Ginsterhöhe (eBook)

Roman | Ein Eifeldorf, das zwischen den Weltkriegen zum Spielball der Geschichte wird

*****

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2022 | 1. Auflage
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2814-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ginsterhöhe -  Anna-Maria Caspari
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Eine Geschichte von Liebe und Mut in unruhigen Zeiten 1919: Körperlich und psychisch schwer versehrt kehrt der junge Bauer Albert Lintermann in sein Heimatdorf Wollseifen zurück. Seine Frau Bertha begegnet ihm mit Abscheu und Entsetzen. Doch Albert lässt sich nicht unterkriegen, und es gelingt ihm, seinen Platz in der Familie und der Dorfgemeinschaft wiederzufinden, nicht zuletzt, weil ihm Leni, die Verlobte seines im Krieg gefallenen Freundes, dabei hilft. Eine Zeitlang sieht es so aus, als könne das Leben wieder in geordneten Bahnen verlaufen: die Familie wächst, der Hof wird größer und trotz der zunehmenden Inflation hält der Fortschritt Einzug in Wollseifen. Bis die Nationalsozialisten in die karge ländliche Idylle einfallen und das Schicksal der kleinen Eifelgemeinde und ihrer Bewohner für immer besiegeln ...  

Anna-Maria Caspari, geboren 1955 in Köln, lebt als Literatur-Übersetzerin und Autorin am Rand des Nationalparks Eifel. Die Geschichte des Dorfes Wollseifen, dem seine Nähe zu Vogelsang, einer Ordensburg der Nationalsozialisten, zum Verhängnis wurde, inspirierte sie zu dem Roman Ginsterhöhe.

Anna-Maria Caspari, geboren 1955 in Köln, lebt als Literatur-Übersetzerin und Autorin am Rand des Nationalparks Eifel. Die Geschichte des Dorfes Wollseifen, dem seine Nähe zu Vogelsang, einer Ordensburg der Nationalsozialisten, zum Verhängnis wurde, inspirierte sie zu dem Roman Ginsterhöhe.

1


Es war bitterkalt, als Albert aus dem Bahnhofsgebäude trat. Er fröstelte sogar in dem warmen Militärmantel, den er aus der Kleidersammlung des Lazaretts bekommen hatte. Das Pferdefuhrwerk stand direkt vor dem Haupteingang, auf dem Kutschbock saß dick vermummt der Vater. Wie immer hatte er die gebogene Meerschaumpfeife im Mundwinkel hängen. Er stopfte sie nur einmal in der Woche, wenn er nach der Messe zum Frühschoppen in die Wirtschaft ging. Den Rest der Woche trug er sie wie ein Kleidungsstück. Als Kind hatte Albert immer geglaubt, sie sei im Mundwinkel des Vaters festgewachsen und er könne sie gar nicht herausnehmen, selbst wenn er wollte.

Der Vater machte keine Anstalten, herunterzusteigen und dem Sohn entgegenzugehen. Er nickte Albert nur zu und sagte: »Da bist du ja, Junge!«

Er hatte noch nie viele Worte gemacht, aber Albert wusste auch so, wie froh er war, seinen einzigen Sohn wiederzuhaben. Er warf seinen Koffer hinten auf den Wagen und kletterte zum Vater auf den Kutschbock. Sorgfältig achtete er darauf, ihm nur die heile Hälfte seines Gesichts zuzuwenden, aber der Vater schaute ihn sowieso nicht richtig an. Er warf ihm lediglich einen kurzen Blick von der Seite zu und murmelte: »Gott sei Dank, du hast noch alle Gliedmaßen. Breuers Jüpp sind die Füße abgefroren, der sitzt im Rollstuhl. Na ja, Korbflechten kann er noch. Nellessens Schäng ist auch wieder da, zu nix mehr zu gebrauchen. Der hat es an die Nerven gekriegt. Kriegszittern, sagen sie. Er geht jetzt nach Schleiden in so eine Versehrten-Werkstatt.«

Solche Fälle hatte Albert im Lazarett auch erlebt. Äußerlich waren sie unversehrt, aber seelisch hatten die Erlebnisse an der Front tiefe Wunden geschlagen. Erfrierungen oder Amputationen waren keine Seltenheit. Die Leute hatten manchmal tagelang bis zu den Knien im eisigen Schlammwasser gestanden.

