Das Phantom der Oper. Roman (eBook)
320 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-29760-2 (ISBN)
Der französische Schriftsteller und Journalist Gaston Leroux (1868-1927) ist heute vor allem für seinen Roman »Das Phantom der Oper« bekannt. In Frankreich sind auch seine Kriminalromane Klassiker.
Einleitung
Das Phantom hat wirklich existiert. Es war nicht bloß, wie man lange Zeit meinte, ein Hirngespinst der Künstler, ein Aberglaube der Direktoren, ein Schauermärchen, das den erregten Köpfchen der Damen vom Ballett oder ihrer Mütter, der Logenschließerinnen, der Garderobieren und der Concierge, entsprang.
Ja, es hat leibhaftig existiert, obgleich es sich ganz und gar die Allüren eines wirklichen Gespenstes zulegte.
Ich war von allem Anfang an, da ich die Archive der Académie Nationale de Musique nachzuschlagen begann, einerseits durch die seltsame Übereinstimmung der Phänomene, die man dem Phantom zuschrieb, andererseits über die mystischen und fantastischen Einzelheiten der tragischen Ereignisse überrascht, und so kam ich bald auf den Gedanken, dass man möglicherweise doch imstande sein könnte, das eine durch das andere auf vernünftigem Weg aufzuklären. Die Ereignisse datieren etwa dreißig Jahre zurück, und es würde nicht schwerfallen, auch heute noch im Foyer einen oder den anderen alten Herrn zu finden, der sich daran erinnert, als wäre die Sache erst gestern geschehen, an die geheimnisvollen und tragischen Umstände, die die Entführung der Christine Daaé begleiteten, das Verschwinden des Vicomte de Chagny und den Tod seines älteren Bruders, des Grafen Philippe, dessen Leiche man an dem steilen Rand des Teiches fand, der sich unter der Oper, gegen die Rue Scribe zu, ausbreitet. Doch keiner dieser Zeugen hatte bis heute eine Ahnung, dass diese schaurigen Ereignisse mit der fast sagenhaften Gestalt des Phantoms der Oper zusammenhingen. Bei einem Nachspüren, das sich alle Augenblicke an Begebenheiten stieß, die auf den ersten Blick ans Übernatürliche grenzten, kam ich der Wahrheit nur langsam näher.
Ich hatte mich viele Stunden lang in die »Erinnerungen eines Theaterdirektors« vertieft, ein unbedeutendes Buch dieses etwas zu skeptischen Herrn Moncharmin, dem während seines kurzen Engagements an der Oper das spukhafte Treiben des Phantoms ein Rätsel blieb und der sich so schnell wie möglich aus der Affäre zog, als er selbst das erste Opfer der Finanzoperation geworden war, die sich hinter den Kulissen der »Rätselhaften Entführung« abspielte.
Ärgerlich verließ ich die Bibliothek, als ich den liebenswürdigen Verwalter unserer Académie Nationale traf, der auf einem Treppenabsatz mit einem kleinen, lebhaften und koketten älteren Herrn sprach, dem er mich vergnügt vorstellte. Der Verwalter war über meine Nachforschungen unterrichtet und wusste, mit welcher Ungeduld ich vergeblich versucht hatte, das Verschwinden des Untersuchungsrichters der berühmten Affäre Chagny, des Herrn Faure, aufzuklären. Niemand hatte eine Ahnung, was aus ihm geworden war, ob er tot war oder sich noch am Leben befand. Und nun, als er von Kanada zurückkehrte, wo er fünfzehn Jahre lang gelebt hatte, war sein erster Weg in Paris nach dem Sekretariat der Oper, um sich eine Freikarte zu holen. Dieser kleine alte Herr war niemand anderer als Herr Faure.
