Der Maler und das reine Blau des Himmels (eBook)
544 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60230-3 (ISBN)
Tilman Röhrig, geboren 1945, lebt in der Nähe von Köln. Der ausgebildete Schauspieler ist seit über vier Jahrzehnten als freier Schriftsteller tätig. Die größten Erfolge brachten ihm seine historischen Romane, die allesamt Bestseller und vielfach übersetzt wurden. Für sein literarisches Werk erhielt der Autor, dessen lebendige Lesungen begeistern, zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Großen Rheinischen Kulturpreis.
Tilman Röhrig, geboren 1945, lebt in der Nähe von Köln. Der ausgebildete Schauspieler ist seit über vier Jahrzehnten als freier Schriftsteller tätig. Die größten Erfolge brachten ihm seine historischen Romane, die allesamt Bestseller und vielfach übersetzt wurden. Für sein literarisches Werk erhielt der Autor, dessen lebendige Lesungen begeistern, zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Großen Rheinischen Kulturpreis.
1
Kochel am See
Ende Juni 1906
Wie kann er mir das nur antun? Völlig aufgelöst eilte Maria die Treppe hinunter, stolperte fast, hielt sich am Geländer. Unten im Flur der Pension begegnete sie der Wirtsfrau. Maria blieb nicht stehen, antwortete nicht auf den freundlichen Gruß. Weg will ich, weit weg.
Es regnete in Kochel, die Wolken hingen schwer über dem See und den Dächern, von den Bergen war nichts zu sehen. Er weiß genau, wie er mich quälen kann. Oder weiß er es nicht? Tränen flossen, sie wollte sie nicht zurückhalten, sie weinte in den Regen, schmeckte das Salzige auf den Lippen. Verdammt, auch ich bin ein Mensch. Ohne Mantel lief Maria hinter der Pension den Pfad zu den Hügeln hinauf, schnell geriet sie außer Atem, dennoch stürmte sie weiter. Das Unglück verlieh ihr Kraft. Etwas habe ich geahnt. Seit Tagen schon. Aber dass er mich … heftiger noch rollten die Tränen. »Ach, Franz, Geliebter!«, rief sie, rang nach Luft. »So tötest du mich.« Ein Stein, ihr Fuß blieb hängen, sie stürzte auf beide Knie. Mit dem Schmerz fühlte sie, wie ihr Körper erschlaffte. Maria ließ die Stirn ins nasse Gras sinken. So blieb sie. Ich habe … Mein Herz tut weh, du hast mir so wehgetan …
Nach einer Weile spürte sie den Regen, den feuchten Stoff im Rücken. Langsam raffte sie sich auf. Ich verstehe dich nicht. Am Kleid wischte sie das Gras von den Händen. Durch den Sturz war über dem linken Ohr die große Zopfschnecke verrutscht. Gleich tastete sie nach den Nadeln, fand sie nicht, suchte fahrig zu retten, es gelang nicht, und ihr am Morgen sorgsam geflochtenes Haar löste sich ganz und fiel in nassen blonden Strähnen über die linke Brust bis hin zur Hüfte. Und dieser verdammte Regen. Dabei haben wir Ende Juni. Seit Tagen will er einfach nicht aufhören. Ihre Knie schmerzten. Vorsichtig ging sie den Pfad wieder hinunter. Scharfer Geruch biss in die Nase. Aus dem Schornstein der Pension quoll Rauch, träge zog er über den Dachfirst. Ihr Vermieter verbrannte das Altholz aus der Schreinerwerkstatt. Nicht einmal frische Luft gibt es heute. Wieder rollten die Tränen. O verflucht, alles ist falsch. Ein verfluchter Tag. Maria betrat das Haus durch den Hintereingang, stieg in den ersten Stock zur Wohnung hinauf. Ich werde mich nicht erst umziehen. Er soll sehen, was er mit mir angerichtet hat. Neben der Küche pochte sie an seiner Stubentür, wartete nicht und öffnete. Franz Marc saß nah am Fenster. Verwundert blickte er von seinem Skizzenblock auf, dann weiteten sich die dunklen Augen. »Großer Gott, was ist dir geschehen?«
Sie antwortete nicht. Ihr Blick aber klagte ihn an.