Jetzt warf ihm sein Vater doch noch einen längeren Blick zu. »Du musst nur ein bisschen was auf die Rippen kriegen, dann geht das schon. Ich bin froh, dass du lebst. Wird Zeit, dass du den Hof wieder übernimmst.«

Albert nickte und zog sich die Mütze noch ein wenig tiefer in die Stirn. »Ja, ja, mach dir keine Sorgen«, sagte er betont munter. »Anpacken kann ich wie früher.«

Früher – das schien eine Ewigkeit her. Vor dem Krieg, vor dem Entsetzen, dem Grauen, dem Tod, den Schmerzen. Albert spürte, wie ihm Tränen die Kehle zuschnürten. Das passierte ihm jetzt häufiger. Er war nie wehleidig gewesen, und er konnte sich nicht erinnern, jemals geweint zu haben. So etwas tat ein Junge nicht, ein Mann schon gar nicht. Aber seitdem die Granate ihm den besten Freund genommen und ihm das Gesicht zerfetzt hatte, kamen die Tränen manchmal ohne sein Zutun.

Schweigend fuhren sie weiter. Albert wagte es nicht, den Vater anzusehen. Die Hochebene, die im Sommer gelb von blühendem Ginster war, lag grau und struppig unter den tief hängenden Wolken.

Sie fuhren am Walberhof vorbei, der wie verlassen dalag. Nichts zeugte davon, dass hier überhaupt jemand wohnte. Aber der Pächter, Adam Stinnes, hatte schon vor dem Krieg das Arbeiten nicht erfunden. Wie oft er auf dem Feld seinen Rausch ausgeschlafen hatte, konnte man im Dorf gar nicht mehr zählen. Es war ein Wunder, dass er die Pacht all die Jahre behalten hatte, dachte Albert.

Ein Stück weiter lag auf der rechten Seite der Feltenhof. Zwei Pferde, mit Decken über dem Rücken, standen auf einer der weitläufigen Weiden hinter dem Gebäude. Sie hoben die Köpfe, als der Wagen vorbeirumpelte, und eines der Tiere wieherte. Um etwas zu sagen, deutete Albert auf das Kaltblut vor dem Wagen und fragte: »Haben sie euch die Pferde gelassen?«

Der Vater schüttelte den Kopf. »Nein, nur den Jupp, weil der schon so alt ist.« Er nickte zu dem schweren braunen Ackergaul hin, der den Wagen zog. »Die anderen beiden haben sie an die Front geschickt. Ich weiß nicht, was mit ihnen ist. Zurückschicken werden sie sie mir wohl nicht mehr. Und Entschädigung hat’s auch nicht dafür gegeben.«

Albert nickte. Er hatte keine andere Antwort erwartet. Für ihn als Bauernsohn war es besonders schlimm gewesen, mit ansehen zu müssen, wie die Pferde massenhaft auf den Schlachtfeldern ums Leben gekommen waren. Die Bilder der Tiere, die oft noch stundenlang hatten leiden müssen, bis sie schließlich qualvoll verendet waren, verfolgten ihn bis in seine Träume.

»Am schlimmsten hat es die Gräfin erwischt«, fuhr der Vater fort und nickte in Richtung Feltenhof. »Bei ihr haben sie über die Hälfte aller Pferde weggeholt. Sie sagt, die Summe, die sie ihr dafür bezahlt haben, ist lächerlich. Davon kann sie noch nicht einmal das Futter für die Tiere bezahlen, die ihr geblieben sind. Aber sie schlägt sich tapfer.«

Marie Felten verdankte ihren Beinamen »die Gräfin« einer abfälligen Bemerkung ihres Schwiegervaters, der die Wahl seines Sohnes immer als Fehlgriff betrachtet hatte. Seit dem Unfalltod ihres Mannes vor sechs Jahren bewirtschaftete sie den Feltenhof ganz allein und hatte neben dem landwirtschaftlichen Betrieb sogar eine Pferdezucht aufgebaut, die sich trotz der Einschränkungen durch den Krieg recht erfolgreich entwickelt hatte.

Albert schwieg. Die Kälte biss in die gerade erst verheilten Wunden. Wulstig und rot verliefen die Narben durch sein Gesicht. Der Heilungsprozess war schwierig gewesen, ständig hatte er Schmerzen gehabt, und einige Wunden hatten sich immer wieder entzündet und geeitert.

