Alle meine Wünsche (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
128 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29344-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alle meine Wünsche -  Grégoire Delacourt
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Eines Tages gewann Jo im Lotto ...
Jocelyne führt einen Kurzwarenladen im nordfranzösischen Arras. Die Kinder sind aus dem Haus, und Jos ganze Leidenschaft gilt ihrem Internet-Blog übers Sticken und Nähen. Sie liebt ihr kleines Leben, liebt sogar ihren ungehobelten Mann - bis durch einen Lottogewinn alles aus den Fugen gerät.

Grégoire Delacourt wurde 1960 im nordfranzösischen Valenciennes geboren. Er arbeitete als Werbetexter und erntete schon mit seinem literarischen Debüt L'Ecrivain de la famille in Frankreich begeisterte Kritiken sowie renommierte Literaturpreise. Sein zweiter Roman Alle meine Wünsche war ein gefeierter Bestseller und erschien weltweit in zahlreichen Ländern. Grégoire Delacourt lebt mit seiner Familie in Paris.

M an lügt sich immer an.

Ich weiß zum Beispiel genau, dass ich nicht hübsch bin. Ich habe keine blauen Augen, in denen sich die Männer verlieren, in denen sie versinken wollen, damit man hinterherspringt und sie rettet. Ich habe keine Mannequin-Taille, ich bin eher drall, sogar füllig. Der Typ, der anderthalb Plätze braucht. Ich habe einen Körper, den die Arme eines mittelgroßen Mannes nicht ganz umfassen können. Ich habe nicht die Anmut der Frauen, denen man lange Sätze mit Seufzern als Satzzeichen ins Ohr flüstert, nein. Ich verleite eher zu kurzen Sätzen. Deftigen Bissen. Der Knochen des Verlangens ohne Schwarte, ohne das gemütliche Fett.

Das weiß ich alles.

Und trotzdem gehe ich manchmal, wenn Jo noch nicht zu Hause ist, hoch in unser Schlafzimmer und stelle mich vor den Spiegel unseres Kleiderschranks – ich muss ihn daran erinnern, den Schrank an der Wand zu befestigen, bevor er mich eines schönen Tages während meiner Kontemplation zerschmettert.

Ich schließe die Augen und ziehe mich langsam aus, so, wie mich noch nie jemand ausgezogen hat. Jedes Mal wird mir ein bisschen kalt und ich erschauere. Wenn ich ganz nackt bin, warte ich einen Moment, bevor ich die Augen öffne. Ich genieße. Lasse die Gedanken schweifen. Träume. Ich sehe die ergreifenden, schmachtenden Körper aus den Kunstbüchern vor mir, die bei meinen Eltern herumlagen; später dann die derberen Körper aus den Zeitschriften.

Dann hebe ich langsam, wie in Zeitlupe, die Lider.

Ich betrachte meinen Körper, meine schwarzen Augen, meine kleinen Brüste, meinen Schwimmring, meinen Wald aus dunklem Schamhaar, und finde mich schön; und ich schwöre Ihnen, in diesem Moment bin ich schön, sehr schön sogar.

Diese Schönheit macht mich zutiefst glücklich. Unglaublich stark.

Sie lässt mich alles Hässliche vergessen. Den ziemlich langweiligen Kurzwarenladen. Das Geschwätz und das Lotto von Danièle und Françoise – den Zwillingen, die den Salon Coiff ’Esthétique neben dem Kurzwarenladen führen. Diese Schönheit lässt mich alles Erstarrte vergessen. Wie das Leben ohne Geschichten. Wie diese entsetzliche Stadt ohne Flughafen, diese graue Stadt, aus der man nicht fliehen kann und in die nie jemand kommt, kein Herzensbrecher, kein weißer Ritter auf einem weißen Pferd.

Arras. Zweiundvierzigtausend Einwohner, vier Shoppingcenter, elf Supermärkte, vier Fast-Foods, ein paar mittelalterliche Straßen, eine Tafel in der Rue du Miroir-de-Venise, die Passanten und Vergessliche darauf hinweist, dass hier am 24. Juli 1775 Eugène-François Vidocq geboren wurde. Und mein Kurzwarenladen.

