Ich gebe dir eine Stimme - Michelle Shocklee

Ich gebe dir eine Stimme

Buch | Softcover
320 Seiten
2022 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-283-0 (ISBN)
16,00 inkl. MwSt
1929: An Lorena Lelands 16. Geburtstag verliert ihre Familie durch den Börsencrash nicht nur ihr Vermögen, sondern bricht im Inneren auseinander. Renas Zukunfts-träume zerplatzen wie Seifenblasen. Auch sieben Jahre später haben sich die Lelands noch nicht von dem Schlag erholt. Während ihre Mutter den Statusverlust zu leugnen versucht, ihr Vater sich mit seinem Whiskey vor der Welt versteckt und ihre Schwester in einer unglücklichen Ehe gefangen ist, bemüht sich Rena um eine neue Arbeit. Als Interviewerin für das Federal Writers' Project begibt sie sich schließlich ins berüchtigtste Viertel der Stadt. Dort soll eine 101-jährige ehemalige Sklavin ihr ihre Lebensgeschichte erzählen. Rena ahnt nicht, welche Auswirkungen dieser Job auf ihre ganze Familie haben wird ...»Bereit für Charaktere, die sich direkt aus den Seiten heraus ins Herz stehlen? Gekonnt erzählt Michelle Shocklee eine Geschichte von Verrat und Erlösung, die noch lange in Erinnerung bleibt. Tamera Alexander»Dieser Roman nimmt die Leser*innen mit in die Zeit der Weltwirtschaftskrise, in der die Familie Leland hart mit ihrem Schicksal zu kämpfen hat. Renas Geschichte hat mich von der ersten Seite an gefesselt. Sie bewegt sich nahtlos zwischen zwei historischen Zeitebenen und zeigt auf wunderbare Weise, wie das Aufeinandertreffen von Rena und einer früheren Sklavin sowie deren Geschichte eine ganze Familie zu heilen beginnt.«Melanie Dobson

Michelle Shocklee ist als Autorin in mehreren Genres unterwegs, brennt jedoch vor allem für historische Romane. Sie hat ihre Jugendliebe geheiratet und ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. Aufgewachsen in New Mexico lebt sie heute in Tennessee, nicht weit von den Schauplätzen ihrer Bücher. michelleshocklee.com

Kapitel 1 Nashville, Tennessee Dienstag, 29. Oktober 1929 Acht Stunden früher Einen perfekteren Tag konnte es nicht geben. Ich machte es mir auf meinem Lieblingsstuhl auf der Veranda bequem und bestaunte den rosavioletten Sonnenaufgang am Himmel von Tennessee. Bei dem schwachen Geruch von Holzrauch in der kühlen Morgenluft und dem Zwitschern der Vögel von den fast kahlen Bäumen war es, als habe selbst die Natur beschlossen, meinen besonderen Tag mit mir zu feiern. Sechzehn! Ich schrieb das Wort auf eine leere Seite in das Tagebuch mit Ledereinband, das mir Grandma Lorena zu Weihnachten geschenkt hatte. Das perfekte Geschenk für eine angehende Schriftstellerin, hatte sie erklärt. Und wie immer hatte sie recht gehabt. Mein letzter Eintrag, eine lange Tirade, in der ich beklagte, dass ich die Wahl zur Klassensprecherin an Sally Wortham verloren hatte, war kaum zu entziffern. Meine jugendliche Wut sprach aus jedem Wort, das ich zu Papier gebracht hatte. Wer hätte geahnt, dass die Bestechung mit selbst gemachten Karamellbonbons so erfolgreich sein könnte? Mit ordentlicherer Handschrift hielt ich meine Geburtstagsgedanken fest: Endlich habe ich dieses wunderbare Alter erreicht. Wenigstens hielt ich es für wunderbar, als Mary und ihre Freundinnen sechzehn wurden. Plötzlich wurden sie wie Erwachsene behandelt und durften Dinge tun, die mir, der zwei Jahre jüngeren Schwester, verwehrt blieben. Heute stehe ich am Tor zu einem neuen und viel interessanteren Leben. Der Debütantinnenball im nächsten Monat wird mich offiziell