Der Sommer des Großinquisitors (eBook)
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01438-1 (ISBN)
Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch «Verhaltenslehren der Kälte» (1994) gilt als Standardwerk, «Der Schatten des Fotografen» (2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt erschien die vielbeachtete Autobiographie «Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug» (2020) und «Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen» (2022), eine «gedankenfunkelnde Darstellung», wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schrieb.
Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch «Verhaltenslehren der Kälte» (1994) gilt als Standardwerk, «Der Schatten des Fotografen» (2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt erschien die vielbeachtete Autobiographie «Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug» (2020) und «Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen» (2022), eine «gedankenfunkelnde Darstellung», wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schrieb.
Teil I Der Großinquisitor im Fin de Siècle
Die Geschichte beginnt. Iwan Karamasow erfindet die Legende vom Großinquisitor
«Moralische Kommunikation ist nicht schwierig. Außer bei Dostojewski, was seine Werke ihrerseits schwierig, vieldeutig, gedankenschwer macht.»
Jürgen Kaube auf der Titelseite der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», 5. März 2022
Im April 1878 notiert Dostojewski ein «Memento» zu seinem Karamasow-Projekt: «Möchte erfahren, ob es möglich ist, auf den Schwellen unter einem Zug zu liegen, während dieser in voller Fahrt über ihn hinwegfährt. – Nachfragen, die Frau des Verurteilten in der Verbannung (katorga), sie möchte gleich eine Ehe mit einem anderen eingehen – Ob der Idiot das Recht erhält, eine so große Menge angenommener Kinder zu halten, eine Schule hat usw. – Nachfragen über Kinderarbeit in den Fabriken. Über Gymnasien, das Leben in den Gymnasien. – Darüber Recherchen anstellen, ob ein junger Mann, Adliger oder Gutsbesitzer, viele Jahre als Novize im Kloster eingeschlossen sein darf …»[1]
Der flüchtige Blick in dieses Dokument zeugt vom schwindelerregenden Ausmaß des Unternehmens. Das Kapitel des Großinquisitors ist dagegen im Roman nur ein kleines Fragment. Die Ausgangssituation ist schnell umrissen: Die beiden Brüder Iwan, der Zyniker, und Aljoscha, der tiefgläubige Mönch, treffen sich in einem Gasthaus. Iwan zögert: Soll er seinem frommen Bruder die Geschichte vom Großinquisitor erzählen? «Ich bin ganz Ohr», sagt Aljoscha. «Mein Poem heißt ‹Der Großinquisitor›», beginnt Iwan also, «es ist absurd …»[2]
Die Absurdität seiner Geschichte rechtfertigt Iwan mit der langen Tradition christlicher Legenden, in denen Heilige durch die Hölle getrieben werden. Eine der Legenden mit einer «höchst bemerkenswerten Kategorie von Sündern in einem brennenden See» verstört besonders: «Wer in diesen See so tief versinkt, dass er nicht mehr an die Oberfläche auftauchen kann, der ‹ist schon von Gott vergessen›.» Ein «Ausdruck von außerordentlicher Tiefe und Kraft», bemerkt Iwan sarkastisch, denn er glaubt, dass Gott auch ihn vergessen hat.[3] Aber ebendiese «Gnadenlosigkeit» Gottes ist es, die ihn als Atheisten immer noch maßlos erregt.
