Die Sehnsucht nach Licht (eBook)

Roman | »Kati Naumann erzählt anschaulich von den lebensgefährlichen Arbeiten im Bergbau, von Grubenunglücken und Krankheit.« Bremen Zwei

*****

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
416 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0501-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Sehnsucht nach Licht -  Kati Naumann
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Luisas Arbeitsplatz befindet sich tief unter der Erde. Sie arbeitet in einem Besucherbergwerk im Schlematal im Erzgebirge, und obwohl sie manchen Tag ohne einen einzigen Sonnenstrahl verbringt, könnte sie sich keine schönere Tätigkeit vorstellen. So weit sie zurückdenken kann, haben ihre Vorfahren im Bergbau gearbeitet. Die Familiengeschichte ist durchzogen von Hoffnung und dem Bewusstsein, dass man jede gemeinsame Minute auskosten muss, denn so mancher ist nicht aus dem Berg zurückgekehrt. Als Luisa beschließt, Nachforschungen über den vor Jahrzehnten verschollenen Großonkel anzustellen, drängt einiges an die Oberfläche, was viel zu lange verborgen geblieben ist. Die Sehnsucht nach Licht ist es, die der Familie schließlich ihren Frieden wiedergibt.

»Es ist der Enthusiasmus der Autorin, der einen schließlich mitreißt.«MDR.de, über einen früheren Roman der Autorin.



Kati Naumann wurde 1963 in Leipzig geboren. In Sonneberg, im ehemaligen Sperrgebiet im Thüringer Wald, verbrachte sie einen Großteil ihrer Kindheit. Die studierte Museologin schrieb bereits mehrere Romane sowie Songtexte für verschiedene Künstler und das Libretto zu dem Musical Elixier (Musik von Tobias Künzel). Sie verfasste Drehbücher für Kindersendungen und entwickelte mehrere Hörspiel- und Buchreihen für Kinder. Kati Naumann lebt mit ihrer Familie am Stadtrand von Leipzig.

1. Abwärts


August 2019

Der Boden unter ihnen bebte, dann zog es sie hinab in den dunklen Schlund. Sie waren zu viert. Mehr passten nicht in diesen engen Käfig aus Eisen.

Obwohl sommerliche Temperaturen herrschten, trug Luisa Thermowäsche unter ihrem Schutzanzug. An einem Wochenende wie diesem brauchte sie sich keine Gedanken um Sonntagskleider zu machen. Fünfzig Meter unter der Erde herrschten verlässliche zehn Grad Celsius, im Hochsommer genauso wie in den strengen Wintern des Erzgebirges. Auch an ihre Frisur hatte sie wenig Mühe verschwendet. Der Schutzhelm drückte ihr Haar innerhalb von Minuten platt. Die hohe Luftfeuchtigkeit hängte sich hinein und machte es strähnig. Wasser war hier schon immer ein Problem gewesen.

Sie standen so eng aneinandergedrängt, dass Luisa ahnte, was der Mann vor ihr zu Mittag gegessen hatte.

Die Fahrt dauerte nicht lang. Im Schacht 371 war es weiter hinabgegangen. Bis auf tausendachthundert Meter. Inzwischen waren die tieferen Hohlräume, in denen ihr Vater noch gearbeitet hatte, geflutet.

Der Förderkorb hielt mit einem Ruck. Nur noch eine Sicherheitsebene, dann kam der Wasserspiegel. Unter ihnen befand sich ein Labyrinth, mit Wasser gefüllt wie das versunkene Straßensystem von Vineta.

Luisa schob die Notleiter hoch und ließ die Besucher in den düsteren Stollen treten. Alles war klamm, und ein eisiger Luftstrom zog hindurch. Von der Felsendecke tropfte es, und am Boden sammelten sich Rinnsale in braunen Pfützen. Eine Frau zögerte beim Aussteigen. Vor Kurzem hatte jemand Panik in der dunklen Enge bekommen und verlangt, wieder nach oben gefahren zu werden. Aber wenn die Seilfahrt einmal begonnen hatte, gab es kein Zurück.

An den Schachtwänden hallten Rufe wider. Sie kamen vom Rest der Gruppe, der oben wartete. Immer wenn Luisa im Besucherbergwerk Schutzkleidung, Lampen, Helme und Gummistiefel verteilte, taxierte sie die Besucher. Sie hatte gleich gewusst, dass sie den zappeligen Jungen mit der Zahnspange auf keinen Fall allein mit seinem überfordert wirkenden Vater unten lassen durfte.

Während der zweiten Seilfahrt zupfte der Junge an allem herum. Er schien nur darauf zu warten, dass Luisa wegsah, um seine Hand durch eine Lücke im Förderkorb zu schieben.