So nackt und schön vor dem Spiegel kommt es mir vor, als müsste ich nur mit den Armen schlagen, um leicht und anmutig davonzufliegen. Damit sich mein Körper zu denen der Kunstbücher gesellt, die im Haus meiner Kindheit herumlagen. Dann wäre er genauso schön wie sie, für immer.

Aber ich traue mich nie.

Jedes Mal überrascht es mich, wenn ich Jo nach Hause kommen höre. Ein Riss in der Seide meines Traums. Ich ziehe mich hastig wieder an. Schatten bedecken die Klarheit meines Körpers. Ich weiß um die seltene Schönheit unter meinen Kleidern. Aber Jo sieht sie nie.

Einmal hat er mir gesagt, ich sei schön. Es ist ewig her, ich war gerade Anfang zwanzig. Ich war hübsch angezogen, ein blaues Kleid, ein vergoldeter Gürtel, ein Hauch von Dior; er wollte mit mir schlafen. Sein Kompliment siegte über mein hübsches Kleid.

Sie sehen, man lügt sich immer an.

Weil die Liebe die Wahrheit nicht ertragen könnte.

J o, das ist Jocelyn. Mein Ehemann seit einundzwanzig Jahren.

Er ähnelt Venantino Venantini, dem schmucken Kerl, der in Scharfe Sachen für Monsieur Mickey den Stotterer und in Mein Onkel, der Gangster Pascal den Killer spielte. Entschlossenes Kinn, finsterer Blick, italienischer Akzent, bei dem man dahinschmilzt, Sonne, gebräunte Haut, ein Gurren in der Stimme, von dem die Gänschen Gänsehaut bekommen, nur dass mein Jocelyno Jocelyni zehn Kilo mehr hat und sein Akzent die Mädchen weiß Gott nicht dahinschmelzen lässt.

Er arbeitet bei Häagen-Dazs, seit der Eröffnung des Werks 1990. Er verdient 2400 Euro im Monat. Er träumt von einem Flachbildschirm anstelle unseres alten Radiola-Fernsehers. Von einem Porsche Cayenne. Von einem Kamin im Wohnzimmer. Von der kompletten Sammlung der James-Bond-Filme auf DVD. Von einem Seiko-Chronograph. Und von einer schöneren und jüngeren Frau; aber das sagt er mir nicht.

Wir haben zwei Kinder. Eigentlich drei. Einen Jungen, ein Mädchen und eine Leiche.

Romain wurde an dem Abend gezeugt, als Jo mir gesagt hat, dass er mich schön findet, und als ich wegen dieser Lüge den Kopf, mein Kleid und meine Unschuld verlor. Die Chance lag bei eins zu x-tausend, dass ich beim ersten Mal schwanger werde, und mich hat es getroffen. Nadine kam zwei Jahre später, und seither habe ich nie mehr mein Idealgewicht wiedergewonnen. Ich bin dick geblieben, so etwas wie eine leere Schwangere, ein mit nichts gefüllter Ballon.

Eine Luftblase.

Jo hat aufgehört, mich schön zu finden, mich anzufassen; er hat angefangen, abends vor dem Radiola rumzuhängen und das Eis zu essen, das sie ihm in der Fabrikgaben, dann »33«-Export-Bier zu trinken. Und ich habe mir angewöhnt, allein einzuschlafen.

In einer Nacht hat er mich geweckt. Er war ganz hart. Er war betrunken, er weinte. Da habe ich ihn in mich aufgenommen, und in dieser Nacht hat sich Nadège in meinen Bauch geschlichen und ist in meinem Fleisch und meinem Kummer ertrunken. Als sie acht Monate später herauskam, war sie blau. Ihr Herz war stumm. Aber sie hatte entzückende Nägel, sehr lange Wimpern, und ich bin sicher, dass sie hübsch war, obwohl ich die Farbe ihrer Augen nie gesehen habe.

Am Tag von Nadèges Geburt, der auch der Tag ihres Todes war, hat Jo aufgehört, Bier zu trinken. Er hat in unserer Küche Geschirr zerschlagen. Er hat geschrien. Er hat gesagt, das Leben sei zum Kotzen, das Leben sei eine Hure, eine gottverdammte Hure. Er hat gegen seine Brust, seine Stirn, sein Herz und die Wände getrommelt. Er hat gesagt: Ein Leben ist zu kurz. Ist ungerecht. Man muss es ausnutzen, Scheiße noch mal, weil man keine Zeit hat; mein Baby, hat er hinzugefügt und Nadège gemeint, meine kleine Tochter, wo bist du? Wo bist du, mein Schatz?

