Outpost – Der Aufbruch (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023
448 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-28433-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Outpost – Der Aufbruch - Dmitry Glukhovsky
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Russland in der nahen Zukunft: Nach einem verheerenden Bürgerkrieg ist das riesige Land gespalten. Westlich der Wolga liegt das neue Zarenreich. Was im Osten noch übrig ist, weiß niemand. Der östlichste Außenposten des Reiches ist Jaroslawl, die Heimat des jungen Jegor. Ein Zug Soldaten, ausgeschickt vom Zaren, soll herausfinden, was im Außenposten passiert ist, nachdem zum ersten Mal seit Jahrzehnten jemand von Osten über die Wolga kam. Wenn Jegor seine Heimat retten will, muss er das um jeden Preis verhindern ...

Dmitry Glukhovsky ist ein russischer Schriftsteller und Dramatiker. 1979 in Moskau geboren, machte er seinen Abschluss an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er schreibt für die internationale Presse, darunter THE GUARDIAN, LA LIBERATION, DIE ZEIT und NOVAYA GAZETA. Glukhovsky ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter der Welterfolg »METRO 2033«. Seine Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt. Als entschiedener Kritiker des Putin-Regimes wurde Dmitry Glukhovsky zum »ausländischen Agenten« erklärt und 2023 von einem Moskauer Gericht in Abwesenheit zu 8 Jahren Haft verurteilt. Er lebt im Exil.

Instagram: @glukhovsky, Twitter: @glukhovsky, Facebook: @glukhovskybooks

EINS

»Sie waren mit Unterjessaul Krigow befreundet, nicht wahr, Juri Jewgenjewitsch?«

Oberst Surganow sieht Lissizyn freundlich, fast freundschaftlich in die Augen, aber der bleibt wachsam. Außerdem: Wieso »waren«?

Wenn einem der erste Mann der Armeespionageabwehr eine Frage stellt, muss man wohlüberlegt, aber in erster Linie schnell antworten. Lissizyn fällt gerade noch ein, dass der Oberst die richtige Antwort bereits kennt und mit der Frage nur seine Aufrichtigkeit testen will.

»Jawohl, Herr Oberstleutnant! Nur, warum ›waren‹? Wir sind doch immer noch befreundet.«

Er bemüht sich, Surganows fuchsartigem Blick standzuhalten, seinen erhobenen Augenbrauen, den nach oben gezogenen Mundwinkeln. Versucht einen ähnlichen Gesichtsausdruck – kameradschaftlich und höflich. Als hätte er keine Ahnung von den Säuberungsaktionen innerhalb der Armee, die Surganow befiehlt.

»Immer noch befreundet. Soso.«

Der Georgssaal im Großen Kremlpalast war erfüllt von dem Knarzen von Leder und heiserem Geflüster, vom Geruch des Rasierwassers der Offiziere, das wie Riechsalz in der Nase brannte, und dem süßlichen Duft von Tabak.

Man erwartete den Zaren.

Nur die goldenen Georgskreuze hoben sich von dem weißen Marmor der Wände ab. Von der Decke leuchteten riesige bronzene Lüster mit Hunderten von Kerzen, das spiegelglatte Fischgrätenparkett glänzte unter den Stiefeln. Vor den Wänden standen rote samtbezogene Bänke, aber sitzen durfte man darauf natürlich nicht; genauso wenig, wie man durch den Saal spazieren durfte. Nur von einem Bein aufs andere treten war erlaubt.

Seit anderthalb Stunden warteten sie schon. Wenn es sein musste, würden sie noch ewig warten: Stellung halten konnten die Kosaken.

»Jedenfalls, stell dir vor, sie war noch Jungfrau!«, flüstert Sascha Krigow Juri Lissizyn begeistert ins Ohr. »Was das angeht, hab ich echt Schwein, ich weiß auch nicht, wieso!«

»Du bist eben ein Romantiker«, flüstert Lissizyn zurück. »Die spüren, dass man sich so einem anvertrauen kann. Und wenn sie’s dann kapiert haben, ist die Falle schon zu.«

Lissizyn ist nervös, hat in der Nacht kaum geschlafen. Aber Krigow tut, als sei nichts.