»Unten im Wasser schwimmen schon ein paar Finger«, behauptete Luisa. »Abgerissen an der Schachtwand.«

Schnell versteckte der Junge seine Hände in den Taschen des Schutzanzugs. Sein Vater schenkte ihr einen Blick, den sie positiv deutete. Luisa ging immer vom Besten aus.

Als sie ihre Gruppe beisammenhatte, setzte sie sich mit ihnen in die Steigerstube und begrüßte alle: »Glückauf! Ich bin Luisa Steiner. Ich begleite euch in den kommenden zwei Stunden durch unser Besucherbergwerk. Die Seilfahrt im Schacht 15IIb hat uns bis auf die Marx-Semmler-Stolln-Sohle geführt. Unter Tage sind wir übrigens per Du. Das ist unter Bergleuten so üblich.«

»Passt«, sagte der Vater des hyperaktiven Jungen. »Ich bin auch Bergmann. Ich schürfe Bitcoins.« Unter seinem Schutzanzug zeichnete sich der Umschlag einer kurzen Hose ab. Er tat Luisa jetzt schon leid.

Sie führte ehrenamtlich durch das Schaubergwerk in Bad Schlema. Vor einigen Jahren war sie für ihren Vater eingesprungen und dabeigeblieben. An den Wochentagen arbeitete sie als Vermessungstechnikerin bei der Wismut GmbH. Als Kind war sie einmal mit ihrem Vater in die kurz zuvor stillgelegten Gruben der Wismut gefahren. Nie hatte sie einen geheimnisvolleren Ort gesehen, angefüllt von Dunkelheit und den Geräuschen des Wassers. Er ließ sie nie wieder los.

Hier unter der Erde begegnete Luisa all den alten Geschichten ihrer Familie. Ihr Urgroßvater Wilhelm hatte sie in einer Mappe gesammelt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie erzählten von der St.-Georg-Fundgrube in Schneeberg, in der ein Silberblock gefunden worden war, so groß und schwer, dass Herzog Albrecht von Sachsen daran wie an einer Tafel speisen konnte. Die Sagen vom Berggeist, der schenkte und strafte, vom blauen Licht und den Geistern Kobold und Nickel waren die Märchen ihrer Kindheit gewesen. Immer wenn sie nicht in den Schlaf fand, hatte ihre Mutter das Album für Freunde des Bergbaus herausgeholt. Es war eine Sammlung loser Blätter mit prächtigen Bildern aus dem Leben der Bergleute. Luisas Urgroßvater hatte handgeschriebene Zettel mit Geschichten dazugelegt und darin Zeitungsausschnitte zu Bergbauunglücken gesammelt. Alles, was Luisa in diesem Moment ihrer Besuchergruppe erzählte, wusste sie aus Wilhelms Album. Er hatte Luisa noch kennengelernt. Es gab ein Foto, auf dem er sie im Arm hielt, ein brüllendes Bündel, ein Schreikind. Der Urgroßvater, taub vom Lärm im Berg, war der Einzige gewesen, der es mit ihr ausgehalten hatte. Als das Baby nach dem ersten Vierteljahr ruhiger wurde, schien Wilhelm seinen Zweck auf der Erde erfüllt zu haben. Luisa blieben das gemeinsame Foto und sein Album.

Während sie redete, führte sie ihre Gruppe in eine von der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut ausgebaute Gangstrecke. Die gewölbten Höhlungen wurden durch verrostete Eisenträger stabilisiert.

Eine Frau aus der Besuchergruppe warf einen besorgten Blick nach oben. Sie befanden sich irgendwo unter dem Park. Dort, wo einmal das Kurviertel gewesen war mit dem Radonbad und seinen von Palmen gesäumten Sonnenterrassen, bevor Oberschlema im Erdboden versunken war.

»Welches Gewicht hat das über uns?«, wollte die Frau wissen. »Kann das einstürzen?«

»Natürlich nicht«, versicherte Luisa. Sie erzählte von den verschiedenen Arten von Türstöcken und der Ingenieurskunst der alten Bergleute, die jede Last, die auf die übereinanderliegenden Sohlen drückte, genauestens berechnet hatten.

Und doch war in der Nachkriegszeit etwas anderes wichtiger gewesen als dieses Wissen, und es wurde planlos wilder Bergbau betrieben. Auf der Suche nach radioaktivem Uran hatten sich die Sowjets aus der Tiefe heraus fast bis in die Wohnhäuser hineingesprengt. Bad Schlema war unter der Oberfläche durchlöchert, überall lauerten die Spuren der Vergangenheit. Manchmal rumorte es in der Tiefe und drängte nach oben, sodass die Straße aufriss und sich gewaltige Krater in den Gärten auftaten.

