Stunde der Flut (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31153-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stunde der Flut -  Garry Disher
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Menlo Beach, ein paar bescheidene Hütten zwischen holprigen Schotterpisten und struppigen Eukalyptusbäumen, Asbest in den Wänden, Meersalz in der Luft. Charlie Deravin ist vom Dienst bei der Kriminalpolizei suspendiert, tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten. Bei seinen einsamen Strandspaziergängen drehen sich Charlies Gedanken stets um den gleichen alten Fall: den seiner Mutter. Verschwunden, vor zwanzig Jahren. Der Hauptverdächtige: sein Vater. Damals freigesprochen, halten sich die Gerüchte hartnäckig, doch Charlie will nicht an die Schuld seines alternden Vaters glauben. Die nagende Ungewissheit treibt Charlie wieder zurück in die kalten Ermittlungen - und in die Abgründe seiner eigenen Familie.

Garry Disher, geboren 1949, wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten, Kriminalromane und Kinderbücher. Sein Werk wurde für den Booker Prize nominiert und mehrfach ausgezeichnet, u. a. viermal mit dem Deutschen Krimipreis sowie zweimal mit dem wichtigsten australischen Krimipreis, dem Ned Kelly Award. Garry Disher lebt an der Südküste von Australien in der Nähe von Melbourne.

Garry Disher, geboren 1949, wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten, Kriminalromane und Kinderbücher. Sein Werk wurde für den Booker Prize nominiert und mehrfach ausgezeichnet, u. a. viermal mit dem Deutschen Krimipreis sowie zweimal mit dem wichtigsten australischen Krimipreis, dem Ned Kelly Award. Garry Disher lebt an der Südküste von Australien in der Nähe von Melbourne.

1


An einem Montag im Januar, das neue Jahrtausend war gerade mal drei Wochen alt, fuhr Charlie Deravin in sein Elternhaus, um seine Surfbretter zu holen. Es sollte nur ein schneller Abstecher werden, doch als er an der Kreuzung Bass Street und Tidepool Street das Zu-verkaufen-Schild im verdorrten Rasen stecken sah, hielt er an, stand mit laufendem Motor mitten auf der Straße und verspürte einen merkwürdigen Stich in der Brust. Es war also so weit, keine abstrakte Vorstellung mehr. Das Schild war handgemalt, so als ob sein alter Herr darauf hoffte, dass niemand es ernst nehmen würde, aber es war für alle zu sehen. 

Für Charlie geriet alles ins Wanken. Verlor an Konturen oder nahm andere an. Ihm waren die verrosteten Regenrinnen nie aufgefallen, ebenso wenig die verfaulten Fensterrahmen und die Rosettenflechten auf dem Dach. Das war kein Haus mehr, kein Heim, kaum eine Strandhütte. Auf der Veranda fehlten die Topfgeranien seiner Mutter. Und auch sein Vater, der reglos in einem Liegestuhl saß und ihn beobachtete, hatte sich verändert.

Charlie stellte seinen Subaru in die Einfahrt, stieg aus und reckte sich. Aus der Richtung, in der die Tidepool Street in einer Sackgasse endete und der Pfad begann, der durch die Teebäume zum Strand führte, konnte er das Meer hören und riechen. Möwen machten sich nachdrücklich bemerkbar. Komplexe Gefühle ebenso.

Charlie drückte sich seitlich am Holden seines Vaters vorbei, wobei sich sein T-Shirt in den wuchernden Büschen an der Einfahrt verfing, und trat ins Offene.

»Dad.«

»Sohn.«

»Ich dachte, du bist auf der Arbeit«, sagte Charlie.

Detective Sergeant Rhys Deravin, überschattet vom Verandadach, der bevorstehenden Scheidung und der tief sitzenden Enttäuschung, wieder mal eine Lüge schlucken zu müssen, diesmal die seines Sohns, sah ihn an.

Okay, dachte Charlie. Er überquerte den Rasen, wurde kurz von einem Flecken Sonne geblendet und setzte sich seinem Vater gegenüber in einen Liegestuhl. Auf der verbeulten Armeekiste zwischen ihnen, Aufbewahrungsort der Strandschuhe, Schwimmflossen und Badelatschen der Familie, stand dampfend ein Becher Tee.