»Die sind scharf auf die Uniform. Besonders auf die Mütze«, verrät Krigow. »Die muss im Café nur auf dem Tisch liegen, und sie schmelzen förmlich dahin. Die kommen ganz von allein.«

»Du hast bloß Glück. Wenn ich das Ding da hinlege, kommt nur die Polizei und fragt nach meinem Urlaubsschein. Von Weibern keine Spur.«

»Weil du vom Dorf bist, Jura. Ein Landei. Du würdest ihnen wahrscheinlich ein paar Sonnenblumenkerne anbieten, oder?«

»Ja, na und?«

»Nix und. Ich werd dir heut Abend mal zeigen, wie das hier in Moskau läuft. Wir gehen zu den guten Angelplätzen und werfen ein paar frische Köder aus!«

Die Tür fliegt auf, und in den Saal kommt der Truppenälteste gestampft, ein graubärtiger Kosak.

»Riiiicht’ euch! Stillge-e-estanden!«

Das Geflüster verstummt auf einen Schlag. Lederriemen straffen sich, knarzen an sich aufrichtenden Schultern und anschwellenden Brustkörben.

Von Weitem hallt das Poltern von Absätzen auf poliertem Holz. Der Zar und seine Gefolgschaft sind im Anmarsch.

Die Gardisten an der Pforte nehmen Haltung an, holen tief Luft und reißen die Türflügel auf – so wie zuvor bereits im vergoldeten Alexandersaal und davor im Andreassaal mit dem Thron und den Wappen und davor im mit flauschigen Teppichen ausgelegten Saal der Kavalleriegarde.

»Seine Majestät, Seine kaiserliche Hoheit, der Imperator und Alleinherrscher über Moskau Arkadij Michailowitsch!«

Lissizyn stockt der Atem. Krigow hält die Luft an. Auch die anderen achtundvierzig Hauptmänner, Jessaule und Unterjessaule, die man für diese Zeremonie aus dem ganzen Heer, dem ganzen Land ausgewählt hat, wagen nicht zu atmen.

Jeder von ihnen wünscht sich nichts sehnlicher, als nur einen Millimeter aus der Reihe auszuscheren und einen Blick auf Seine Majestät zu erhaschen, aber niemand wagt es.

Da ist er also.

Nicht besonders groß, gebeugt, unerwartet jung. Die Porträts in den Paradehallen lassen ihn älter und gesetzter wirken, aufrechter und mit mehr Haltung, aber dafür sind Porträts ja da.

Hinter ihm folgen die Adjutanten, die Ordonnanzoffiziere, zwei Generäle – Sterligow und der einarmige Burja – und schließlich der dickbäuchige Kommandeur Polujarow, der Ataman des Moskauer Heeres. Medaillen klirren, Sporen klacken, Säbel schlagen aneinander.

Sie bleiben stehen.

Man muss einfach hingucken. Der Truppenälteste hatte ihnen noch befohlen, nicht zu glotzen, aber heimlich, als würden sie auf die eigene Nasenspitze schielen, schauen sie alle hin.

Ja, er ist klein und bucklig. Nicht kahl, aber mit schütterem Haar, trotz seines jungen Alters. Und trotzdem weiß man vom ersten Augenblick an, warum ihm jeder ohne Widerrede gehorcht. Schon von seinem ersten Satz – leise, aber deutlich gesprochen – bekommt man Gänsehaut.

»Seid gegrüßt, Soldaten!«

»Seid gegrüßt, Eure Majestät!«, donnert es wie aus einer Kehle.

Er tritt einen Schritt zurück, um die ganze Formation in Augenschein zu nehmen. Seine Uniform ist die eines einfachen Feldoberst, an der Seite ein Halfter und abgenutzte Stiefel, die die besten Jahre schon hinter sich haben.

Lissizyn spürt, wie er schwitzt; nicht einmal in den Schützengräben unter dem Beschuss der Grad-Raketenwerfer hatte er so geschwitzt, nicht einmal bei den Säuberungen in den Bergaulen.

»Ich habe eurem Ataman Wladimir Witaljewitsch aufgetragen, die Besten unter euch für den heutigen Tag auszuwählen«, beginnt der Zar. »Die, die sich im Kampf hervorgetan haben. Die sich selbst nicht geschont haben, um einen Kameraden zu retten. Die sich freiwillig an die Front gemeldet haben. Die es selbst im Lazarett noch in den Kampf gedrängt hat. Ich sagte: Wladimir Witaljewitsch, gib mir eine halbe Hundertschaft solcher Kämpfer, und ich werde mit ihnen zusammen die Welt umkrempeln. Und nun seid ihr hier. Einer tapferer als der andere.«

Lissizyn hört sein Herz pochen.