Er zog seinen Schal höher, damit die kalte Luft nicht durch die offene Stelle am Mund ziehen konnte. Der Arzt im Lazarett in Aachen hatte ihm geraten, sich zur weiteren Wiederherstellung in der Universitätsklinik in Bonn behandeln zu lassen. »Dort gibt es einen hervorragenden Chirurgen, Professor Siegburger, der sich einen Namen vor allem in der Wiederherstellung von Gesichtern gemacht hat«, hatte er gesagt. »Sie sollten sich auf jeden Fall wegen möglicher Komplikationen bei ihm vorstellen. Ich gebe Ihnen einen Brief für den geschätzten Kollegen mit.« Albert hatte den Brief stumm eingesteckt. Wochenlang hatte er gar nicht gewusst, wie schwer seine Verletzungen waren, und als ihm dann zum ersten Mal ein Spiegel gereicht worden war, hatte ihn der Anblick seines zerfetzten Gesichts in einen Schockzustand versetzt, der immer noch andauerte. Im Nachhinein war er froh darüber, dass Bertha ihn nicht im Lazarett besucht hatte. Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie ihn sah? Er fürchtete sich vor dem Moment.

Da war schon die kleine Kapelle am Wegrand. Jetzt war es nicht mehr weit. Hier hatte die Mutter bei der Jungfrau Maria noch eine Kerze angezündet und für ihn gebetet, als er eingezogen worden war.

»Wie geht es Leni und der Kleinen?«, fragte er mit rauer Stimme.

Der Vater zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich hab sie nur mal kurz auf der Straße gesehen. Da musst du die Frauen fragen.«

»Wohnt sie denn nicht mehr bei uns?«

»Sie ist mit dem Kind in die Schule gezogen. Wir hatten doch Einquartierung, und da wollte sie uns wohl nicht länger zur Last fallen. Aber genau weiß ich’s auch nicht, warum sie ausgezogen ist. Frag die Mutter.«

Er verlor kein Wort über Hennes. Und Albert ahnte, dass der Vater, vielleicht instinktiv, gar nichts wissen wollte von den Schrecken und Qualen in den Schützengräben. Und wozu sollte er sich schildern lassen, wie der beste Freund des Sohnes ums Leben gekommen war? Das machte ihn ja auch nicht mehr lebendig.

»Habt ihr denn wieder einen neuen Schmied?«, fragte Albert, als die Schmiede zu sehen war. Seine Stimme war auf einmal so rau, dass sie ihm ganz fremd vorkam.

Wie immer, wenn er an Hennes dachte, wurde ihm die Kehle eng. Er blickte über die graue, in Kälte erstarrte Landschaft und auf die Häuser rechts und links vom Weg. Wie oft hatte er in den langen Nächten im Schützengraben davon geträumt, endlich wieder zu Hause zu sein und seine Familie wiederzusehen.

»Ja, seit einem Monat. Er war auch an der Front, aber er hat den Krieg heil überstanden. Es muss ja weitergehen«, meinte der Vater. Er überlegte kurz, dann fügte er hinzu: »Netter Kerl, der Hermann Schlösser. Kommt aus der Nähe von Düren. Hatte gerade seinen Meister gemacht, bevor er eingezogen wurde. Jetzt ist er seit zwei Monaten hier, und er hat gleich seine ganze Familie mitgebracht, Frau und vier Kinder. Ich glaub, das fünfte ist unterwegs.« Der Vater warf einen Blick auf das verputzte Steinhaus, an dem sie vorbeifuhren, und hob grüßend die Hand. »Könnte vielleicht ein bisschen eng werden für so viel Leute. Aber er kann ja anbauen, Platz ist genug. Und sein Auskommen hat er auch. Im Krieg ist viel liegen geblieben, und er hat wahrhaftig genug zu tun.«

Albert vergrub sich noch tiefer in seinem Schal. Er hatte schon von Weitem gesehen, dass in der Schmiede Betrieb herrschte.

Auch beim Stellmacher nebenan wurde gearbeitet, aber niemand dort schenkte ihnen Beachtung. Aus dem Augenwinkel sah er den Rücken von Quirin Schütze, der wegen seiner massigen Gestalt von allen nur »dr Dek«, der Dicke, genannt wurde. Auch er war mit Albert in die Schule gegangen, aber Freunde waren sie nie gewesen. Offenbar hatte ihm der Krieg nichts anhaben können....

Erscheint lt. Verlag 24.11.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1. Weltkrieg • Eifel • Heimat • Krieg • Wollseifen • zwischenkriegsjahre
ISBN-10 3-8437-2814-3 / 3843728143
ISBN-13 978-3-8437-2814-0 / 9783843728140
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