Am liebsten bin ich Little One (eBook)
285 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-2891-1 (ISBN)
Henrike bekam ihre Diagnose mit zweiundzwanzig - und es war eine Erleichterung, sowohl für sie als auch für ihre Familie: Endlich wusste sie, was mit ihr los war. Warum sie immer wieder auffiel, in der Schule gemobbt wurde, sich so unverstanden fühlte. Nur bei ihrem Lieblingsmusical fand sie Trost, denn in dieser Traumwelt gab es einen Retter, der sie akzeptierte, den sie liebte - und mit dem sie schließlich tatsächlich in Kontakt kam. Endlich gab es jemanden, der sie vorbehaltlos so akzeptierte, wie sie war. Für ihn war sie 'Little One', ein Name, der ihr größtes Geschenk wurde - und ein Glück, das sie durchs Leben trägt.
Henrike wurde 1985 geboren. Nach schwieriger Kindheit und Jugend mit unerkannter Diagnose machte sie eine Ausbildung zur Heil- und Erziehungspflegerin. Heute lebt sie in Hamburg und übt ihren Beruf aus, mit ihrem Handicap geht sie offen um. Außerdem hält sie Vorträge, um über das Leben mit Autismus aufzuklären und Vorurteile abzubauen.
Henrike wurde 1985 geboren. Nach schwieriger Kindheit und Jugend mit unerkannter Diagnose machte sie eine Ausbildung zur Heil- und Erziehungspflegerin. Heute lebt sie in Hamburg und übt ihren Beruf aus, mit ihrem Handicap geht sie offen um. Außerdem hält sie Vorträge, um über das Leben mit Autismus aufzuklären und Vorurteile abzubauen.
Kapitel 1:
Ich bin eine Sanduhr
Januar 2008
Alles begann mit einem Augenblick. Mit einem Atemzug in einer Zeit, die für mich sehr schwierig war.
Fast dreiundzwanzig Jahre hatte es gedauert, bis meine Diagnose gestellt wurde. Jetzt wusste ich endlich, wer ich schon immer gewesen war: eine Autistin. Und doch wollte ich nicht die sein, die man mir attestierte zu sein.
Einerseits wurde mir bestätigt, dass ich nie Schuld an meinem Verhalten getragen hatte und auch nicht an dem, was mir deshalb widerfahren war. Andererseits wurden all die Aussagen bejaht, die in meinem vernarbten Herzen widerhallten: Du bist komisch, ich will nicht mit dir spielen. Mit der Komischen würde ich niemals gehen …
Ich freute mich darüber, endlich zu wissen, welchen Namen dieses Andere in mir trug, und doch zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich wurde auseinandergerissen und wusste nicht mehr, wo ich hingehörte. Ich wurde heimatlos.
Tief im Innern wusste ich, dass ich es schon immer gewesen war …
***
Als ich im Mai 1985 zur Welt kam, mag meine Mutter sich gewundert haben, denn ich war nicht wie andere Babys und auch nicht so, wie meine vier Jahre ältere Schwester Mia gewesen war. Nie schrie ich nach der Flasche. Wenn ich früher wach wurde als meine Mutter, wartete ich schweigend ab, bis sie irgendwann kam. Dann trank ich, und wenn sie mich wieder hinlegte, protestierte ich nicht. Ich schlang nicht die Arme um sie, um mir ein paar weitere Minuten Wärme und Körperkontakt zu stehlen, sondern ließ es einfach geschehen.
Ich war knapp zwei Monate zu früh zur Welt gekommen und musste einige Wochen in der Kinderklinik bleiben. Damals war es noch üblich, die Frühchen weitgehend zu isolieren, um sie keinem Infektionsrisiko auszusetzen. Daher musste meine Schwester lange warten, bis sie mich zu sehen bekam. Sie erzählte mir, ich hätte ausgesehen wie eine Babypuppe: riesengroße blaue Augen mit dichten, langen schwarzen Wimpern, der kleine Mund eine Schnute. Was den puppenhaften Eindruck noch verstärkte, war, dass mein Gesicht kaum Mimik zeigte. Sie legte mich in den Puppenwagen und schob mich selig durch die Wohnung.
