Frau Holles Labyrinth (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022
432 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-29564-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frau Holles Labyrinth - Stefanie Lasthaus
Systemvoraussetzungen
13,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Als Mary zum einundzwanzigsten Geburtstag ihrer jüngeren Schwester Moira nach Hause aufs Land fahren muss, ist sie nicht gerade begeistert. Nach dem Tod der Eltern sind die beiden Schwestern bei ihrer strengen Tante aufgewachsen, die Moira immer bevorzugt hat. Als diese zum Geburtstag nun auch noch die Kette ihrer verstorbenen Mutter bekommt, ist Mary zutiefst verletzt. Die Schwestern geraten in einen Streit, bei dem das Amulett in den Brunnen im Garten ihrer Tante fällt. Mary bleibt nichts anderes übrig, als hinterherzuklettern. Doch als sie unten ankommt, ist sie nicht mehr in ihrer Welt, sondern in Frau Holles Labyrinth - einem düsteren, gnadenlosen Reich, in dem die Menschen keine Erinnerungen mehr an das haben, was ihnen einst lieb war. Für Mary beginnt ein brutaler Kampf ums Überleben ...

Stefanie Lasthaus wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach dem Studium zog es sie nach Australien, England sowie in die Schweiz. Zurück in Deutschland, widmete sie sich zunächst dem Dokumentationsfilm und schließlich ganz dem Schreiben - ob für Zeitungen, Zeitschriften, Onlinespiele, dem PR-Bereich oder als Autorin ihrer Romane. Da sie nur noch temporär durch die Welt reisen kann, besucht sie in ihren Büchern Gegenden, die sie faszinieren. Stefanie Lasthaus schreibt auch unter dem Pseudonym Hannah Luis und lebt in Essen.

1

Das fünfte Rad

Der Pontiac wackelte, als ein Truck über die Landstraße donnerte und Mary aus ihren Gedanken riss. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die dreckige Windschutzscheibe, auf die sie Schnörkel um ein großes Fragezeichen gemalt hatte, ohne es zu merken. Das fasste die Situation perfekt zusammen. War es eine gute Idee gewesen, herzukommen?

Sie seufzte, als es auf dem Beifahrersitz brummte – wie eine Mahnung, doch endlich auszusteigen. Auf dem Weg aus der Stadt hierher war ein Polizeiwagen an ihr vorbeigezogen, mit blinkenden roten und blauen Lichtern auf dem Dach. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass die Officers abbremsten, um einen Blick durch ihr Fenster zu werfen, und damit gerechnet, angehalten und abgeführt zu werden. In Handschellen vor einen mies gelaunten Sheriff mit Stetson gezerrt zu werden, der stoisch seinen Donut in den Kaffee tunkte, während er ihr Fragen stellte. Aber der Wagen war weitergefahren, vermutlich zu einer Schießerei in einem der Vororte.

Neben ihr brummte es erneut. Sie hatte ihr Handy auf Vibrationsalarm gestellt, da sie geahnt hatte, dass Jonah versuchen würde, sie zu erreichen. Und sie hatte recht behalten: zehnmal auf der Fahrt und dreimal, seit sie geparkt hatte. Während sie den Blick starr in den Himmel gerichtet hielt, zählte sie mit. Sie wusste, dass sie Mist gebaut und die Absprache mit ihm gebrochen hatte.

Ich stelle dich ein, wenn du deine Fähigkeit nicht für private Zwecke missbrauchst.

Das war lange Zeit gut gegangen. Doch nachdem die Auftragslage mies war, auf ihrem Konto seit Monaten Ebbe herrschte und ihr niemand mehr eingefallen war, von dem sie sich gefahrlos Geld leihen konnte, hatte sie ihr Versprechen beiseitegeschoben und ihr spezielles Talent auch ohne einen Auftrag von Locking Bird genutzt – Jonahs Schlüsseldienst. Es war so einfach, und vor allem ging es schnell. Sie musste die Finger lediglich auf das Schloss legen, sich kurz konzentrieren, und schon sprang es auf.

Sie war alles andere als stolz. Vielmehr schämte sie sich für ihren ersten Einbruch – den einzigen in ihrem Leben. Noch einmal würde sie eine solche Dummheit nicht begehen. Es war ein Fehler gewesen, und wie es aussah, musste sie demnächst dafür büßen. Die Polizei sämtlicher Bundesstaaten besaß eine Liste mit Leuten wie ihr: Personen, die über ein entsprechendes Talent verfügten und in öffentlichen Dienstleistungen tätig waren. Jonah hatte sie bei ihrer Einstellung melden müssen, als Absicherung, falls sie irgendwann mehr als die gebuchten Schlösser zur gebuchten Zeit öffnete. Ihre magische Fähigkeit war nützlich, machte sie aber auch schnell verdächtig.