Wir verbrachten mehrere Stunden des Abends miteinander, und er erzählte mir alle Einzelheiten der Affäre Chagny, soweit sie ihm selbst bekannt waren. Das ganze Beweismaterial deutete auf einen abnormalen Geisteszustand des Vicomte und auf einen zufälligen Unglücksfall seines älteren Bruders, dennoch blieb er der Überzeugung, dass hier ein grauenhaftes Verbrechen vorliege, das sich zwischen den beiden Brüdern wegen der Christine Daaé abgespielt habe. Er wusste mir nicht einmal zu sagen, was aus Christine und dem Vicomte geworden war. Und als ich ihm von dem Phantom sprach, lächelte er nur ironisch. Auch er war von den seltsamen Tatsachen unterrichtet, die die Existenz eines außergewöhnlichen Wesens zu beweisen schienen, das einen der geheimnisvollsten Schlupfwinkel der Oper zu seinem Wohnsitz auserwählt hatte, und auch die »Entführungsgeschichte« war ihm bekannt. Doch hatte er in all dem nichts gesehen, was die Aufmerksamkeit eines Gerichtsbeamten auf sich ziehen könnte, der mit der Aufklärung der Affäre Chagny betraut war, und er glaubte damit genug getan zu haben, dass er einige Minuten lang einem Zeugen Gehör schenkte, der sich plötzlich gemeldet hatte, um zu bekräftigen, dass er dem Phantom begegnet sei. Dieser Zeuge war ein Mann, den man in ganz Paris den »Perser« nannte und der allen Abonnenten der Oper wohlbekannt war. Der Richter hatte ihn einfach für einen Geisterseher genommen.
Man kann sich vorstellen, dass ich mich für diesen »Perser« sogleich lebhaft interessierte. Ich wollte um jeden Preis, wenn das noch möglich war, diesen wertvollen und originellen Zeugen wiederfinden. Mein Glück begünstigte mich wieder einmal, und ich entdeckte ihn bald in seiner kleinen Wohnung in der Rue de Rivoli, die er seit jener Zeit noch immer bewohnte und wo er fünf Monate nach meinem Besuch verschied.
Zuerst war ich natürlich misstrauisch, doch als der »Perser« mir mit kindlicher Offenherzigkeit alles erzählt hatte, was er selbst von dem Phantom wusste, und nachdem er mir alle Beweise, besonders aber die Korrespondenz Christine Daaés zur Verfügung gestellt hatte – Briefe, die volles Licht auf ihr entsetzliches Schicksal warfen –, war für mich kein Zweifel mehr möglich. Nein! Nein! Das Phantom war mehr als ein Märchen.
Ich weiß wohl, man wandte ein, dass die ganze Korrespondenz vielleicht gefälscht und möglicherweise in ihrem ganzen Umfang von jemandem fabriziert worden sei, dessen Einbildungskraft natürlich von den verführenden Anekdoten genährt wurde, doch es ist mir glücklicherweise gelungen, die Handschrift Christines auch außer diesem interessanten Briefbündel aufzufinden, was mich instand setzte, einen Vergleich anzustellen, der alle meine Bedenken zerstreute.
Schließlich kam noch die Aufforderung hoher Persönlichkeiten hinzu, die zur Affäre Chagny in engerer oder weiterer Beziehung standen oder mit der Familie befreundet waren, denen ich alle meine Dokumente vorgelegt, alle meine Beweismittel entrollt hatte. Ich habe von vielen Seiten die herzlichsten Ermutigungen erhalten und werde mir erlauben, an dieser Stelle einige Zeilen wiederzugeben, die der General D. seinerzeit an mich schrieb:
»Mein Herr!