Romain und Nadine sind verschreckt in ihre Zimmer gerannt, und Jo hat an diesem Tag angefangen, von den schönen Dingen zu träumen, die das Leben süßer und den Schmerz weniger stark machen. Flachbildschirm. Porsche Cayenne. James Bond. Und eine hübsche Frau. Er war traurig.

Mich haben meine Eltern Jocelyne genannt.

Die Chance lag bei eins zu Millionen, dass ich einen Jocelyn heirate, und mich musste es treffen. Jocelyn und Jocelyne. Martin und Martine. Louis und Louise. Laurent und Laurence. Raphaël und Raphaëlle. Paul und Paule. Michel und Michèle. Eins zu Millionen.

Und mich hat es getroffen.

I ch habe den Kurzwarenladen im Jahr meiner Hochzeit mit Jo übernommen.

Ich hatte schon zwei Jahre dort gearbeitet, als der Eigentümerin ein Knopf in der Kehle stecken blieb, auf dem sie herumbiss, um sich zu überzeugen, dass er wirklich aus Elfenbein war. Der Knopf glitt über die feuchte Zunge, kroch zum Kehlkopf, griff ein Schlundschnürerband an und verzog sich in die Luftröhre; weil der Knopf alles verstopfte, hörte sich Madame Pillard nicht mal ersticken, ebenso wenig wie ich.

Das Geräusch eines Sturzes rief mich herbei.

Der Körper riss im Zusammenbrechen die Knopfschachteln mit sich; achttausend Knöpfe rollten durch den kleinen Laden, und das war das Erste, was ich dachte, als ich das Drama entdeckte: Wie viele Tage und Nächte würde ich damit verbringen, auf allen vieren die achttausend Zierknöpfe, Metallknöpfe, Holzknöpfe, Kinderknöpfe, Haute-Couture-Knöpfe usw. zu sortieren?

Der Adoptivsohn von Madame Pillard kam aus Marseille zur Beisetzung, er schlug mir vor, den Laden zu übernehmen, die Bank war einverstanden, und am 12.März 1990 kam ein feinsinniger Maler und schrieb Kurzwaren Jo, vormals Maison Pillard auf den Giebel und die Tür des kleinen Ladens. Jo war stolz. Kurzwaren Jo, sagte er und streckte die Brust vor, als hätte man ihn ausgezeichnet, Jo, Jo bin ich, das ist mein Name!

Ich sah ihn an und fand ihn schön, und ich dachte, dass ich Glück hatte, ihn zum Mann zu haben.

Dieses erste Ehejahr war großartig. Der Laden. Jos neue Arbeit in der Fabrik. Und die bevorstehende Geburt von Romain.

Aber bis heute ist der Laden nie besonders gut gelaufen. Ich kämpfe gegen die Konkurrenz von vier Shoppingcentern und elf Supermärkten, die ruchlosen Preise des Kurzwarenhändlers auf dem Samstagsmarkt, die Krise, die die Menschen ängstlich und geizig macht, und die Trägheit der Frauen von Arras, die die Leichtigkeit des Prêt-à-porter der Kreativität des Selbstgenähten vorziehen.

Im September werden gewebte Etiketten zum Annähen oder Aufbügeln bestellt; ein paar Reißverschlüsse, Nadeln und Faden, falls man lieber die Sachen des letzten Jahres reparieren will, als neue zu kaufen.

Vor Weihnachten Schnittmuster für Kostümfeste. Die Prinzessin bleibt der Verkaufsschlager, gefolgt von Erdbeere und Kürbis. Bei den Jungen läuft der Pirat gut, im...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2022
Übersetzer Claudia Steinitz
Sprache deutsch
Original-Titel La liste de mes envies
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Buchgeschenk • DIY Nähen • DIY Sticken • eBooks • Frankreich • Kleine Geschenke • Lottogewinn • Neuerscheinung • Roman • Romane • Sinnsuche • spiegel bestseller • Suche nach dem Glück
ISBN-10 3-641-29344-8 / 3641293448
ISBN-13 978-3-641-29344-4 / 9783641293444
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