in die Gesellschaft von Nashville einführen, und auch wenn ich mir nicht viel aus Tratsch und den Menschen, die ihn in Umlauf bringen, mache, habe ich vor, meinen Platz in den besten Kreisen der Stadt einzunehmen und jeden Vorteil, den diese Position mit sich bringt, zu genießen. Ich las den Eintrag noch einmal und grinste. So viel Glück verlangt nach einem Freudenschrei. Vielleicht sogar nach zwei Freudenschreien. Mit einem befriedigten Gefühl klappte ich das kleine Buch zu und dachte an den Tag, der vor mir lag. Ich musste heute nicht zur Schule gehen. Mama erlaubte mir zu schwänzen, damit ich ihr und Mary helfen konnte, den Saal zu dekorieren, den wir für meine Feier heute Abend gemietet hatten. Gut hundert Leute waren eingeladen. Da Daddys Bank eine der größten in ganz Tennessee war, befanden sich auf der Gästeliste sehr viele seiner Stammkunden. Ihre Frauen waren Mamas Freundinnen, die sich in Clubs und wohltätigen Organisationen engagierten, obwohl sie sich meiner Einschätzung nach mehr für ihre gesellschaftliche Stellung interessierten, als dass ihr Antrieb wirklich altruistische Motive gewesen wären. Ich stand auf, streckte mich und schlenderte ins Haus. Mama war in der Küche damit beschäftigt, das Frühstück zuzubereiten. Ihr Haar war perfekt frisiert und eine Perlenkette glitzerte über dem Kragen ihres zweiteiligen Tageskostüms. Die gepunktete Rüschenschürze, die sie sich umgebunden hatte, betonte ihre ein wenig rundliche Taille, aber darauf würde ich sie bestimmt nicht hinweisen. »Wo ist Dovie? Sie macht zu meinem Geburtstag doch immer ihre Spezialpfannkuchen.« Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass Mama an den Wochenenden das Frühstück übernahm, aber dienstagmorgens stand normalerweise Dovie, unsere Haushälterin und Köchin, am Herd, besonders an einem Tag wie heute. Eine Schüssel mit frisch gewaschenen Brombeeren stand auf der Arbeitsplatte. Ich steckte mir eine in den Mund, bevor ich den neuen Kühlschrank aufmachte, der letzte Woche geliefert worden war. Der Werbeslogan des Herstellers General Electric – »In Ihrer Küche ist immer Sommer« – hatte Mama Angst um unsere Lebensmittel eingejagt und sowohl dem Werbeteam als auch dem Katalog von Sears, Roebuck und Co. Erfolg beschert. Wie versprochen war die Glaskaraffe mit Orangensaft schön kalt und gut vor den Bakterien der warmen Küche geschützt. Mama gab mir keine Antwort. Ich drehte mich um, um zu sehen, ob sie meine Frage überhaupt gehört hatte, und bemerkte den sonderbaren Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Mama? Wo ist Dovie?« Sie lächelte knapp. »Ich habe ihr den Tag freigegeben. Ich wusste, dass es wegen deiner Feier und der ganzen Vorbereitungen heute im Haus rundgehen würde. Da hielt ich es für besser, sie nicht im Weg zu haben.« Meine Kinnlade fiel herunter. Dovie war schon unsere Haushälterin gewesen, als ich noch nicht geboren war. Sie kannte jeden Zentimeter unseres Zuhauses und kam jedem von Mamas Sonderwünschen nach, ohne mit der Wimper zu zucken. An einem so hektischen Tag wie heute könnten wir Dovies Hilfe dringend brauchen. »Wann stand sie dir je im Weg? Außerdem weißt du, dass sie und Gus das Geld brauchen. Ich hoffe, du bezahlst sie wenigstens.« Mama kniff die Lippen zusammen, ein untrügliches Zeichen, dass ich zu weit gegangen war. »Lorena Ann, nur weil du jetzt sechzehn bist, bedeutet das nicht, dass du deiner Mutter vorschreiben könntest, wie sie mit den Dienstboten umzugehen hat.