Die Falschmünzer. Roman (eBook)

Wegweisender Roman des 20. Jahrhunderts - »Vergesst Proust! Lest Gide!« Die Welt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
448 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-29228-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Falschmünzer. Roman -  André Gide
Systemvoraussetzungen
6,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
In den Fallstricken des Lebens und des Erzählens
Paris um 1900: Drei junge Gymnasiasten suchen das Leben jenseits der großbürgerlichen Fassade ihrer Elternhäuser. Die Welt der Literatur und Kunst, der Verführung und homosexuellen Erotik erwartet sie, und sie verstricken sich zunehmend in einem Geflecht aus Täuschung, Falschheit und Manipulation. So vertrackt und wendungsreich wie die Handlung dieses Romans ist seine literarische Form, denn er spielt virtuos mit den verschiedensten Erzählverfahren. Der Literaturnobelpreisträger André Gide hat mit den 1925 erschienenen Falschmünzern ein zeitloses Meisterwerk der modernen Literatur geschaffen.

André Gide (1869-1951) wurde in Paris geboren. Schon früh hatte er Kontakte zur französischen Avantgarde und schloss Freundschaft mit Mallarmé, Claudel, Valéry und Oscar Wilde. 1909 begründete er als Herausgeber die 'Nouvelle Revue Française' mit und war jahrzehntelang einer der wichtigsten Literaten seiner Zeit. 1947 den erhielt er den Literaturnobelpreis. Zu seinen autobiographischen Schriften gehören u.a. 'Tagebuch' (1889-1949) sowie 'Stirb und werde' (1926). Seine bekanntesten erzählenden Werke sind 'Der Immoralist' (1902), 'Die Rückkehr des verlorenen Sohnes' (1907), 'Die enge Pforte' (1909), 'Die Pastoralsymphonie' (1919), 'Die Falschmünzer' (1925) und 'Die Schule der Frauen' (1929).

ZWEITER TEIL


Saas Fee


I

Bernard an Olivier

»Montag.

Lieber Freund,

ich will vorausschicken, dass ich die Abiprüfung geschwänzt habe. Du hast Dir wohl schon so etwas gedacht, als Du mich nicht entdecken konntest. Ich werde im Oktober antreten. Es hatte sich mir eine einmalige Gelegenheit zu einer Reise geboten. Ich packte sie beim Schopf; und ich bereue es nicht. Ich musste mich sofort entscheiden, es blieb keine Zeit, groß zu überlegen, ja nicht einmal, mich von Dir zu verabschieden. Übrigens, mein Reisegefährte lässt Dir ausrichten, dass er sehr bedauert, Dich nicht noch einmal gesehen zu haben, bevor er wegfuhr. Denn weißt Du, wer mich mitgenommen hat? Du ahnst es schon … Es ist Édouard, Dein verehrter Onkel, dem ich gleich am Abend nach seiner Ankunft in Paris begegnet bin, unter recht außergewöhnlichen und sensationellen Umständen, doch davon ein andermal. Überhaupt alles ist außergewöhnlich an diesem Abenteuer, und wenn ich zurückdenke, dreht sich mir der Kopf. Noch heute kann ich kaum glauben, dass es wahr sein soll, dass wirklich ich es bin, der Dir dies schreibt, der hier in der Schweiz ist mit Édouard und … Ich merke schon, ich muss doch alles erzählen, aber bitte zerreiße diesen Brief, und behalte es für Dich.