»Gute Fahrt gehabt?«

Charlie hörte die anderen Fragen heraus: Du hast dir einen Montagmorgen ausgesucht, weil du gehofft hast, dass ich auf der Arbeit bin? Schaust du auch bei deiner Mutter herein? Ist Liam bei dir? Und so fort.

»Ganz okay.«

Sein Vater, der durch ein die Bass Street entlangklapperndes Auto abgelenkt wurde, griff geistesabwesend nach seinem Tee. Er trank einen Schluck, stellte den Becher wieder auf die Kiste und schlug die Beine übereinander – dünn, braun, sehnig, die Beine eines Strandläufers; Radlerbeine in zerlumpten Shorts. In Rhys Deravin staute sich stets geballte Energie, bis sie sich entlud. Körperliche und mentale Energie. Er genoss ein Renommee als Verbrecherjäger, nicht so sehr als Ehemann und Vater. Er war Ende vierzig und sah immer noch gut aus.

Rhys stand auf und schüttete den Tee auf den Rasen. »Na, dann überlass ich dich mal deiner Arbeit.«

»Dad …«

»Hast du keinen Anhänger mitgebracht?«

»Es geht nur um die Bretter. Da reicht der Dachgepäckträger.«

Ein wenig hilflos merkte sein Vater noch an: »Und dein Bett und der Schrank?«

Charlie verspannte sich. »Heilsarmee, dachte ich.«

Die Stimmung kippte. Sein Vater ließ die Muskeln spielen, fasste sich wieder und sagte: »Du kümmerst dich darum, nicht ich.«

Er donnerte durch die Fliegentür und tauchte sofort wieder auf. »Stell mal dein Auto weg.«

»Mach ich.«

Bis Charlie den Wagen zurückgesetzt und dort abgestellt hatte, wo er den wenigen Verkehr in Menlo Beach nicht behinderte, hatte sein Vater, der nun eine Hose, frisch geputzte Schuhe, ein kurzärmliges Hemd und eine Krawatte trug, seine Aktentasche gepackt und ihm zum Abschied hinter dem Lenkrad zugenickt. Charlie nickte zurück. Er spürte, wie die Anspannung ein wenig nachließ.

Charlie fragte sich, ob man das Leben – einer oder mehrerer Personen – auf ein Haus reduzieren konnte.

Seine Surfbretter lagerten auf einem Gestell im Gartenschuppen, doch er öffnete die Haustür und betrat das Innere; er musste das Gefühl abschütteln, seine Kindheit zu verlieren. Er ging sofort ins Wohnzimmer, ein großer Raum mit einer Küche am Ende, von dort in einen abgewinkelten Flur mit weiteren Zimmern dahinter: sein Schlafzimmer, das von Liam, das seiner Eltern; Badezimmer und Waschküche an der Hintertür. Alles winzig.

Charlie war erschüttert, das Wohnzimmer so entleert zu sehen, nur zwei nicht zusammenpassende Lehnsessel zu beiden Seiten des Couchtischs, den seine Mutter offenbar nicht hatte haben wollen. Auf den Regalen an der Hinterwand standen ein paar wenige Bücher: Enzyklopädien, Krimis von Tom Clancy, Segelhandbücher, Biografien von Kricketspielern und Surfern. Die hatte Charlies Mutter ebenfalls nicht haben wollen. Ein Kartentisch, wo früher der Esstisch gestanden hatte, ein Stuhl mit gerader Rückenlehne vor einer Schüssel fast aufgegessener Cornflakes und ein leeres Glas mit einem Rest Orangensaft.

Charlie spülte Schüssel und Glas an der Küchenspüle aus, so als wolle er sich an eine solide Gegenwart klammern. So ist das jetzt nun mal, dachte er. Überall in ihrem Leben zeigten sich Lücken, und alle Versuche, sie zu stopfen, waren nur provisorisch. Kein Wunder, dass sein Vater in letzter Zeit nur selten herkam und seine Zeit lieber mit Arbeit und seinem Flittchen aus Prahran ausfüllte. Flittchen war Liams Ausdruck: Ihm war es um die Alliteration gegangen. Charlie mochte Fay eigentlich. Sie hatte nicht versucht, ihn zu beeindrucken – sie sah ihn einfach als den Sohn ihres Freundes an.