Seine Geschichte unterscheidet sich von diesen Legenden nicht durch ihre Grausamkeit, sondern durch eine neue Konstellation: «ER», der Heiland selbst, erscheint auf der historischen Bühne des 16. Jahrhunderts. Fünfzehn Jahrhunderte sind vergangen, seitdem Er seine Wiederkehr verheißen hat. Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein: Wunderheilungen stoßen auf allgemeine Skepsis, und «der Teufel schläft nicht».[4] Der Schauplatz ist das spanische Sevilla, auf dem Höhepunkt der Inquisition. Mit seinem «unermesslichen Mitleid» verlangt es Ihn, «wenigstens für einen Augenblick Seine Kinder zu besuchen, und zwar gerade dort, wo die Scheiterhaufen mit den Häretikern prasselten».[5] Am Vorabend sind bei einem prunkvollen Autodafé in Gegenwart des Königs, seines Hofes, der Ritter, der Kardinäle, der «entzückendsten Hofdamen» sowie des Kardinal-Großinquisitors «beinah ein volles Hundert Häretiker auf einmal ad majorem Dei gloriam verbrannt worden».[6]
Die noch immer um die Scheiterhaufen Versammelten erkennen Ihn, der mit stummem Lächeln durch die Menge schreitet. Die «Sonne der Liebe» scheint in Seinem Herzen, von der Berührung Seiner Gewänder geht heilende Kraft aus. Da kommt der Großinquisitor über den Platz vor der Kathedrale, «ein Greis von bald neunzig Jahren, hochgewachsen, aufrecht, mit ausgemergeltem Gesicht und tief eingesunkenen Augen, in denen aber immer noch ein heller Funke glimmt. Oh, er hat nicht seine prunkvollen Kardinalsgewänder angelegt, in denen er gestern vor das Volk trat, als die Feinde des römischen Glaubens verbrannt wurden – nein, jetzt trägt er seine alte grobe Mönchskutte.»[7] Er sieht Ihn, sein Gesicht verfinstert sich, und er befiehlt den Wachen, Ihn zu ergreifen. «Und siehe, so groß ist seine Gewalt und so abgerichtet, gehorsam und ihm ergeben ist das Volk, daß die Menge sich sofort vor den Wachen teilt, und in der plötzlich eingetretenen Totenstille legen sie ungehindert Hand an Ihn.»[8] Ohne Widerstand der Menge wird Er abgeführt und in ein Verlies gebracht.
Der Tag vergeht, die Nacht bricht an, der Großinquisitor tritt ein, das Verhör beginnt: «Warum bist du gekommen, uns zu stören?», fragt er und kündigt an, Ihn morgen als den schlimmsten aller Häretiker auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.[9] Jesus habe kein Recht, «die Ordnung zu stören», die die römisch-katholische Kirche in über tausend Jahren errichtet habe. Die Kirche habe die Freiheit besiegt, um die Menschen glücklich zu machen. Denn der Mensch sei zwar zum «Rebellen» der Freiheit geschaffen, sie führe ihn aber nur ins Unglück. Nie habe es etwas Unerträglicheres für die Menschen gegeben als die Freiheit. Sie seien alle lasterhaft und müssten den Gehorsam erst lernen; der Betrug des Heilsversprechens helfe ihnen, sich den strengen Gesetzen der Kirche zu unterwerfen, zur Ruhe zu kommen und das Rätselhafte und Schwankende und überhaupt alles, was Jesus versprochen habe, obwohl es über die Kräfte der Menschen gehe, zu vergessen. «Kraftlose Rebellen» habe Jesu Botschaft erzeugt, Rebellen, «die ihre eigene Rebellion nicht aushalten können», zerrissene Kreaturen, die einer starken Macht bedürften, die Geheimnis und Autorität zugleich verkörpere.[10] Die Kinder, die sich seiner Tugendlehre anschlossen, hätten in der Geschichte immer ein blutiges Ende gefunden. Darum habe die Kirche die Lehre Jesu korrigiert, indem sie ihre Macht «auf Wunder, Geheimnis und Autorität» gegründet habe. «Und die Menschen haben sich gefreut, daß sie wieder geführt wurden wie eine Herde.»[11]
Ein inzwischen schon langer Monolog über Macht und Moral, Jesus schweigt. Warum ist Er also gekommen, und schlimmer noch: Warum schaut Er ihn, den Großinquisitor, stumm und eindringlich mit seinen sanften Augen an?[12] (Eine klassische Situation der Psychoanalyse? Der Therapeut hört zu, der Patient macht aus seinem Herzen eine Mördergrube? Wir werden es nicht erfahren.)
