Zum Leuchtturm. Roman (eBook)

Neu übersetzt von Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel – »Bei weitem das beste meiner Bücher« Virginia Woolf

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
288 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-28824-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zum Leuchtturm. Roman - Virginia Woolf
Systemvoraussetzungen
5,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Eine schottische Hebrideninsel, ein Landhaus an einem Sturmtag. Die Familie Ramsay und ihre Gäste verschieben die für den nächsten Tag geplante Fahrt zum Leuchtturm auf den nächsten Sommer. Doch es werden zehn Jahre vergehen, bis der Ausflug gelingt. In dieser Zeit ist nicht nur die Welt eine andere geworden, auch in der Familie ist nichts mehr wie zuvor, denn zwischen den Besuchen liegen der große Krieg und viele Schicksalsschläge.

Virginia Woolfs einzigartiger, moderner Roman - neu übersetzt von der Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 in London geboren und wuchs im großbürgerlichen Milieu des viktorianischen Englands auf. Ihr Leben war geprägt von wiederkehrenden psychischen Krisen. 1912 heiratete sie Leonard Woolf. Zusammen gründeten sie 1917 den Verlag 'The Hogarth Press'. Ihr Haus war eines der Zentren der Künstler und Literaten der Bloomsbury Group. Am 28. März 1941 nahm Virginia Woolf sich, erneut bedroht von einer Verdunkelung ihres Gemüts, das Leben.

1


»Ja, natürlich, wenn es morgen schön ist«, sagte Mrs Ramsay. »Aber du musst mit den Hühnern aufstehen«, fügte sie hinzu.

In ihrem Sohn lösten diese Worte eine außerordentliche Freude aus, als stehe fest, dass dieser Ausflug ganz bestimmt stattfinden werde und das Wunder, auf das er sich gefreut hatte, seit Jahren und Jahren, wie es schien, nach dem Dunkel einer Nacht und einem Tag Segeln in Reichweite sei. Da er, schon im Alter von sechs Jahren, zu jener großen Sippe gehörte, die ein Gefühl nicht vom anderen unterscheiden kann, aber akzeptiert, dass Zukunftsaussichten mit ihren Freuden und Leiden das verdüstern, was tatsächlich da ist, da für solche Menschen schon in frühester Kindheit jede Drehung am Rad der Empfindungen die Macht besitzt, den ­Augenblick kristallisieren und erstarren zu lassen, auf dem ihre Düsternis oder ihr Strahlen beruht, versah James Ramsey, der auf dem Fußboden saß und Bilder aus dem illustrierten Katalog der Army and Navy Stores ausschnitt, das Bild eines Kühlschranks mit himmlischer Glückseligkeit, während seine Mutter sprach. Freude umkränzte es. Die Schubkarre, der Rasenmäher, das Geräusch von Pappeln, Blätter, die heller werden vor dem Regen, krächzende Krähen, klopfende Besen, raschelnde Kleider – all das war in seiner Vorstellung so farbenfroh und deutlich, dass er schon seinen privaten Code, seine Geheimsprache dafür besaß, obwohl er den Eindruck schierer und kompromissloser Ernsthaftigkeit erweckte mit seiner hohen Stirn und seinen wilden blauen Augen, makellos offen und rein, die sich angesichts menschlicher Schwäche ein wenig verfinsterten, sodass seine Mutter, die ihn dabei beobachtete, wie er seine Schere geschickt um den Kühlschrank herumführte, ihn schon ganz in Rot und Hermelin auf der Richterbank vor sich sah oder wie er ein beachtliches und gewichtiges Unternehmen durch eine gesellschaftliche Krise steuerte.

»Aber«, sagte sein Vater und blieb vor dem bodentiefen Salonfenster stehen, »es wird nicht schön.«

Wäre eine Axt greifbar gewesen, ein Schürhaken oder irgendeine andere Waffe, die ein Loch in die Brust seines Vaters hätte schlagen und ihn töten können, hier und jetzt, hätte James sie ergriffen. So extrem waren die Gefühle, die Mr Ramsay durch seine bloße Gegenwart in der Brust seiner Kinder auslösen konnte; wenn er, wie jetzt, schlank wie ein Messer und schmal wie die Klinge desselben, sarkastisch grinsend dastand, nicht nur vor Vergnügen daran, seinen Sohn zu ernüchtern und seine Frau lächerlich zu machen, die in jeder Hinsicht tausendmal besser war als er (fand James), sondern auch aus irgendeinem heimlichen Stolz auf die Korrektheit seines Urteils. Was er gesagt hatte, war richtig. Es war immer richtig. Zu etwas Unwahrem war er nicht fähig; er verfälschte nie eine Tatsache; änderte nie ein unangenehmes Wort zugunsten der Freude oder Annehmlichkeit ­irgendeines sterblichen Wesens, schon gar nicht der eigenen Kinder, die sich, seinen Lenden entsprungen, von klein auf darüber im Klaren sein sollten, dass das Leben schwierig war, die Tatsachen unhintergehbar und die Überfahrt zu jenem sagenhaften Land, wo unsere strahlendsten Hoffnungen ausgelöscht werden, unsere brüchigen Barken im Dunkel versinken (hier drückte Mr Ramsay den Rücken durch und richtete seine kleinen blauen Augen zusammengekniffen auf den Horizont), vor allem Mut, Wahrhaftigkeit und Durchhaltevermögen verlangte.