Wenig später musste ich wegen einer Lungenentzündung erneut ins Krankenhaus. Dort verbrachte ich vier lange Wochen, in denen selbst meine Mutter mich nur selten besuchen durfte. Von Anfang an war es schwer, eine Bindung aufzubauen, zumal ich wohl selbst keine Kontaktaufnahmeversuche startete.
In den ersten Lebensmonaten beschäftigte ich mich abwechselnd mit Schlafen oder dem Beobachten der bunten Fische zu Hause im Aquarium. An Menschen interessierten mich eher die Knöpfe an ihren Hemden als die Gesichter, und ich schaute sie nicht an. Vielmehr schien ich durch sie hindurchzusehen. Wenn meine Mutter mich auf die Spieldecke im Zimmer legte, machte ich Spuckebläschen und sah ihnen fasziniert zu. An Spielzeug zeigte ich kein Interesse. Ab und an griff ich nach der Rassel, die sie mir hinhielt, doch ich drehte sie nur, statt sie zu schütteln und Geräusche zu erzeugen. Ich war ansonsten ganz mit mir selbst beschäftigt und recht pflegeleicht. Hin und wieder gab ich ein Glucksen von mir. Und da ich nicht weinte oder schrie, erweckte ich den Eindruck, ein rundum zufriedenes Baby zu sein.
Nur ein einziges Mal brüllte ich wie am Spieß, und das war ausgerechnet an dem Tag, als wir beim Fotografen waren, um das typische Familienfoto machen zu lassen. Nichts und niemand konnte mich beruhigen. Es gibt kein einziges Bild, auf dem ich nicht das Gesicht zum Weinen verziehe.
Meine Mutter bedrängte mich nie, sie nahm mich so, wie ich war, und das war eines ihrer größten Geschenke an mich. Ich hatte immer das Gefühl, so, wie ich war, von ihr angenommen zu werden.
Meinen ersten Geburtstag musste ich ohne sie feiern, sie war für einige Tage in Tschechien, und ich war noch zu klein, um mitzufahren. Also blieb ich bei ihrer besten Freundin, Judith. Als meine Mutter mich abholen kam, strahlte sie mich an, glücklich, mich wiederzuhaben. Doch ich verzog keine Miene. Mein Gesichtsausdruck war völlig neutral und spiegelte keinerlei Wiedersehensfreude. Sie gestand mir später, dass sie verletzt gewesen war und das Gefühl gehabt hatte, ihrem Kind egal zu sein.
Als wir einige Tage darauf gemeinsam Judith besuchten, wollte meine Mutter mich zum Mittagsschlaf in das Bettchen legen, in dem ich in der Woche zuvor geschlafen hatte. Aber da wollte ich partout nicht hinein und fing heftig an zu weinen. Erst als sie mich in den Kinderwagen legte, gab ich Ruhe – gerade so, als hätte ich Angst gehabt, wieder bei Judith bleiben zu müssen. Im Nachhinein glaubte sie, dass ich sie sehr wohl vermisst hatte und dies meine Art gewesen war, ihr zu zeigen, dass ich nach Hause wollte, mit ihr.
Meine Mutter und meine Schwester ermunterten mich immer wieder, Mimik und Gesten nachzuahmen. Sie lächelten mich an, verzogen das Gesicht zu lustigen Grimassen, winkten, doch ich reagierte nicht darauf. Ich lebte ganz in meiner eigenen Welt. Meine Erinnerungen reichen nicht so weit zurück, als dass ich sagen könnte, wie diese Welt sich gestaltete und wie ich mich darin fühlte.
Meine Mutter erzählte mir einmal, dass ich als Kleinkind Angst vor lauten Geräuschen hatte. Ich rannte panisch ins Haus, wenn ein Flugzeug über den Himmel donnerte, oder lief hinaus, wenn drinnen die Bohrmaschine angeworfen wurde. Erinnern kann ich mich daran nicht, und doch ist es ein Zeichen für meine Art »zu sein«: ein typisches Diagnosekriterium für das autistische Spektrum.
Sie erzählte mir auch, dass ich es geliebt hätte, durch die wehenden Bettlaken zu laufen, wenn sie draußen über der Wäscheleine zum Trocknen hingen, wieder und immer wieder.