« Ich zuckte entschuldigend die Achseln. Mir konnte es egal sein, ob Dovie arbeitete oder nicht. Eine Cateringfirma war beauftragt, das Essen zu liefern und nach dem Fest aufzuräumen. Tische und Stühle wurden am Vormittag gestellt. Mama, Mary und ich würden nach dem Mittagessen hinüberfahren, um den Saal mit rosafarbenen und weißen Bändern, Rosen, Nelken und sogar Ballons zu schmücken. Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass die Auffahrt leer war. Dabei hätte dort eigentlich Daddys »dollargrüne« Cadillac-Stadtlimousine Baujahr 1929 stehen müssen. »Daddy wollte heute doch zu Hause bleiben. Wir essen zusammen im Maxwell House Hotel zu Mittag.« Das kindische Schmollen in meiner Stimme war eine schlechte Angewohnheit, die ich jetzt, da ich sechzehn war, würde ablegen müssen, aber Daddy hatte nun mal versprochen, den Tag mit der Familie zu verbringen. »Er muss sich um dringende geschäftliche Angelegenheiten kümmern. Er hat bestimmt später Zeit, uns Gesellschaft zu leisten.« Sie klang nicht besonders überzeugend. Wir wussten schon lange, dass für Daddy die Bank an erster Stelle kam. Er würde sich entschuldigen und Mama oder Mary und mir Geschenke kaufen, um unsere Enttäuschung zu besänftigen, aber manchmal wollten wir einfach ihn und keine Geschenke. Ich steckte mir noch eine Brombeere in den Mund und verzog bei dem sauren Geschmack das Gesicht. Vermutlich spiegelte diese Miene meine Gefühle wider, weil Daddy zu meinem Geburtstagsfrühstück fehlte. Ich hoffte, das, was in der Bank so wichtig war, würde unsere Pläne für den Rest des Tages nicht verderben. Gestern Abend war er erst lange nach dem Abendessen nach Hause gekommen und dann sofort in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Mama sagte, er sei nach einem anstrengenden Arbeitstag müde gewesen und wir sollten uns keine Sorgen machen, aber ich konnte nicht anders. Seit Präsident Hoover letzte Woche im Radio irgendetwas im Zusammenhang mit der New Yorker Börse gesagt hatte, wirkte Daddy nervös und geistesabwesend. Mary kam gähnend in die Küche. »Morgen. Alles Gute zum Geburtstag, Lulu.« Ich schmunzelte. »Danke, Schwesterherz.« »Deine Schwester ist jetzt eine junge Dame, Mary«, erklärte Mama in missbilligendem Ton. »Du hast sie Lulu genannt, als sie ein Baby war, weil du ihren Namen nicht aussprechen konntest. Vielleicht ist es an der Zeit, diesen kindischen Spitznamen abzulegen.« Sobald uns Mama den Rücken zukehrte, verdrehte Mary die Augen. Ich hielt mir den Mund zu, um nicht laut zu lachen, und ging mit meinem Saft zum Frühstückstisch. Hatte Mama vergessen, dass die meisten, sogar sie selbst, Rena zu mir sagten? Besonders dann, wenn ihre Mutter, Grandma Lorena, und ich im selben Raum waren? »Um wie viel Uhr fahren wir zum Saal?« Mary schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich zu mir an den Tisch. »Roy hat angeboten, beim Dekorieren zu helfen.« Jetzt verdrehte ich die Augen. Roy Staton, der Sohn von Daddys wichtigstem Geschäftskunden, war meiner Meinung nach unerträglich langweilig. Mary studierte das erste Jahr am Ward-Belmont College und hatte grenzenlose Möglichkeiten. Warum sie sich auf eine Beziehung zu Roy eingelassen hatte, war mir unbegreiflich. »Wir dürften spätestens um zwei Uhr dort sein.« Mama warf einen Blick auf die Wanduhr. »Wir müssen früh genug fertig werden, um noch genügend Zeit zum Baden und Ankleiden zu haben. Die Gäste kommen um sieben.