»Mein Lieb, du blutest.« Gleich warf er Block und Stift auf den Tisch. In zwei Schritten war der große, schlanke Mann bei ihr, kniete schon und streifte den Rocksaum über das rechte Knie. »Halte den Stoff. Es ist nur eine Schürfwunde, das Blut ist bereits getrocknet. Aber da sitzt noch Dreck drin.«
»Ich bin hingefallen, weil …«
»Warte«, unterbrach er sie. »Hab keine Angst! Gleich haben wir es.« Mit einem feuchten Läppchen reinigte er die Stelle, wischte die wenigen Spuren von ihrer Wade. Maria sah sein schwarzes Haar. Wie weich es ist, so seidig. Sie musste seufzen, um die Tränen zurückzuhalten. Mit einem zwei Finger breiten Pflaster verklebte er die Wunde. Während er aufstand, tätschelte er ihren Po und den Busen. »So, mein Lieb …«
»Nein, nicht!« Die Berührung schmerzte, sie wich einen Schritt von ihm zurück.
Erstaunt betrachtete er seine Hand. »Was ist? Ich wollte nur sagen: Und schon ist das Unglück behoben.«
»Nein, Franz. Nichts ist behoben.« Sie musste heftig schlucken. »Warum? Ich bin völlig ratlos.«
Seine Augen wurden dunkler, leicht zitterten die Lippen. »Ich auch«, flüsterte er. »Glaub mir!«
»Dann erkläre es mir doch.«
Mit gesenktem Kopf nahm er ihre langen Haarsträhnen und ließ sie durch die Hand gleiten. »So blond, so gelb wie reifes Korn.« Langsam ging er zum Tisch, sein Ton versuchte zu überspielen: »Ach, hast du dir schon meine neue Pferdeskizze angesehen? Ich bin noch nicht fertig.« Er hielt ihr den Block hin. »Die Bewegung aber stimmt …« Weil sie nicht näher kam, legte er den Block zurück. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stellte er sich ans Fenster, eine Weile starrte er hinaus. »Ich konnte nicht anders. Bitte, hilf mir! Lass mich nicht traurig werden. Du weißt, wie schwer mir ohnehin das Arbeiten fällt.«
»Verzeih, Liebster.« Nun folgte sie ihm, blieb hinter seinem Rücken, so geschützt nahm sie allen Mut zusammen. »Nie will ich dein Malen behindern. Aber ich muss auch leben. Deshalb erkläre es mir. Warum, Franz, warum?«
Tief seufzte er, strich das Haar an beiden Schläfen zurück. »Ich würde es dir sicher falsch erklären.« Der Handrücken wischte über die Augen. »Weil es mich aufwühlt. Ebenso wie dich.« Er wandte sich um. »Verstehst du?« Als sie den Kopf schüttelte, setzte er notvoll hinzu: »Das Beste ist, du gehst rüber zu ihr. Schnürchen soll dir alles erklären.«
»Schnür, verdammt!«, entfuhr es ihr, heftig stampfte sie mit dem Fuß auf. »Sie heißt nur Schnür! Marie Schnür.«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Ach, Franz. Du merkst es schon gar nicht mehr.«
»Bitte.« Er presste die Hände zusammen. »Ich kann jetzt nicht mit dir diskutieren.« Tief verbarg er das Gesicht über seiner Skizze. »Bitte verstehe mich. Alles ist anders, als du jetzt denkst.«
Sie blieb stehen, hoffte noch auf einen Blick. Er aber rührte sich nicht.