Was hielt sie von 5 Tidepool Street? War sie jemals hier gewesen? Charlie ging ins Elternschlafzimmer und suchte nach Hinweisen, dass sie irgendwann hier übernachtet hatte. Er fand nichts. Vielleicht war sie nie hier gewesen. Vielleicht wollte sie mit Rhys Deravin nicht auf einer Matratze voller Erinnerungen schlafen. 

Charlie steckte den Kopf in Liams Zimmer: Bis auf vier Klebstoffflecken an einer Wand war es leer. Schließlich ging er in sein eigenes Zimmer – das kleinste, für den jüngeren Sohn. Er würde die Heilsarmee anrufen, die Bett, Matratze, Schrank und Nachttisch holen sollten, aber seine Tennistrophäen und sein Abschlussfoto von 1999, auf dem der Police Commissioner ihm auf dem Gelände der Polizeiakademie die Hand schüttelte, hatte er ganz vergessen. Er nahm sie vom Regal, verstaute sie im Auto, kehrte zurück, um im Schrank und in den Schubladen nachzuschauen, und rechnete schon mit einem alten Konzertticket oder einer Fünf-Cent-Münze.

Nichts.

Bevor er abschließen und die Surfbretter holen konnte, klingelte das Haustelefon. Jess, dachte er, Dad, ein Arbeitskollege, Liam oder Mum. Der Apparat, ein blassgrünes Überbleibsel aus den Siebzigern, stand auf dem Küchentresen neben einer Schale voller Rechnungen, Kassenbons, Umschlägen, Schlüsseln und einer Tube Sunblocker.

»Rhys Deravins Apparat, Charlie hier.«

»Ich bins.«

»Hi, Süße.«

»Traurig?«

»Ein wenig.« Dann schwieg er: Sie hatte mehr verdient. »Ein bisschen unwirklich.«

»Erinnerungen?«

»Erinnerungen und Lücken«, antwortete Charlie und verstummte.

Seine Frau wartete einen Augenblick. Sie lachte und sagte leichthin: »Typisch Charlie; der reinste Wasserfall.«

Nach zwei Jahren Ehe war das zwischen ihnen manchmal so. Öfter. Die Zurechtweisungen eher zärtlich denn grob. Bislang.

»Der Ort wirkt ein wenig verloren«, sagte Charlie.

»Ach, mein Lieber, ich wäre gern dabei gewesen. Emma sagt Hallo. Sag Daddy Hallo.«

Charlie sah seine Tochter in den Armen seiner Frau vor sich und hörte sie leise blubbern und murmeln; er sagte: »Hallo, Baby«, und sie verstummte. Vielleicht hatte sie seine Stimme erkannt und fragte sich, was er in dem Telefon machte. Die Vorstellung amüsierte ihn.

Dann sagte Jess etwas von einer stinkenden Windel, sie legten auf, und Charlie, an dem Vergangenheit und Gegenwart des Lebens zerrten, wollte an die frische Luft.

Auf dem Weg hinaus fiel sein Blick auf einen geöffneten Umschlag, auf dem in der ungeduldigen Handschrift seines Vaters »Asbestüberprüfung« stand.

Der Bericht bestand aus fünf Seiten voller Überschriften und engen Schriftzeilen, und er bestätigte, dass die Faserzementwandplatten des Hauses 5 Tidepool Street Asbest enthielten. Aber das hatten sie schon gewusst. Menlo Beach war ein in den dreißiger Jahren angelegter Strandort auf der Peninsula mit bescheidenen Hütten, die in einem Gitter schmaler, schlaglochübersäter Schotterpisten nebeneinanderstanden. Die Hälfte der Häuser hier bestanden aus Fiberzement. Preiswerter Wohnungsbau damals, als Dad und seine Kumpel in den späten Siebzigern Ferienhäuser und Wochenenddomizile kauften, die sich später in Familienheime verwandelten. Sechs Polizisten in zehn kleinen Straßen. Rauflustige, ungehobelte Männer, die die Kinder begeisterten und sie zum...

Erscheint lt. Verlag 22.8.2022
Übersetzer Peter Torberg
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Australien • Corona • Familie • Kriminalroman • Machtmissbrauch • Polizei • Spannung
ISBN-10 3-293-31153-9 / 3293311539
ISBN-13 978-3-293-31153-4 / 9783293311534
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