« Sie stellte eine Schüssel mit klumpig aussehendem Haferbrei und einen Teller mit leicht angebranntem Toast auf den Tisch. Als sie sich wieder in Richtung Küche wandte, rümpfte ich die Nase. Meine Geschmacksknospen hatten sich auf Dovies berühmte Brombeerpfannkuchen und ihren kross angebratenen Speck eingestellt, das traditionelle Frühstück an meinem Geburtstag, solange ich zurückdenken konnte. Mama hielt inne und schaute aus dem Fenster über der Spüle. Sie wirkte geistesabwesend. Sogar besorgt. Das war ungewöhnlich, da sich Mama selten den Luxus erlaubte, ihre wahren Gefühle zu zeigen. Manchmal fragte ich mich, was sie wirklich dachte, zum Beispiel in dem Moment, als Daddy sie letzten Sonntag nach dem Gottesdienst in Verlegenheit gebracht hatte. Eine Gruppe von Gemeindegliedern hatte sich im Sonnenschein versammelt und über das Bauprojekt gesprochen, das der wachsenden Gemeinde mehr Raum geben würde. Daddy hatte damit geprahlt, wie viel Geld er gespendet hatte, damit der neue Unterrichtsflügel Leland Hall genannt wurde. Mamas Gesicht war knallrot angelaufen, aber sie hatte ein Lächeln aufgesetzt und gescherzt, Daddy wolle sich den Weg in den Himmel erkaufen. »Roy hat gesagt, sein Freund Homer will dich nach dem Debütantinnenball besuchen.« Mary sah mich erwartungsvoll an. Mama brachte einen Teller mit Rührei zum Tisch, das von allem, was sie gekocht hatte, am essbarsten aussah, und setzte sich zu uns. »Homer? Wie heißt er weiter? Kenne ich seine Eltern?« Ich stöhnte. »Das ist egal. Meinetwegen könnte er ein Rockefeller sein. Ich würde trotzdem nicht mit ihm ausgehen wollen.« »Du bist so ein Snob, Lulu.« »Was ist falsch an dem Jungen?«, wollte Mama wissen. »Nichts«, antworteten Mary und ich gleichzeitig. Mama zog die Brauen hoch und ihre blauen Augen musterten mich forschend. Ich zuckte mit einer Schulter. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, mit jemandem verheiratet zu sein, der Homer heißt. Es hat also keinen Sinn, ihn zu ermutigen.« Mary schüttelte verständnislos den Kopf und begann zu essen. Mama widmete diesem Thema mehr Aufmerksamkeit, als meiner Meinung nach nötig war. Ich war noch Jahre davon entfernt, zu heiraten und eine Familie zu gründen, und sie sollte eigentlich erleichtert sein, dass ich nicht so verrückt nach Jungs war wie meine Schwester. »Wenn ich nicht mit Roy zusammen wäre, fände ich Homer sehr interessant«, verkündete Mary, als würden Mama oder ich uns etwas aus ihren Schwärmereien machen. »Er ist attraktiv, klug und kommt aus einer sehr guten Familie in Memphis. Roy sagt, Homers Mutter stamme von altem Geldadel ab.« Ich gab ein spöttisches Schnauben von mir. »Vielleicht haben sie an den Ufern des Mississippi einen vergrabenen Schatz aus Piratenzeiten gefunden.« Mary bedachte mich mit einem finsteren Blick und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Mama war mit ihrer Geduld am Ende. »Mädchen«, sagte sie in dem strengen Tonfall, den sie anschlug, wenn sie sauer auf uns war. »Man macht keine Witze über einen Mann, der aus einer guten Familie kommt. Ihr seid beide alt genug, um mögliche Heiratskandidaten zu prüfen.« Sie richtete ihren Blick auf mich. »Ich erwarte von dir, dass du dich beim Ball von deiner besten Seite zeigst, und du …« – sie wandte sich Mary zu – »… solltest Roy gegenüber nicht vortäuschen, du würdest dir mehr aus ihm machen, als du es anscheinend tust.