Ob er, der Großinquisitor, Ihm das Geheimnis der römisch-katholischen Kirche offenbaren solle? «So höre denn: Seit langem schon sind wir nicht mit Dir, sondern mit Ihm im Bunde.»[13] Der Teufel, der «furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins», ist der Souffleur.[14] «Wir nahmen aus Seiner Hand Rom und das Schwert der Cäsaren …»[15] Ihm also, dem Antichrist, sei man gefolgt. Auf seinem Tier (dem Leviathan?) säßen sie wie die Cäsaren. Während die Hörigen der Freiheit nur immer tiefer in «Abgründe der Sklaverei und Verwirrung» versänken und ihre Wissenschaft in ein undurchdringliches Dickicht münde, nichts als Selbstausrottung verheiße, und den Ärmsten nichts bleibe, als ihr Scharlachgewand zu zerreißen und ihren «eklen Leib» zu entblößen.[16] (Wie Hiob? Das Buch Hiob hatte Dostojewski in jungen Jahren in eine «schmerzhafte Ekstase» versetzt.[17])
Er, der Befehlshaber der Inquisition, habe sich entschlossen, die Lehre der Bergpredigt, die nur zu einer Kultur der «Pygmäen» anleite, zu korrigieren. «Dein Inquisitor glaubt nicht an Gott, das ist sein ganzes Geheimnis.»[18] Bis zu diesem Punkt kann man dem Traktat des Großinquisitors mit den Versen von Brecht Gewicht verleihen: «Wenn ich mit dir rede / Kalt und allgemein / Mit den trockensten Wörtern / Ohne dich anzublicken … So rede ich doch nur / Wie die Wirklichkeit selber …»[19]
In der Folge wendet sich der Großinquisitor – nicht nur ein Ingenieur der Gewalt, sondern ein sehr belesener Dämon, der sich in den Heiligen Schriften der Evangelien blendend auskennt[20] – der Auslegung des Disputs zwischen Jesus und dem Teufel in der Wüste zu (Mt 4,1–11 EU). Er wirft Jesus vor allem vor, das Wunder der Brotvermehrung unterlassen zu haben. Darauf legt er (im Gegensatz zu den Evangelisten, für die alle drei Verführungen Satans – aus Steinen Brot zu machen, Gott zu versuchen, indem Jesus sich von einem Berg herabstürzen würde, schließlich die angebotene Macht – gleich schwer wiegen) das Hauptgewicht seines Arguments. Hätte Jesus Wunder vollbracht, hätten die Menschen nicht glauben müssen, sondern wissen können. Hätte er auf die drei Verführungen im Sinne Satans positiv reagiert, wären sie von der Seelenqual der freien Wahl befreit gewesen. «Denn wo ist das Freiheit, dachtest Du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft wird? Deine Antwort war, daß der Mensch nicht allein vom Brote lebe. Weißt Du aber, daß im Namen eben dieses Brotes der Geist der Erde sich gegen Dich erheben, sich mit Dir messen und Dich besiegen wird?»[21] Auch vom Kreuz sei er nicht vor aller Augen herabgestiegen, um durch dieses Wunder die Massen direkt zu überzeugen.
Die Kirche habe dagegen den schwachen...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Arthur Koestler • Avantgarde • Carl Schmitt • Das Böse • Der Großinquisitor • Fjodor Dostojewski • Helmuth Plessner • Kulturgeschichte • Literarische Essays • Literaturgeschichte • Macht • Max Weber • Moral • Nationalsozialismus • Politik • Politische Theorie • Sozialgeschichte • Stalinismus • Totalitarismus |
ISBN-10 | 3-644-01438-8 / 3644014388 |
ISBN-13 | 978-3-644-01438-1 / 9783644014381 |
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