Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss (eBook)

Essays | Hochwertig ausgestatteter Band der Preisträgerin des Deutschen Buchpreises 2021
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491644-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss -  Antje Rávik Strubel
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Was ist das für eine Gesellschaft und was fehlt? Essays der Preisträgerin des Deutschen Buchpreises Antje Rávik Strubel Pointiert nimmt Antje Rávik Strubel die aktuelle gesellschaftliche Lage unter die Lupe. Mit engagierter und zugleich poetischer Stimme widerspricht sie dem Gezerre und Gezeter. Sie plädiert für einen spielerischen, abenteuerlichen, wagemutigen Umgang mit Sprache, für ein emphatisches und aufmerksames Miteinander und eine Vielfalt der Lebens- und Liebesweisen. Sie erzählt von Virginia Woolf und Selma Lagerlöf, von dem Griff nach den Sternen und dem Aufbruch ins Unbekannte. Diese kritischen, literarischen und persönlichen Reden und Essays spannen den Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts zum Beginn des 21. Jahrhunderts und blättern mit dem nötigen feministischen Hintersinn andere Seiten der gesellschaftlichen Landkarte auf.

Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Fremd Gehen. Ein Nachtstück« (2002), »Tupolew 134« (2004) sowie den Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens« (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Blaue Frau« wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essayband »Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss«. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)

Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Fremd Gehen. Ein Nachtstück« (2002), »Tupolew 134« (2004) sowie den Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens« (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Blaue Frau« wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essay-Band »Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss«. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)

Rávik Strubels Essays und Reden haben, wie dieser Band beweist, etwas Spielerisches, sind aber auch dringlich, engagiert, stets feministisch grundiert. Kurzum: eine lohnende Lektüre.

Die frauenbewusste, kluge Antje Rávik Strubel hat 16 erhellende Essays geschrieben [...] Und Strubel hat etwas zu sagen.

Woolfs Erbe


Eine junge Frau im roten Kleid und mit Pilotensonnenbrille möchte ein Foto von sich am sommerlichen Gewässer. Bevor ihr Begleiter auslöst, ruft sie: »Warte! Ich möchte ein Bild ohne deinen Schatten auf mir.« Diese Szene ereignet sich am Darßer Hafen von Born. Auf der Bank nebenan sitzen drei ältere Männer. Wir schauen gemeinsam zum Bodden. Der Mittlere monologisiert seit einer Weile über deutsche Universitäten, an denen alles mit einer Genderideologie durchtränkt sei. »Eine übereifrige Sprachpolizei«, erbost er sich, »will statt der Bezeichnung ›Professorin‹ oder ›Professor‹ lieber ein X ans Ende des Wortes setzen. Absurd!«

Es ist der Sommer 2019. Eine Zeit, in der Frauenfeindlichkeit wieder spürbarer und oft unverhohlen geäußert wird. In der sich eine nach rechten und rechtskonservativen Mustern genormte Männlichkeit aggressiver äußert und in mehr als einem europäischen Land nationalistische Mauern errichten will. Zugleich ist es die Zeit eines global erstarkenden Feminismus. Eine Zeit, in der der Feminismus die weltweit stärkste ungehorsame Kraft zu sein scheint und angstfreie junge Frauen keine Lust mehr auf die Welt der »Mad Men« haben. Es ist der Sommer nach #metoo. Ich staune über die Männer neben mir auf der Bank. Sie wirken gebildet, und doch scheint ihnen nicht der Gedanke zu kommen, dass Genderideologie keine neue Erfindung ist. Dass menschliche Gesellschaften, seit es sie gibt, nicht nur von Geschlechterideologien durchdrungen sind, sondern von ihnen überhaupt erst hervorgebracht werden. Es gibt keine Gesellschaft ohne Geschlecht und damit verbundener Hierarchien des Ein- und Ausschließens, so wenig wie es die Menschen, die diese Gesellschaften sind, oder die Sprache, in der sie sich über ihre Gesellschaft verständigen, ohne geschlechtliche Zuschreibungen gibt. Gesellschaft, Körper und Sprache sind fabriziert. Und doch scheinen diese offenbar gebildeten Männer zu glauben, es hätte, als die männliche Berufsbezeichnung die dominierende war, eine irgendwie neutrale oder natürliche geschlechtsfreie, quasi vegetative, wie Algen am Boddengrund gewachsene Sprache gegeben, die erst jetzt von ein paar besserwisserischen, politisch korrekten Freaks verstümmelt werden soll. Sie schauen wie ich zum Wasser und sehen doch nur ihre eigene Spiegelung.