In der Küche spürte sie, wie ausgetrocknet ihr Mund war. Mit dem Becher schöpfte sie Wasser aus dem Bottich und leerte ihn hastig, ohne abzusetzen. Marie Schnür. In München, an der Damen-Akademie fürs Malen, bin ich ihre Schülerin, gut, aber hier in Kochel sind wir gleich. Nein, verflucht, hier bin ich mehr. Sie kann wunderbar zeichnen, sieht gut aus, hat nun mal nicht so viel Pfunde … Franz, das kann es doch nicht sein? So, wie du mich … ach, ich höre genau, wie du mir was sagst, das spürt doch eine Frau. Fest setzte sie den Becher zurück. Ich muss mir erst die Haare richten, so soll sie mich nicht sehen. In ihrer Kammer flocht sie den aufgelösten Zopf neu, wickelte die Schnecke und steckte sie über dem linken Ohr wieder fest. Vor dem Spiegel erschreckten sie ihre verweinten Augen. Das Vergnügen werde ich dir nicht bieten. Ein feuchtes Tuch sollte kühlen, verbesserte den Anblick aber nur wenig. Dann muss es so sein.
Im halbdunklen Flur hinter der Küche hörte Maria ihr Pfeifen, eine vergnügte Melodie, sie schmerzte in den Ohren. Erst nach dem zweiten Anklopfen brach das Gepfeife ab. »Komm nur rein!«
Marie Schnür saß am Tisch, vor ihr ausgebreitet lagen Zeichnungen, den Kreidestift in der Hand, lachte sie beim Aufschauen, dann erkannte sie die Besucherin, gleich erlosch ihr Blick, verlor sich die Heiterkeit. »Ach so? Sie sind es, Liebchen.« Unvermittelt beschäftigte sich die Künstlerin wieder mit ihrem Bild. »Gleich bin ich so weit.« Sie strichelte, wechselte die Farben, dabei öffneten und schlossen sich unter dem Stoff ihres blauen Faltenrocks in unruhigem Rhythmus die Knie. »So setzen Sie sich doch!«
Maria blieb stehen. Sie konnte nichts denken, sah nur die schlanke Frau dort am Tisch, das schwarze Haar sorgsam gescheitelt und hinten zum Knoten gebunden, die geschickten Finger, sie hörte das Streichen der Kreidestifte. Es brach ab. »So, Liebchen, nun kann ich eine Pause einlegen. Ja, trotz der Ferientage muss ich das Titelblatt für die Jugend abliefern.« Sie wies auf den zweiten Stuhl. »Aber nun nehmen Sie doch Platz! Stehend unterhält es sich schlecht. So von Malerin zu Malerin.«
Maria setzte sich und rückte gleichzeitig etwas vom Tisch ab. Abschätzend prüfte Marie Schnür das blasse, rundliche Gesicht, dann hob sie die Augenbrauen. »Wie ich sehe, hat Ihnen Franzl schon die Neuigkeit verkündet?«
»Franz«, entfuhr es Maria. »Bitte, für Sie nur … Ach, was...
Erscheint lt. Verlag | 28.7.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • August Macke • Bestsellerautor • Biografie historische Persönlichkeit • Blauer Reiter • Bücher Hardcover Neuerscheinung 2022 • Bücher historisch 2022 • Caravaggio • Caravaggios Geheimnis • Expressionismus • Franz Marc • Gabriele Münter • Gebundenes Buch mit Schutzumschlag • historischer Roman 20. Jahrhundert • Historischer Roman Neuerscheinung • Kochel • Künstlerbiographie • Künstlerleben • Künstlerroman • München • Neue Künstlervereinigung München • Riemenschneider • Roman historisch • Roman historisch Neuerscheinung 2022 • Roman Neuerscheinung 2022 • Spiegelbestsellerautor • Tilman Röhrig • Verdun • Wassily Kandinsky |
ISBN-10 | 3-492-60230-4 / 3492602304 |
ISBN-13 | 978-3-492-60230-3 / 9783492602303 |
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