Nachdem der Einbruch zur Anzeige gebracht worden war, hatte sich die State Police offenbar schnell bei Jonah gemeldet und ihm gedroht, und er gab das nun an sie weiter. Es war sein gutes Recht. Irgendwann musste sie das mit ihm klären, das war ihr klar. Aber nicht jetzt. Erst einmal wollte sie sich für eine Weile zurückziehen. Untertauchen und mit niemandem über das Problem reden, so, wie sie es am liebsten tat. Mary rieb über ein Loch in ihrer Jeans, spürte die ausgefransten Ränder unter ihren Fingern. Egal, wohin sie sich drehte, aus jeder Richtung zeigte das Leben ihr den Mittelfinger.

Ihr Handy vibrierte zweimal kurz. Eine Textnachricht. Mary gab sich geschlagen und las sie.

Glaub nicht, dass ich weniger sauer bin, wenn du Zeit schindest. Im Gegenteil, je öfter ich darüber nachdenke, desto wütender bin ich, Marybeth. Mit anderen Worten: Ich bin stocksauer. Schwing deinen Arsch in mein Büro.

Sie wusste genau, wie er jetzt aussah. Jonahs Gesicht wurde puterrot, wenn er sich aufregte, und mit geballten Fäusten und seinen blondierten Haaren erinnerte er an ein wütendes Kind, was aber vor allem an seiner Körpergröße lag. Ihr Auftraggeber war gerade einmal einen Meter dreiundsechzig – ein weiterer Grund, der ihn oft wütend machte –, aber andererseits eben auch ihr Boss. Er konnte sie jederzeit feuern, und sie vermutete, dass er ebenfalls dafür sorgen konnte, dass sie in seinem Metier keinen Fuß mehr auf den Boden bekam. Zumindest in diesem Bundesstaat. Falls die Polizei sich nicht bereits darum kümmerte.

Es war völlig okay, wenn er sich aufregte, aber sie durfte ihn sich nicht zum Feind machen. Was bedeutete: Sie musste ihm zumindest eine kurze Antwort schicken. Ihn nur ein wenig besänftigen, ohne sich in lange Diskussionen zu stürzen. Sie überlegte eine Weile und starrte auf ihre Finger, während sie im Kopf etwas möglichst Diplomatisches vorformulierte.

Hey, Jonah. Du hast recht, wir müssen dringend reden, und dann kann ich dir alles erklären. Aber übers Telefon ist das etwas unglücklich, und ich bin gerade nicht in der Stadt. Dringende Familienangelegenheiten, die ich nicht aufschieben kann, so gern ich es auch tun würde. Bin am Montag zurück und komme dann als Erstes bei dir vorbei, versprochen. Grüße, Marybeth.

Das war nicht mal gelogen, auch wenn sie noch bis gestern Nachmittag nicht im Traum daran gedacht hatte, zum Einundzwanzigsten ihrer Schwester aufzutauchen. Unter anderen Umständen hätte sie wie sonst eine kurze Nachricht geschickt oder allerhöchstens angerufen, weil mehr auch nicht gewünscht war. Aber die Sache mit dem Einbruch hatte Moiras Geburtstag in ein anderes Licht gerückt. Plötzlich war es eine großartige Idee gewesen, die Kleine nach all den Jahren zu drücken – obwohl Mary sich damals geschworen hatte, nie wieder einen Fuß auf Tante Eves Grundstück und in ihr Haus zu setzen, wo Moira noch immer lebte.

Aber man konnte nicht jeden Schwur halten. Ohnehin war es dämlich, überhaupt zu schwören, da man nie wusste, welche Spielchen die Zukunft bereithielt. Und niemand konnte verlangen, dass man den Kopf in der Schlinge ließ, nur weil man irgendwann ein paar unbedachte Worte ausgesprochen und dabei eine Hand auf sein Herz gelegt hatte.

Jonahs Antwort kam fast sofort, und Mary drückte sie weg. Ein Problem nach dem anderen. Erst einmal musste sie sich damit herumschlagen, wieder zurück in ihrem alten Zuhause zu sein. Es war ein seltsames Gefühl. Als hätte sie einen Kampf verloren, der so lange angedauert hatte, dass sie nicht mehr wusste, wie man Dinge begrub. Vielleicht sollte sie Tagebuch führen, um ihre verqueren Gedanken irgendwo zu sammeln.