Aber so ist das, denke ich, als die Frau im roten Kleid einen beschwingten Schritt in ihr Foto hineinmacht, auf dem sie ohne den Schatten des Mannes zu sehen sein wird: Wenn das Ich so monumental und ungebrochen vor der Welt steht, dass die Welt und ihre Vielfalt nicht mehr zu sehen sind, sitzt man leicht einer Verwechslung auf und hält dieses Ich für ihren natürlichen Ausdruck.

Das X führt keine Ideologie in eine scheinbar ideologiefreie, paradiesische Zone ein, sondern steht für einen Systemwechsel. Die fabrizierte Ordnung eines alle dominierenden Geschlechts hat sich verbraucht. 2000 Jahre haben sie ausgelaugt, was sich an der eintönigen Wiederholung immer gleicher Lösungsansätze auf allen Feldern des Gesellschaftlichen zeigt. Das ist es, was die Männer auf der Bank erbost. Die Veränderung bringt sie aus der Fassung.

»Frauen haben in all diesen Jahrhunderten als Spiegel gedient, ausgestattet mit der magischen und köstlichen Kraft, die Gestalt des Mannes doppelt so groß wiederzugeben. Ohne diese Kraft wäre die Erde sicher noch Sumpf und Dschungel«, schreibt Virginia Woolf in ihrem polemischen, radikalen Essay »Ein Zimmer für sich allein«. Im Moment fallen mir zu den verschiedensten Gelegenheiten Sätze von Virginia Woolf ein. »Das Abbild im Spiegel ist von höchster Wichtigkeit, weil es die Lebenskraft auflädt, es stimuliert das Nervensystem. Nimm es weg, und der Mann könnte sterben, wie der Drogensüchtige, dem das Kokain entzogen wird«, schreibt sie weiter.

Der Sommer 2019 ist der Sommer, in dem Woolfs Essay seit 90 Jahren in der Welt ist. Sie veröffentlichte ihn 1929 auf der Grundlage zweier Vorträge, die sie zuvor an der Universität Cambridge vor Studentinnen gehalten hatte; am Girton und am Newnham College, deren Namen sie im Essay zu dem fiktiven Fernham verschmilzt. Während Deutschland die Jubiläen großer Männer feiert, Fontane, mal wieder Humboldt, begehe ich einen großen Virginia-Woolf-Sommer. Zunächst zögerte ich, als mir die Übersetzung dieses Essays angetragen wurde. Zu große Ehrfurcht vor dieser visionären, sprachgewaltigen Schriftstellerin, die Jahrhundertwerke wie »Zum Leuchtturm«, »Die Wellen« oder »Mrs Dalloway« geschaffen hatte, und mangelndes Hintergrundwissen – die Literatur im England des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hatte ich im Studium nur gestreift – erschienen mir nicht als die besten Voraussetzungen zum Übersetzen.

»Mit etwas Zeit und etwas Bücherwissen im Kopf«, befindet Virginia Woolf mit der ihr eigenen feinen Ironie, »sollten Sie auf jeden Fall zu einer weiteren Etappe Ihrer sehr langen, sehr mühevollen und höchst undurchsichtigen Laufbahn aufbrechen.« Da hatte sie recht. Das war nicht nur eine für sie typische Zuspitzung, das war eine Einladung! Und eine Einladung Virginia Woolfs schlägt man nicht aus. Zumal ich längst von der Zwanglosigkeit und Offenheit ihres Essays ergriffen war, von dieser Unbeirrtheit des Denkens, der Gegenwärtigkeit und Genauigkeit ihrer Analyse, der Zeitlosigkeit, Dynamik und Verspieltheit ihrer Sprache und einer Eleganz des Stils, die die bisherigen deutschen Übersetzungen, so korrekt sie sind, nur bedingt wiedergeben. Das war es, was mich antrieb.

Woolfs erfahrungs- und wissensgesättigter Witz, ihr beißender Spott rissen mich hinein in den Strom ihrer Gedanken, und der Strom ist es, der dem Essay seine unverwechselbare Form gibt. Als Metapher angelt Woolf ihn aus dem Konkreten: Der Fluss, an dem sie sinnend sitzt, veranschaulicht ihre assoziative Denkbewegung, und später lässt sie den Gedankenstrom wieder zurückgleiten wie den imaginären Fisch ins Konkrete, in den Verkehrsfluss, in dem ein Taxi Mann und Frau gemeinsam davonträgt als Veranschaulichung des androgynen Geistes der Schriftstellerin. So spielend gewinnt sie aus dem Gegenstand Gedanken und führt sie zurück zum Gegenstand.

Ihr Vortrag, warnt sie ihre Zuhörerinnen gleich zu Beginn, lasse »das große Problem der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur ungelöst. Ich habe mich vor der Aufgabe, in diesen beiden Fragen zu einem Schluss zu kommen, gedrückt – Frauen und Literatur bleiben, was mich betrifft, ungelöste Probleme.«

Das ist mehr als die rhetorische Replik der Essayistin, zunächst das eigene Scheitern zu thematisieren, um dann frei von der Last der Gelingenserwartung in einen umso gewagteren Denkversuch zu starten. Schon hier blitzt das feine, funkelnde Lächeln auf, das über dem gesamten Vortrag liegt. Woolf wurde darum gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen, in der Annahme, eine wie auch immer geartete »Natur der Frau« führe zu einer andersgearteten »weiblichen Literatur«, die von der eigentlichen, der »richtigen« Literatur, abweiche, womit die der Männer gemeint war. Nur: Ist das Problem der wahren Natur der Frau vielleicht gar nicht ihres?

Als »Kinkerlitzchen« beschrieb Woolf einmal ihren Text, der neben »Drei Guineen«, dem pazifistisch-feministischen Großessay von 1939, zu den politischsten Äußerungen einer Schriftstellerin zählt, die alles Politische rigoros aus dem literarischen Erzählen und der ästhetischen Vision herausgehalten wissen wollte. Ihrem glänzenden Understatement fügt sie hinzu: »Aber ich schrieb es mit Leidenschaft und Überzeugung.«

Mit Leidenschaft und Überzeugung geschriebene Kinkerlitzchen stellen, wenn schon keinen Widerspruch, so doch eine Ambivalenz dar, die Selbstironie und Selbstreflexion Raum bietet: Virginia Woolf war sich bewusst, dass ihre mutigen Thesen auf eine Öffentlichkeit trafen, die noch allzu geschult darin war, Frauen als Eigentum des Mannes zu betrachten und schreibende Frauen als Gegenstand von Hohn und Spott. Erst seit 1882 durften Frauen in England Eigentum besitzen, seit 1918 einen Beruf ausüben und wählen. Trotz ihres literarischen Ansehens hatte Woolf allen Grund zur Befürchtung, »als Feministin angegriffen und als Saphistin hingestellt«, nicht ernst genommen zu werden, und spielt die Wichtigkeit des Vortrags im Allgemeinen herunter, indem sie seine persönliche Bedeutung betont.

Persönlich bedeutsam war dieser große Essay in mehr als einer Hinsicht: 1928, als Woolf ihre Vorträge in Cambridge hielt, hatte sie im September eine Woche allein mit der Dichterin, Journalistin und Gartenarchitektin Vita Sackville-West in Frankreich verbracht. Die intensive Beziehung, die Entdeckung der Leidenschaft und des sexuellen Begehrens für diese Frau mögen Woolfs Blick geschärft haben und befeuerten ihren großen Roman »Orlando«, der im Oktober desselben Jahres erschien und von Vita Sackville-Wests Sohn nicht von ungefähr als »längster Liebesbrief der Literaturgeschichte« bezeichnet wurde. Darin verkörpert Orlando, junger Edelmann des 16. Jahrhunderts, der nach einer Zeiten-, Welten- und Geschlechterreise als junge Frau im Jahre 1928 ankommt und Schriftstellerin wird, genau jenes androgyne Wesen, das Woolf vor den Studentinnen der Colleges zur Voraussetzung literarischen Schaffens erklärte.

Bei einer Schriftstellerin, deren Flussbett des Denkens derart...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Astrid Lindgren • Deutscher Buchpreis • Essay • Feminismus • Frauenwahlrecht • Gendersternchen • Gertrude Stein • Potsdam • Rede • Selma Lagerlöf • Theodor Fontane • Virginia Woolf • Vita Sackville-West
ISBN-10 3-10-491644-6 / 3104916446
ISBN-13 978-3-10-491644-6 / 9783104916446
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