»Unser Vaterland hat dunkle, wirre Zeiten hinter sich. Eroberungen, die unsere großen Vorfahren über Jahrtausende gemacht haben, hat der Feind über Nacht zunichtegemacht. Weder ihr noch ich könnt etwas dafür. Aber mein Vater, Gott hab ihn selig, hat diesen räuberischen Feldzügen einen Riegel vorgeschoben, und nun fällt mir die Aufgabe zu, zurückzuholen, was uns gestohlen wurde. Mir – mit euch an meiner Seite, wenn ihr mir nur treu dienen wollt. Sagt, wollt ihr das?«

»Jawohl, Eure Exzellenz!«, schallt es ergriffen zurück.

»Die Kosaken haben unser Imperium aufgebaut. Ohne die Kosaken hätte Russland kein Sibirien, kein Kamtschatka, kein Tschukotka, und auch der Kaukasus wäre nicht unser. Ohne Jermak, ohne Pjotr Beketow, ohne Semjon Deschnjow gäbe es keine russische Geschichte. Und jetzt, da aus Moskowien wieder ein ganzes Russland auferstehen soll, wie könnten wir da ohne die Kosaken auskommen! Richtig?«

»Völlig richtig!«

»Das möchte ich meinen! Eine halbe Hundertschaft seid ihr, nicht einer mehr, nicht einer weniger. Ich will offen mit euch sein – ich beobachte euch. Eure Zeit ist gekommen. Ihr sollt wissen: Der Zar und das Vaterland vergessen niemanden, der ihnen treu und ehrlich dient. Aber viel wichtiger noch – auch das Volk wird euch nicht vergessen!«

Er wendet sich zu einem Bediensteten, der ein goldgefasstes Kästchen aus rotem Samt in den Händen hält. »Folge mir.«

Der Zar geht zum Kopf der Kolonne. Er holt ein goldenes Sankt-Georgs-Kreuz aus dem Kästchen hervor und steckt es eigenhändig dem Ersten in der Reihe, dem groß gewachsenen Jessaul Morosow, ans Revers. Schüttelt dessen Hand. Erkundigt sich, wie es im Dienst so läuft. Morosow nickt eifrig, stumm vor Glück.

So schreitet der Zar von einem mit vorgerecktem Kinn dastehenden Kosaken zum nächsten. Ein Ball aus statischer Ladung umgibt ihn, rollt voraus und elektrisiert jeden, in dessen Nähe er kommt, sodass sich die Nackenhärchen der Kosaken aufrichten.

Dann ist Lissizyn an der Reihe.

Der Imperator reicht ihm bis zum Kinn, seine Nase sieht aus, als wäre sie schon mal gebrochen gewesen, aus den Ohren sprießen Haare, und er verströmt den Geruch von gutem Importtabak und einem Hauch Cognac. Diese allzu menschlichen Details nimmt Lissizyn leicht verwundert wahr: Seltsam, dass ein Gottgesandter überhaupt solche Eigenschaften haben kann, Merkmale, die auch in einer Polizeiakte stehen könnten. Lissizyns Gedächtnis speichert sie ab, und gleichzeitig versucht er sie zu vergessen. Seinen Enkelkindern wird er von anderen Dingen erzählen. Von dem überwältigenden Glücksgefühl und dem mit nichts zu vergleichenden Stolz, dass er in diesem Moment an diesem Ort ist.

»Wie läuft es im Dienst?«, will der Monarch wissen, während er die Medaillennadel durch Lissizyns Revers sticht.

»Stets zu Diensten!«, kläfft Juri.

Der Imperator klopft ihm väterlich auf die Schulter und geht weiter zu Krigow. Lissizyn versucht, sein wild schlagendes Herz zu beruhigen, und bedauert, dass der Augenblick so kurz gewesen ist. Seine kaiserliche Majestät fragt, wie es im Dienst läuft, und ich Holzkopf …

»Keine Klagen?«, erkundigt sich der Zar bei Krigow. »Alles zur besten Zufriedenheit?«

Lissizyn kann nicht aufhören, ihn aus dem Augenwinkel zu beobachten.

»Möchten Euer Gnaden eine ehrliche Antwort?«,...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2023
Reihe/Serie Outpost-Romane
Outpost-Romane
Übersetzer Maria Rajer, Jennie Seitz
Sprache deutsch
Original-Titel Outpost 2 / ПОСТ 2
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte 2023 • Bestsellerautor • diezukunft.de • Dissident • Dystopie • dystopie fantasy • eBooks • Geschichten aus der Heimat • Heldin • Metro 2033 • Mutanten • Neuerscheinung • Outpost-Reihe • Postapokalypse • Propaganda Russland • russische Science-Fiction • Russland
ISBN-10 3-641-28433-3 / 3641284333
ISBN-13 978-3-641-28433-6 / 9783641284336
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