« Ihre ernste Zurechtweisung erzielte genau die gegenteilige Wirkung der von ihr beabsichtigten und ich hätte am liebsten laut losgekichert. Ich konnte Mary nicht ansehen, sonst wäre es sofort aus mir herausgeplatzt. Wir frühstückten zu Ende und dann schickte mich Mama weg, da ich an meinem Geburtstag nicht beim Geschirrspülen helfen musste. Mary streckte mir die Zunge heraus, als sie ein Geschirrtuch nahm, doch dann zwinkerte sie mir zu. Ich ging nach oben in mein Zimmer. Das Kleid, das Mamas Lieblingsschneiderin für den Ball entworfen hatte, hing an einer Schneiderpuppe neben dem Fenster. Zugegeben, ich liebte den weißen Seidenstoff und die Spitze über dem Rock. Mama hatte darauf bestanden, dass der Saum bis zu meinen Knöcheln reichen sollte statt des zurzeit modernen kürzeren Stils, aber das störte mich nicht. Bei der letzten Anprobe hatte ich kaum glauben können, wie elegant und erwachsen ich in dem Kleid aussah. Ein kurzer Blick in den Spiegel über der Kommode auf mein zerzaustes Haar und meinen zerknautschten rosafarbenen Bademantel holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich hatte Mary schon immer für die Schönere von uns beiden gehalten. Mit ihren blauen Augen und blonden Locken war sie durch und durch Mamas Tochter. Ich hingegen hatte Daddys langweiliges braunes Haar und seine braunen Augen geerbt, die im richtigen Licht zwar auch ganz hübsch waren, aber bei den Jungen nicht so viel Aufmerksamkeit erregten wie Marys. Vielleicht war es mir deshalb noch nie besonders wichtig gewesen, von ihnen beachtet zu werden. Der Mann, den ich eines Tages heiratete, würde mich so lieben, wie ich war. Ein einzelnes gedrucktes Blatt Papier lag auf meinem Schreibtisch. Ich nahm es und streckte mich grinsend auf dem Bett aus. Mein Beitrag in der Schülerzeitung freute mich immer noch. Mr Snyder, mein Englischlehrer und der Redakteur besagter Zeitung, meinte, ich hätte ein Talent dafür, Geschichten zu erzählen. Er hatte mich in meinem zweiten Schuljahr an der Highschool ermutigt, mich der kleinen Reportergruppe anzuschließen, und hatte mich in diesem Jahr zur Redaktionsassistentin befördert. Ich träumte davon, nach dem Studium fürs Life, Collier’s oder eine der anderen großen Zeitschriften in New York City zu schreiben, aber für den Moment musste mein Artikel über den Diebstahl des ausgestopften Adlermaskottchens der Schule genügen. Zu meiner großen Enttäuschung kam Daddy auch zum Mittagessen nicht nach Hause. Mama wollte nicht in die Stadt fahren, deshalb gab es Wurstbrote zu Hause statt Shrimps und Hummer im Maxwell House Hotel. Wie Mary angekündigt hatte, kam Roy später zu uns in den Saal. Er war so damit beschäftigt, sie zu begrüßen, dass er vollkommen vergaß, mir zum Geburtstag zu gratulieren. Wir kamen mit dem Dekorieren schnell voran und waren fast fertig, als der Lieferwagen des Cateringservices vorfuhr. Mama passte den rundlichen Mann – seinen Namen hatte ich vergessen – ab und erteilte seinen beiden Helfern Anweisungen, wohin sie die Essensplatten und eine hübsche fünfstöckige Torte, die mit frischen Blumen geschmückt war, bringen sollten. Irgendwann später wanderte mein Blick durch den Saal und ich bemerkte, dass Mama in ein eindringliches, geflüstertes Gespräch mit dem Mann vertieft war. Das war irgendwie sonderbar. Mama war nicht der Typ Frau, der mit fremden Männern flirtete, und obwohl ich ihr heimliches Gespräch nicht unbedingt so gedeutet hätte, weckte es in mir ein starkes Unbehagen. Ich trat ins Freie und beobachtete, dass die zwei Helfer ebenfalls aufgeregt miteinander tuschelten. Als sie mich bemerkten, machten sie sich wieder an die Arbeit, aber ich bekam eine Gänsehaut und hatte die