»Aber es könnte schön werden – ich denke, es wird schön«, sagte Mrs Ramsay und drehte den rotbraunen Strumpf, an dem sie gerade strickte, ungeduldig zu einer kleinen Spirale. Wenn sie ihn heute Abend fertig hätte und sie am Ende doch zum Leuchtturm fahren würden, dann sollte der Leuchtturmwärter ihn bekommen, für seinen kleinen Jungen, der möglicherweise an Hüftgelenkstuberkulose erkrankt war, zusammen mit einem Stapel alter Zeitschriften und etwas Tabak, im Grunde alles, was sie finden konnte an Dingen, die herumlagen und nicht wirklich gebraucht wurden, sondern nur das Zimmer verstopften, um den armen Teufeln, die sich zu Tode langweilen mussten, wie sie da den ganzen Tag he­rumsaßen und nichts zu tun hatten, als die Lampe zu putzen, den Docht zu stutzen und ihr Stückchen Garten zu harken, etwas zu geben, das sie unterhalten würde. Denn wie würde euch das wohl gefallen, für jeweils einen ganzen Monat ununterbrochen auf einem Felsen von der Größe eines Tennisplatzes eingesperrt zu sein und bei stürmischem Wetter möglicherweise noch länger?, fragte sie; ohne Briefe oder Zeitungen und ohne jemanden zu sehen; wenn man verheiratet war, die eigene Frau nicht zu sehen und nicht zu wissen, wie es den Kindern ging – ob sie krank waren, ob sie gestürzt waren und sich Arme und Beine gebrochen hatten; Woche für Woche nur denselben tristen Wellen dabei zuzuschauen, wie sie sich brachen, und dann käme ein schreck­licher Sturm und die Fenster wären mit Gischt überzogen und Vögel klatschten an die Lampe und der ganze Ort geriete ins Schwanken und man wäre nicht in der Lage, die Nase aus der Tür zu stecken aus Angst, ins Meer gefegt zu werden? Wie würde euch das gefallen?, fragte sie, wobei sie sich vor allem an ihre Töchter wandte. Also, fügte sie in völlig verändertem Tonfall hinzu, muss man ihnen alles mitbringen, was ihnen das Leben angenehmer macht.

»Er weht genau nach Westen«, sagte der Atheist Tansley und hielt seine knochigen Finger gespreizt, sodass der Wind hindurchblasen konnte, denn er beteiligte sich an Mr Ramsays Abendspaziergang die Terrasse auf und ab, auf und ab. Das heißt, der Wind blies aus einer der für die Landung am Leuchtturm ungünstigsten Richtungen. Ja, er sagte unangenehme Dinge, gestand sich Mrs Ramsay ein, es war abscheulich von ihm, James das unter die Nase zu reiben und seine Enttäuschung noch zu vergrößern, aber gleichzeitig würde sie es nicht zulassen, dass sie über ihn lachten. »Der Atheist«, nannten sie ihn, »der kleine Atheist«. Rose machte sich über ihn lustig, Prue machte sich über ihn lustig, Andrew, Jasper, Roger machten sich über ihn lustig; sogar der alte Badger, der keinen Zahn mehr im Mund hatte, machte bissige Bemerkungen darüber, dass er (wie Nancy sich ausdrückte) der hundertundzehnte junge Mann war, der sie bis hinauf zu den Hebriden verfolgte, wo es doch so viel schöner war, unter sich zu sein.