Haha.

»Nicht fair«, murmelte sie. Sieben Jahre hatte sie keinen Fuß hierhergesetzt und geglaubt, dass die Vergangenheit auf dem Land in ihren Erinnerungen verblasst war. Nun stellte sie fest, dass es nur wenige Augenblicke gebraucht hatte, und alles war wieder da. So als wäre sie nie weggezogen.

Sie fluchte, um sich zu vergewissern, dass ihre Stimme anders klang als früher und sich nicht in die der jüngeren Mary verwandelt hatte. Seufzend klappte sie die Blende herunter und musterte sich in dem kleinen Spiegel. Ja, das war eindeutig sie, nicht mehr ihr sechzehnjähriges Ich mit Haaren bis zum Hintern und irgendeiner grellen Lippenstiftfarbe, die sie damals so gern ausprobiert hatte. Heute trug sie ihr Haar schulterlang, dunkelblond statt aufgehellt, und verzichtete in den meisten Fällen ganz auf Make-up. Vielleicht wirkten ihre Augen deshalb so dunkel, mehr schiefergrau als braun, und auch ein wenig müde. »Das schaffst du«, murmelte sie und rieb über ihren Nasenrücken, als könnte sie die wenigen Sommersprossen dort auslöschen und jemand anderes werden.

Ein Miauen von der Rückbank des Wagens riss sie aus ihren Gedanken. Mary drehte sich um und musterte Miss Kraski, die einzige ihr bekannte Katze, die nach jedem Nickerchen mit Bad Hair aufwachte. Ihr niedliches Gesicht sah momentan aus wie eine schwarz-weiße Sonne, der ein paar Strahlen abhandengekommen waren.

»Ja, wir sind da, meine Süße. Zurück in der Löwenhöhle, die du ja noch gar nicht kennst, hm?« Sie streckte sich und strich ihrer Katze zärtlich über den Rücken, tastete die Narbe der Hüft-Operation unter dem Fell entlang. Das Tier gähnte, schmiegte sich kurz an ihre Hand und wandte ihr dann das Hinterteil zu. Mary konnte es Miss Kraski nicht verdenken. Sie brauchte nach dem Aufwachen immer eine Weile, bis man sie ansprechen durfte. In der Hinsicht waren sie Schwestern im Geiste. Außerdem war es besser, wenn ihre fellige Freundin ausgeruht und entsprechend lieb und anschmiegsam war. So konnte sie tun, was Katzen nun einmal taten – für Entzücken sorgen sowie dafür, dass die Stimmung zwischen Mary, Moira und Tante Eve halbwegs erträglich blieb. Denn genau das bereitete ihr Kopfzerbrechen. Es würde schwer werden. Wenn sie Glück hatte. Wenn nicht … Nun. Mit schwer konnte sie umgehen. Mit unerträglich nicht, und die Grenze zwischen beidem konnte bei Tante Eve innerhalb von Sekundenbruchteilen und ohne Warnung überschritten werden.

So war es schon damals gewesen. Bei ihr, nicht bei Moira. Tante Eve hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre ältere Nichte als Last empfand und am liebsten hinausgeworfen hätte. Es wäre vielleicht einfacher für Mary gewesen, den Grund zu erfahren, aber Tante Eve hatte nie darüber geredet – und sie sich nicht getraut, zu fragen. Stattdessen hatte sie sich daran gewöhnt, in einem Haus, in dem sie zu dritt wohnten, völlig allein zu sein. Im Grunde hatte es sie perfekt für das Leben vorbereitet: Man war am sichersten, wenn man sich an niemanden band und sich auf niemanden verließ außer auf sich selbst. Und vielleicht eine Winzigkeit auf Miss Kraski, bei der sie immerhin wusste, dass sie ab und zu eine Pfote ins Gesicht bekam, einfach weil der Katze danach...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte 2022 • Christina Henry • Die Chroniken von Alice • Düstere Fantasy • eBooks • Erinnerungen • Fantasy • Frau Holle • Gebrüder Grimm • Magie Abenteuer • Märchenadaption • Märchenbuch • Neuerscheinung
ISBN-10 3-641-29564-5 / 3641295645
ISBN-13 978-3-641-29564-6 / 9783641295646
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich