteinfegerhose, die Peggy für ihn hauteng genäht hatte, wie ein Strich in der Landschaft. »Diese Clowns von der NVA … Das war ja eine krasse Vorstellung.«

»Kannst du wohl sagen.« Peggy ließ sich neben Sandro fallen. »Wobei ihr noch Glück gehabt habt. Manchmal nehmen sie sich die Jungs nach ihren Vorträgen einzeln vor und bequatschen sie so lange, bis die Schwachen und die Streber für drei Jahre ›Ehrendienst‹ unterschreiben.«

»Na super!«, sagte Mischa. Heute waren nicht nur Peggys Augen schwarz umrandet, sondern auch die Lippen schwarz geschminkt. Sie griff nach dem Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug, und Mischa bemerkte die schwarz lackierten Nägel. Gab es tatsächlich Nagellack in dieser Farbe im Konsum? In diesem Konformisten-Staat eher nicht.

»Und jetzt?«, fragte Peggy.

»Hoffen wir«, sagte Mischa.

»Worauf?«

»Dass wir erst nach dem Studium eingezogen werden«, erklärte Sandro. »Dann wäre das Problem gelöst.«

»Wird nicht passieren«, meinte Mischa. »Die meisten holen sie früher.«

»Ich liebe deinen Optimismus.«

Mischa sah sich eher als Realist. »Außerdem werden die bevorzugt, die vorher den dreijährigen Ehrendienst absolvieren. Haben wir doch gerade gehört.« Er malte bei »Ehrendienst« Gänsefüßchen in die Luft.

Der Vortrag der beiden NVA-Offiziere lag ihm wie Blei im Magen. Eigentlich konnte er seine Träume vom Studium gleich in der Ostsee versenken.

Selbst wenn er versuchte, aus ethischen Gründen den Dienst an der Waffe zu verweigern, wusste er nicht, ob er beim Wehrkreiskommando damit durchkäme. Das Verfahren war völlig intransparent, und es war nicht erkennbar, welcher Argumentation diese Kommission folgte. Falls er diese Hürde wider Erwarten nehmen sollte, bedeutete es das Aus fürs Studium. Die Spatensoldaten der Baubrigade wurden in der Regel nicht zugelassen. Höchstens über den Umweg einer vorherigen Ausbildung und mit einer einwandfreien sozialistischen Gesinnung. Studium war nun einmal Klassenauftrag und dazu gehörte der Dienst an der Waffe, den er nicht leisten wollte!

*

Sie holten die Schulsachen raus und paukten erst Russisch, dann Mathe. Irgendwann kam Volker, und Mischa grinste, als er das schwarze Barett sah. Allerdings ohne Stern. Volker häutete sich, gewissermaßen. Erstes Anpassungsopfer waren die Karottenjeans gewesen, ein Geschenk der West-Verwandtschaft. Gefolgt von den Wollpullovern mit V-Ausschnitt aus derselben Quelle. Irgendwo in Bayern gab es einen Popper-Cousin. Neuerdings trug auch Volker Schwarz. Allerdings im Existenzialisten-Stil eines Jean-Paul Sartre. Schwarz gefärbte Jeans und einen Rollkragenpullover, der ihm zwei Nummern zu groß war und Falten quer über die Brust warf. »Moin Leute.« Er spreizte die Finger zum Victory-Zeichen, zog einen Stuhl heran und setzte sich.

Fehlte nur noch Annett. Mit einem Ohr lauschte Mischa auf jedes Geräusch und dabei wurde ihm klar, wie sehr er Annett vermisste. Dieses stille Mädchen, das erst nachdachte, bevor es etwas sagte. Das lieber am Rand saß und zuhörte, als sich in den Mittelpunkt zu stellen. Annett, deren messingfarbene Locken sich so wild kringelten, dass er den Wunsch verspürte, seine Finger darin zu versenken, seine Nase, seinen Mund.

Sie war gut in Physik, während Mischas und Sandros Leistungen zu wünschen übrig ließen. Den Vorschlag, gemeinsam zu lernen, hatte ihre Lehrerin gemacht, und Annett hatte sich zögernd angeschlossen. Aus ihr wurde er nicht recht schlau, denn sie gab wenig von sich preis. Er wusste nur, dass ihre Mutter Krankenschwester und ihr Vater Redakteur bei einer Zeitung war. Und dass Annett segelte, wie er. Vom Sehen kannte er sie daher schon seit Jahren. Denn ihr Pirat lag wie seiner auf der Insel Poel im kleinen Hafen. Doch mehr Kontakt als ein gelegentliches »Moin« hatten sie nie gehabt, bis sie sich auf einmal an der Erweiterten Oberschule in derselben Klasse trafen.

Kurz vor fünf kam sie und entschuldigte...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte 2022 • Bayerischer Verfassungsorden • Bestseller 2022 • Bestsellerautorin • Bestseller Bücher für Frauen • Bestseller Bücher Neuerscheinungen 2022 • Charlotte Link • Das Erbe • Das Geheimnis • DDR • Delia Owens • Die Schweigende • Die Vergessenen • Dora Heldt • eBooks • Einsame Nacht • Elisabeth Herrmann • Familiengeheimnis • Flucht • Herbstzeit • Inge Löhnig • Joy Fielding • Krimi Neuerscheinungen 2022 • Nele Neuhaus • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2022 Bücher • Neuheiten 2022 • Sabine Thiesler • Schuld • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Thriller • Weihnachten Buch • Weihnachtsgeschenke
ISBN-10 3-641-27177-0 / 3641271770
ISBN-13 978-3-641-27177-0 / 9783641271770
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