Ich kann Ihnen nicht lebhaft genug zureden, die Resultate Ihrer Nachforschungen der Öffentlichkeit zu übergeben. Ich erinnere mich sehr wohl, dass einige Wochen vor dem Verschwinden der großen Sängerin Christine Daaé und vor der Tragödie, die im ganzen Faubourg Saint-Germain betrauert worden ist, im Foyer de la Danse viel von dem Phantom gesprochen wurde, und glaube, dass man auch nach dieser Affäre, die jedermann beschäftigte, viel davon gesprochen hat. Doch nun, da ich Ihren Ausführungen gefolgt bin, scheint es mir möglich, den Fall durch die Existenz des Phantoms zu erklären, und ich bitte Sie, mein Herr, uns noch mehr, uns alles über das Phantom zu entdecken. So geheimnisvoll dieses zu Anfang erscheinen mochte, es wird immer noch eher erklärlich sein als diese dunkle, von übelwollenden Menschen erfundene Geschichte, die uns weismachen will, dass zwei Brüder, die ihr ganzes Leben lang ein Herz und eine Seele gewesen waren, plötzlich zu erbitterten Todfeinden werden konnten.
Ich zeichne …«
Ich durchstreifte also aufs Neue, mein Aktenmaterial in der Hand, die weite Domäne des Phantoms, den furchtbaren Schauplatz, den es zu seinem Reich gemacht hatte, und alles, was meine Augen erblickten, alles, was mein Verstand entdeckte, bekräftigte in bewunderungswürdiger Weise die Dokumente des »Persers«, als ein höchst erstaunlicher Fund meine Arbeiten endgültig krönte.
Man erinnert sich, dass vor Kurzem, als man den Untergrund der Oper aufgrub, um die phonographischen Aufnahmen der Künstler dorthin zu leiten, die Hacke der Arbeiter einen Leichnam ans Licht förderte. Nun hatte ich mit einem Schlag den Beweis, dass dieser Leichnam der des Phantoms der Oper war!
Ich ließ diesen Beweis sogleich von dem Verwalter selbst überprüfen, und nun ist es mir gleichgültig, wenn selbst die Zeitungen berichten, man habe ein Opfer der Kommune aufgefunden.
Die Unglücklichen, die zur Zeit der Kommune in den Kellerräumen der Oper erschlagen worden waren, liegen keineswegs dort begraben. Es ist mir bekannt, wo man ihre Skelette finden kann: weit entfernt von dieser unermesslichen Gruft, wo man während der Belagerung alle möglichen Mundvorräte aufgespeichert hatte. Gerade durch die Suche nach den Überresten des Phantoms war ich auf diese Fährte gekommen und hätte sie ohne diesen unerhörten Zufall der Eingrabung menschlicher Stimmen niemals entdeckt.
Doch wir werden später noch auf diesen Leichnam zu sprechen kommen und auf alles Übrige, was mit ihm zusammenhängt. Nun aber möchte ich dieses Vorwort damit beenden, dass ich meinen allzu bescheidenen Komparsen herzlich danke, die mir eine so wertvolle Stütze waren und mit deren Hilfe es mir gelingen wird, vor den Augen des Lesers all diese Stunden der reinsten Liebe und des Schreckens bis in ihre kleinsten Details wiederaufleben zu lassen. Und das sind vor allem: der Herr Polizeibeamte Mifroid (der seinerzeit beim Verschwinden der...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2022 |
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Übersetzer | Rudolf Brettschneider |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2022 • Buch zum Musical • Christine • Christine Daaé • Dark Romance • eBooks • Engel der Musik • Erik • Französische Literatur • Französischer Klassiker • Geige • Horrorklassiker • katakomben paris • Klassiker des Horrorgenres • klassischer Schauerroman • Kriminalroman • Liebesgeschichte • Loge 5 • Loge Nr. 5 • Mord in der Oper • Musik • Neuerscheinung • Oper • Opernklassiker • Opernsängerin • Opernstar • Original zum Musical • Paris • Paris 19. Jahrhundert • Pariser Opéra Garnier • Polizeibericht • Raoul, Vicomte de Chagny • Roman Pariser Oper • Romantasy • Roter Tod • Schauergeschichte • Schauerroman • spicy books |
ISBN-10 | 3-641-29760-5 / 3641297605 |
ISBN-13 | 978-3-641-29760-2 / 9783641297602 |
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