***
März 2008
Es gehört zu der beschriebenen Symptomatik, dass Menschen aus dem autistischen Spektrum so gut wie gar nicht vor einer Gruppe sprechen können. Angst, Schüchternheit und Unfähigkeit in gewissen Dingen, wie zum Beispiel, andere zu motivieren und mitzureißen, halten sie davon ab. Entsprechend nervös war ich, als ich vor der Klasse meiner Berufsschule stand. Doch mein Vorhaben stand fest. Zwei Monate zuvor hatte ich meine Diagnose bekommen; nun war es an der Zeit, für Klarheit zu sorgen. Dies war mein Outing als Autistin. Also sprach ich, mit wenigen Notizen in der Hand. Und zum ersten Mal kamen die Worte frei und fließend.
Ich berichtete von einem kleinen Mädchen mit Autismus, das uns durch den Vortrag führen sollte. Ein Mädchen, das stundenlang mit Püppchen spielte, die in einem großen Wassertopf dahintrieben, verzaubert von dem Anblick. Ich erzählte vom Licht, das sich an der Wasseroberfläche brach und schwebende Muster auf den silbernen Boden des Topfes zeichnete. Dem Mädchen, das Wasser über einen Löffel rinnen ließ und sich dabei vorstellte, selbst unter einem riesigen Dach aus fließendem Wasser zu stehen. Ich sprach von Problemen und Behinderungen und davon, dass Autismus keine Behinderung ist. Ich erzählte von einem Leben, in dem alles wortwörtlich verstanden wird, und erklärte, wie es ist, keine Gefühle verständlich zeigen oder nur schwer entgegenbringen zu können.
Erst am Ende verkündete ich, dass ich dieses Mädchen war. Dann las ich mein Diagnoseschreiben vor: »Wir berichten über oben genannte Patientin, dass sich der Verdacht auf das Asperger-Syndrom bestätigt hat. In der frühkindlichen Entwicklung fanden sich zahlreiche für Autismus typische Besonderheiten wieder.
1. bis 6. Lebensmonat:
–extrem ruhiger Säugling
–schmiegt sich beim Hochnehmen nicht an
–lallt nicht, schreit nicht vor der Mahlzeit
7. bis 12. Lebensmonat:
–sieht lange auf gleiche Gegenstände/Muster
–reagiert nicht, wenn Kindesmutter in das Zimmer kommt
–imitiert nicht
–zeigt nicht auf Gegenstände
–fremdelt nicht
–lernt nicht, den Löffel zu gebrauchen und aus der Tasse zu trinken
2. Lebensjahr:
–bewegt Gegenstände vor den Augen
–zeigt kein Interesse für das eigene Spiegelbild
–lehnt Hautkontakt/Zärtlichkeit ab
–spielt nicht, bewegt Dinge nur stereotyp
–wehrt Sozialkontakte ab
–sieht an Personen vorbei oder scheint durch sie hindurchzusehen
–orientiert sich nicht im Raum, beschäftigt sich mit Teilelement der Umgebung
–abnorme Bewegungen mit dem Kopf
–zeigt kaum Mimik
–entwickelt keine Gestensprache
All das war ich. So war meine Kindheit.
Während meines Vortrags ließ ich den Song »Ich will raus hier« von Pur im Hintergrund laufen, darin geht es um ein autistisches Kind, das nicht spricht. Auch ich sprach nicht, bis ich drei Jahre alt war. Aber ich konnte jedes Wort verstehen, kannte die Bedeutung und auch den Sinn. Zu sprechen aber hätte bedeutet, eine Brücke in die Welt draußen zu errichten, außerhalb meiner eigenen, und mir kam es nicht in den Sinn, eine solche Brücke zu betreten. Und so blieben meine Lippen versiegelt.
In meiner allerersten eigenen Erinnerung saß ich in einem riesigen Wohnwagen und konnte nicht schlafen. Vor dem Bett leuchtete ein rotes Lämpchen von der Musikanlage vor sich hin. In der Dunkelheit um mich herum setzte ich mich auf und betrachtete das Licht. Irgendwann fiel mir auf, dass,...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2022 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autismus • Autismus bei Frauen • Autismusspektrum • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Familie • König der Löwen • Liebe • Liebesbeziehung • Musical • späte Diagnose • Spektrumsstörung • Traumwelt • Unterstützung in der Familie |
ISBN-10 | 3-7517-2891-0 / 3751728910 |
ISBN-13 | 978-3-7517-2891-1 / 9783751728911 |
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