»Unsinn«, sagte Mrs Ramsay mit großer Strenge. Abgesehen vom Hang zur Übertreibung, den sie von ihr hatten, und von der Feststellung (die stimmte), dass sie zu viele Menschen gebeten hatte, zu bleiben, und einige im Ort hatte unterbringen müssen, konnte sie Unhöflichkeit ihren Gästen gegenüber nicht ertragen, am wenigstens gegenüber jungen Männern, die arm wie Kirchenmäuse waren, »außerordentlich begabt«, wie ihr Mann sagte, seine großen Bewunderer, und hierherkamen, um Ferien zu machen. In der Tat stand das gesamte andere Geschlecht unter ihrem Schutz, aus Gründen, die sie nicht erklären konnte, wegen ihrer Ritterlichkeit und Tapferkeit, wegen der Tat­sache, dass sie Staatsverträge aushandelten, Indien regierten, das Finanzwesen kontrollierten und schließlich auch wegen einer bestimmten Haltung ihr gegenüber, die jede Frau unweigerlich spürte oder als angenehm empfand, etwas Vertrauensvolles, Kindliches, Ehrfürchtiges, das eine alte Frau von einem jungen Mann entgegennehmen konnte, ohne ihre Würde zu verlieren, und wehe dem Mädchen – um Himmels willen keine ihrer Töchter! –, die den Wert all dessen und von allem, was es implizierte, nicht bis ins Mark empfand.

Streng wandte sie sich an Nancy. Er habe sie nicht verfolgt, sagte sie. Er sei eingeladen worden.

Sie mussten einen Weg finden, damit fertig zu werden. Vielleicht gab es einen einfacheren Weg, einen weniger mühsamen Weg, seufzte sie. Als sie in den Spiegel schaute und ihr graues Haar sah, ihre eingefallenen Wangen, mit fünfzig, dachte sie, dass sie die Dinge vielleicht besser hätte hand­haben können – ihren Mann, Geld, seine Bücher. Was sie selbst betraf, so bereute sie ihre Entscheidung nicht, ging Schwierigkeiten nicht aus dem Weg, versäumte keine ihrer Pflichten, nicht einmal für eine Sekunde. Sie sah jetzt respekteinflößend aus, und nur insgeheim konnten ihre Töchter – Prue, Nancy, Rose –, die von ihren Tellern aufschauten, nachdem sie in so strengem Ton über Charles Tansley geredet hatte, ihre abtrünnigen Ideen hegen, die sie für ihr eigenes Leben ausgebrütet hatten, das anders wäre als ihres; in Paris vielleicht, ein wilderes Leben, ohne sich ständig um diesen oder jenen Mann zu kümmern, denn sie alle stellten Fügsamkeit und Ritterlichkeit, die Bank of England und das Indische Imperium, beringte Finger und Spitze stumm in Frage, obwohl darin für sie alle etwas vom Wesen der Schönheit enthalten war, das die Männlichkeit in ihren mädchenhaften Herzen ansprach und das sie, während sie unter den Augen ihrer Mutter am Tisch saßen, dazu brachte, ihrer seltsamen Strenge und maßlosen Höflichkeit Anerkennung zu zollen, einer Königin würdig, die den schmutzigen Fuß eines Bettlers aus dem Dreck hebt und ihn wäscht, während sie sie ach so streng wegen des erbärmlichen Atheisten rügte, der sie verfolgt hatte – oder, um es präzise zu formulieren, eingeladen worden war, sie zu begleiten – zur Isle of Skye.

»Morgen kann man nicht am Leuchtturm anlegen«, sagte Charles Tansley und schlug die Hände zusammen, während er mit ihrem Mann am Fenster stand. Er hatte wirklich genug gesagt. Sie wünschte, die beiden würden sie und James in Ruhe lassen und ihr Gespräch fortsetzen. Sie sah ihn an. Er sei ein so jämmerliches Exemplar, sagten die Kinder, nur Haut und Knochen. Er könne nicht Kricket spielen, er stochere, er schiebe. Er sei ein sarkastischer...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2022
Übersetzer Antje Rávik Strubel
Sprache deutsch
Original-Titel To the Lighthouse
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Antje Ravic-Strubel • autobiografische Literatur • Autobiografischer Roman • Autorin der Moderne • bedeutendste britische Romane • Beginnendes 20. Jahrhundert • Bewusstseinsstrom • Booktok • eBooks • ein zimmer für sich allein • FemBuWo • Feminismus • FeministischeBuchwoche2023 • frauenlesen • Frauen lesen • Isle of Skye • Kanon der Weltliteratur • Kindheitserinnerungen • Klassiker der Moderne • Klassiker der Weltliteratur • Lily Briscoe • Longlist Deutscher Buchpreis • Longlist Deutscher Buchpreis 2021 • Moderne Literatur • Mrs Dalloway • Neuerscheinung • Neu übersetzt • Orlando • Ramsay Familie • Salman Rushdie • schottische Hebriden • weibliche Literatur • Weltliteratur Frauen • wir lesen frauen • wirlesenfrauen
ISBN-10 3-641-28824-X / 364128824X
ISBN-13 978-3-641-28824-2 / 9783641288242
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Iris Wolff

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
18,99