Ahnung, da war irgendetwas, was ich wissen sollte. Auf der Heimfahrt schwieg Mama. Das bemerkte selbst Mary, die nicht immer sensibel für die Gefühle und das entsprechende Verhalten anderer war, und sah mich fragend an. Ich gab ihr mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass ich keine Ahnung hatte, was los war, und beließ es dabei. Zu Hause badete ich und zog mich für den Abend an. Bei den winzigen Perlenknöpfen am Rücken meines apricotfarbenen Partykleids hätte ich Dovies Hilfe wirklich gut gebrauchen können. Ich seufzte dankbar auf, als Mary in einem grünen Seidenkleid, in dem ihre Haut cremefarben wirkte, an der Tür erschien. »Roy hat mir etwas im Vertrauen gesagt«, flüsterte sie, während sie hinter mich trat, um die Knöpfe zuzumachen. »Das heißt normalerweise, dass du das, was du von ihm erfahren hast, nicht weitersagen sollst.« Sie kniff mich in den Arm und ich schrie empört auf. »Das weiß ich, aber ich muss mit jemandem darüber sprechen. Mama kommt nicht infrage.« Mein Interesse war sofort geweckt. »Schieß los.« Sie war jetzt mit meinen Knöpfen fertig und setzte sich auf die Bettkante. So ernst wie in diesem Moment hatte ich sie noch nie zuvor gesehen. Ich runzelte die Stirn. »Hat Roy dir einen Heiratsantrag gemacht?« Falls er das getan hatte, wäre ich ziemlich sauer, denn schließlich war heute mein Geburtstag. Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand die Show stahl, die mir nur einmal im Jahr vergönnt war. Mary schüttelte den Kopf und ihre goldenen Locken hüpften. »Er hat mir etwas Beängstigendes erzählt.« Ich wartete, obwohl meine Fantasie bereits mit mir durchging. Sie stand auf und schob die Tür so weit zu, dass sie nur noch einen Spaltbreit offen stand. »Roys Vater hat seiner Mutter erzählt, dass Daddys Bank in Schwierigkeiten steckt. Es geht irgendwie um die Börse in New York.« Sie zuckte mit ihren schmalen Schultern. »Er hat gesagt, sein Vater sei sehr aufgebracht.« »Was für Schwierigkeiten?« Aber ich wusste schon, dass diese Frage dumm war, als ich sie stellte. Wir hatten beide keine Ahnung von der Finanzwelt, in der unser Vater arbeitete, um nicht zu sagen: lebte. »Roy behauptet, Daddy könnte alles verlieren.« Marys Flüstern und ihre weit aufgerissenen Augen jagten mir einen Schauder über den Rücken. War das gemeint gewesen, als letzten Donnerstag im Radio von einer Rezession gesprochen worden war? »Und da Roys Vater so viel in Daddys Bank investiert hat, könnte seine Familie auch Probleme bekommen.« Ich stand wie angewurzelt in meinem Zimmer und starrte in Marys blasses Gesicht. »Das ist nicht möglich.« Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich im Wirtschaftsunterricht über die Börse gelernt hatte, aber mir fiel nichts ein. »Daddys Bankfilialen sind hier in Tennessee. Sie haben mit dem, was in New York passiert, nichts zu tun.« »Warum macht sich Roys Vater dann Sorgen?« Darauf wusste ich keine Antwort. Kurze Zeit später klingelte unten das Telefon. Ich warf einen Blick auf die Uhr auf meiner Kommode. Es war halb vier. Ich hielt den Atem an und hörte zu, wie Mama das Gespräch eilig annahm. Ihre Worte waren nicht zu verstehen, aber ich konnte mich nicht überwinden, zur Tür zu schleichen und zu lauschen. Ich betete, dass am Telefon nur Grandma Lorena war und fragte, ob sie mit uns zur Feier fahren könne, oder Dovie, die mir zum Geburtstag gratulieren wollte. Der durchdringende Schrei, der einen Moment später die Luft zerriss, sagte mir, dass es keine der beiden war.

Kapitel 1Nashville, TennesseeDienstag, 29. Oktober 1929Acht Stunden früherEinen perfekteren Tag konnte es nicht geben.Ich machte es mir auf meinem Lieblingsstuhl auf der Veranda bequem und bestaunte den rosavioletten Sonnenaufgang am Himmel von Tennessee. Bei dem schwachen Geruch von Holzrauch in der kühlen Morgenluft und dem Zwitschern der Vögel von den fast kahlen Bäumen war es, als habe selbst die Natur beschlossen, meinen besonderen Tag mit mir zu feiern.Sechzehn!Ich schrieb das Wort auf eine leere Seite in das Tagebuch mit Ledereinband, das mir Grandma Lorena zu Weihnachten geschenkt hatte. Das perfekte Geschenk für eine angehende Schriftstellerin, hatte sie erklärt. Und wie immer hatte sie recht gehabt. Mein letzter Eintrag, eine lange Tirade, in der ich beklagte, dass ich die Wahl zur Klassensprecherin an Sally Wortham verloren hatte, war kaum zu entziffern. Meine jugendliche Wut sprach aus jedem Wort, das ich zu Papier gebracht hatte. Wer hätte geahnt, dass die Bestechung mit selbst gemachten Karamellbonbons so erfolgreich sein könnte?Mit ordentlicherer Handschrift hielt ich meine Geburtstagsgedanken fest:Endlich habe ich dieses wunderbare Alter erreicht. Wenigstens hielt ich es für wunderbar, als Mary und ihre Freundinnen sechzehn wurden. Plötzlich wurden sie wie Erwachsene behandelt und durften Dinge tun, die mir, der zwei Jahre jüngeren Schwester, verwehrt blieben. Heute stehe ich am Tor zu einem neuen und viel interessanteren Leben. Der Debütantinnenball im nächsten Monat wird mich offiziell in die Gesellschaft von Nashville einführen, und auch wenn ich mir nicht viel aus Tratsch und den Menschen, die ihn in Umlauf bringen, mache, habe ich vor, meinen Platz in den besten Kreisen der Stadt einzunehmen und jeden Vorteil, den diese Position mit sich bringt, zu genießen.Ich las den Eintrag noch einmal und grinste.So viel Glück verlangt nach einem Freudenschrei. Vielleicht sogar nach zwei Freudenschreien.Mit einem befriedigten Gefühl klappte ich das kleine Buch zu und dachte an den Tag, der vor mir lag. Ich musste heute nicht zur Schule gehen. Mama erlaubte mir zu schwänzen, damit ich ihr und Mary helfen konnte, den Saal zu dekorieren, den wir für meine Feier heute Abend gemietet hatten. Gut hundert Leute waren eingeladen. Da Daddys Bank eine der größten in ganz Tennessee war, befanden sich auf der Gästeliste sehr viele seiner Stammkunden. Ihre Frauen waren Mamas Freundinnen, die sich in Clubs und wohltätigen Organisationen engagierten, obwohl sie sich meiner Einschätzung nach mehr für ihre gesellschaftliche Stellung interessierten, als dass ihr Antrieb wirklich altruistische Motive gewesen wären.Ich stand auf, streckte mich und schlenderte ins Haus. Mama war in der Küche damit beschäftigt, das Frühstück zuzubereiten. Ihr Haar war perfekt frisiert und eine Perlenkette glitzerte über dem Kragen ihres zweiteiligen Tageskostüms. Die gepunktete Rüschenschürze, die sie sich umgebunden hatte, betonte ihre ein wenig rundliche Taille, aber darauf würde ich sie bestimmt nicht hinweisen.»Wo ist Dovie? Sie macht zu meinem Geburtstag doch immer ihre Spezialpfannkuchen.« Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass Mama an den Wochenenden das Frühstück übernahm, aber dienstagmorgens stand normalerweise Dovie, unsere Haushälterin und Köchin, am Herd, besonders an einem Tag wie heute.Eine Schüssel mit frisch gewaschenen Brombeeren stand auf der Arbeitsplatte. Ich steckte mir eine in den Mund, bevor ich den neuen Kühlschrank aufmachte, der letzte Woche geliefert worden war. Der Werbeslogan des Herstellers General Electric - »In Ihrer Küche ist immer Sommer« - hatte Mama Angst um unsere Lebensmittel eingejagt und sowohl dem Werbeteam als auch dem Katalog von Sears, Roebuck und Co. Erfolg beschert. Wie versprochen war die Glaskaraffe mit Orangensaft schön kalt und gut vor den Bakterien der warmen Küche geschützt.Mama gab mir keine Antwort.Ich drehte mich um, um zu sehen, ob sie meine Frage überhaupt gehört hatte, und be

Erscheinungsdatum
Übersetzer Silvia Lutz
Sprache deutsch
Original-Titel Under the tulip tree
Maße 135 x 205 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Amerikanischer Bürgerkrieg • Börsencrash • Diskriminierung • Federal Writers' Project • Glaube • Gott • Große Depression • Interviews • Journalistin • Leibeigenschaft • Rassismus • Sezessionskrieg • Sklaverei • Weltwirtschaftskrise
ISBN-10 3-96362-283-0 / 3963622830
ISBN-13 978-3-96362-283-0 / 9783963622830
Zustand Neuware
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