Sie erreichten das Gangsystem des Altbergbaus. Aus der Dunkelheit ragte die gekappte Leitung der Radonquelle. In die Felswand war ein Lachterstein eingelassen, der das alte Längenmaß der Bergleute auswies. Luisa bat die Besucher, ihre Grubenlampen einzuschalten. Hier gab es kein elektrisches Licht mehr. Der Jung-König-David-Stolln war so eng und niedrig, dass ein kräftiger Mann nur mit eingezogenem Kopf und viel gutem Willen hindurchpasste. Überall im Gneis waren die Zeichen von Schlägel und Eisen zu sehen. Jedes Mal, wenn Luisa hier entlangging, tastete sie mit den Fingerspitzen kurz über die Rillen und Stufen an den Wänden. Hier hatten ihre Vorväter Spuren hinterlassen. Der erste von ihnen war aus Böhmen herübergekommen und hatte vergeblich gehofft, durch das Silber reich zu werden. Er lebte gerade lang genug, um ein Kind zu zeugen, und ertrank bei einem Wassereinbruch in der Grube. Vielleicht war er später, als der Stollen mit dem ausgeklügelten System der Wasserkunst trockengelegt wurde, durch das Mundloch hinaus in die Zwickauer Mulde gespült worden.

Luisas Glaube an die Fähigkeiten ihrer Vorfahren war unerschütterlich. Niemals verschwendete sie Gedanken an einen plötzlichen Wassereinbruch oder daran, dass ein Förderseil reißen könnte. Die alten Stützbalken aus Fichtenholz waren verlässlich. Außerdem kündigten sie es mit einem Knacken und Knistern an, bevor sie brachen.

Es gab überhaupt wenig, wovor sich Luisa fürchtete. Wenn das Wetter trocken blieb, würde sie wieder im Steinbachtal an den schroffen Wänden der Teufelssteine klettern. Im Winter segelte sie mit dem Gleitschirm über den verschneiten Pöhlberg. Sie vertraute allem, was sie selbst mit ihren Händen greifen konnte: Seilen, Felswänden, Motorradlenkern.

Dabei war Luisa nicht leichtfertig. Sie hatte zwar keine Angst vor dem Berg, aber Respekt. Besonders vor dem, was der Boden jeden Tag aussandte und was weder sichtbar noch spürbar war.

Luisas Krankenkasse lud sie, obwohl sie erst dreißig war, regelmäßig zur Untersuchung für Krebsfrüherkennung ein, weil sie familiär vorbelastet sei. Jeder wusste natürlich, dass es nicht an den Genen der Steiners gelegen hatte. Durch den zerlöcherten Boden im Untergrund stieg beständig Radon auf. Das Gas drang durch die Ritzen im Mauerwerk und sammelte sich an der tiefsten Stelle, in den Kellern. In Luisas Elternhaus knatterte der Geigerzähler selbst im Erdgeschoss in viel zu schneller Folge. Ihre Eltern schien das nicht sonderlich zu beunruhigen.

Luisa hatte für sich ganz pragmatisch nach einer Lösung gesucht. Sie hätte natürlich wegziehen können, aber sie liebte das Schlematal, auch als es noch eine graue Haldenwüste gewesen war. Sie hatte mitgeholfen, es in eine sanft gewellte grüne Hügellandschaft zu verwandeln. Die Weihnachtszeit musste sie ohnehin immer hier verbringen, weil sie die Marschtrommel bei der Parade ihrer Bergbrüderschaft spielte. Außerdem war sie jetzt schon zu den traditionellen Mettenschichten eingeteilt. Die wurden im Besucherbergwerk gefeiert. Nach dem Vorbild der letzten Bergmannsschicht vor Weihnachten. Wenn sie im Winter überall in den Fenstern die alten Kerzenleuchter sah, wollte sie an keinem anderen Ort der Welt sein.

Also hatte Luisa einfach eine Wohnung in der Bergstraße im Dachgeschoss eines Wohnblocks gemietet. In dieser Höhe hatte sich das...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bergbau • DDR • DDR Roman • Dunkelheit • Erzgebirge • Familiengeschichte • Familienschicksal • Generationen • historisch • Kerzen • Licht • Lichter • Roman • Schatten • Schicksal • Schlema • Schlematal • Schwibbogen • Schwibbögen • Sowjetunion • Unter Tage • Wismut
ISBN-10 3-7499-0501-0 / 3749905010
ISBN-13 978-3-7499-0501-0 / 9783749905010
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99