Stell Dir vor, die arme Frau, die Dein Bruder Vincent im Stich gelassen hat, die Du neulich in der Nacht vor Deiner Tür schluchzen hörtest (wobei Du, mit Verlaub, schön dumm warst, nicht zu öffnen), hat sich als gute Freundin von Édouard entpuppt, als die Tochter von Vedel persönlich, die Schwester Deines Freundes Armand. Ich sollte Dir all dies nicht erzählen, denn es geht um den Ruf einer Frau, doch ich würde platzen, könnte ich es niemandem sagen … Noch einmal: Behalte es für Dich. Du weißt, dass sie unlängst geheiratet hat; Du weißt vielleicht auch, dass sie kurz nach ihrer Hochzeit krank geworden und zur Kur in den Süden gefahren ist. Dort, in Pau, hat sie Vincents Bekanntschaft gemacht. Auch das weißt Du vielleicht. Doch was Du nicht weißt, ist, dass diese Begegnung nicht ohne Folgen geblieben ist. Ja, lieber Freund! Dein Tölpel von einem Bruder hat ihr ein Kind angehängt. Sie ist schwanger nach Paris zurückgekommen, wo sie ihren Eltern nicht mehr unter die Augen zu treten wagte; und noch weniger wagte sie, zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Da nun verließ sie Dein Bruder unter den Dir bekannten Umständen. Ich spare mir den Kommentar, will Dir aber sagen, dass Laura Douviers nicht ein Wort des Vorwurfs geäußert hat und keinen Groll gegen ihn zu hegen scheint. Im Gegenteil, sie erfindet alle möglichen Entschuldigungen für sein Benehmen. Kurz, sie ist eine hochherzige Frau, eine schöne Seele. Und Édouard ist nicht weniger hochherzig. Als sie nicht mehr aus noch ein wusste, machte er ihr den Vorschlag, ihn in die Schweiz zu begleiten; und mir hat er vorgeschlagen mitzukommen, denn es war ihm unangenehm, mit ihr allein zu verreisen, da seine Gefühle für sie doch rein freundschaftlich sind. So fuhren wir also zu dritt. Alles ging Hals über Kopf, kaum blieb Zeit, die Koffer zu packen und mich auszustaffieren (denn wie Du weißt, ging ich ohne irgendetwas von zu Hause fort). Du machst Dir keine Vorstellung, wie hilfsbereit Édouard in dieser Situation gewesen ist; und obendrein versicherte er mir immer wieder, dass ich es sei, der ihm einen Dienst erweise. Ja, lieber Freund, Du hattest nicht übertrieben: Dein Onkel ist einfach großartig.

Es wurde eine recht beschwerliche Reise, weil Laura sehr erschöpft war und auch wegen ihres Zustands (sie kommt in den dritten Monat) der Schonung bedurfte; hinzu kommt, dass der Ort, für den wir uns entschieden hatten (warum, das ist eine andere Geschichte), nur schwer zugänglich ist. Laura komplizierte die Lage oft noch zusätzlich, weil sie nicht auf sich achtgeben wollte; wir mussten sie regelrecht dazu zwingen; sie beteuerte ständig, dass ein Unfall das Beste wäre, was ihr passieren könnte. Und wie wir auf sie aufgepasst haben! Oh, mein Freund, diese wunderbare Frau! Ich bin ein anderer, seit ich sie kenne; gewisse Gedanken verbiete ich mir, und manche Regung meines Herzens unterdrücke ich, denn ich würde mich schämen, wenn ich es dieser Frau gegenüber an Ehrerbietung fehlen ließe. Ihre Gegenwart zwingt einen einfach, edel zu denken. Und dennoch sind die Gespräche zwischen uns ganz frei, denn Laura ist überhaupt nicht zimperlich – und wir reden über Gott und die Welt; aber Du kannst mir glauben, in ihrer Gegenwart kann ich über sehr vieles nicht mehr spotten, weil es mir heute ernst damit ist.

Du könntest jetzt denken, ich hätte mich in sie verliebt. Ja, lieber Freund, da würdest Du Dich nicht täuschen. Es ist verrückt, nicht wahr? Ich bin in eine schwangere Frau verliebt, die ich selbstverständlich respektiere und nicht mit den Fingerspitzen zu berühren wagte, kannst Du Dir das vorstellen? Du siehst, ich entwickle mich nicht gerade zum Lebemann …

Als wir trotz unzähliger Schwierigkeiten (wir mussten einen Tragsessel für Laura mieten, denn Wagen kommen nicht bis hier hinauf) glücklich in Saas-Fee ankamen, konnte man uns im Hotel nur zwei Zimmer anbieten, ein großes mit zwei Betten und ein kleines, das wir vor dem Hotelbesitzer für mich bestimmten – denn um ihren Namen nicht preiszugeben, gilt Laura als Édouards Frau; nachts aber schläft in dem kleinen Zimmer sie, während ich zu Édouard umziehe. Das ist jeden Morgen eine Schlepperei, damit das Personal nicht dahinterkommt. Glücklicherweise gibt es eine Verbindungstür zwischen den zwei Zimmern, das macht es uns leichter.

Seit sechs Tagen sind wir nun hier; ich habe Dir nicht früher geschrieben, weil ich anfangs zu durcheinander war und zunächst klarsehen wollte. Erst jetzt beginne ich allmählich, mich zurechtzufinden.

Édouard und ich haben ein paar ganz nette Bergtouren unternommen; doch ehrlich gesagt, gefällt mir diese Gegend nicht besonders; Édouard geht es ähnlich. Er findet die Landschaft ›pathetisch‹. Und das stimmt.

Das Beste hier ist die Luft, die man atmet; herrliche, klare Luft, die die Lungen reinigt. Doch wir wollen Laura nicht zu lange allein lassen, und mitkommen kann sie selbstverständlich nicht. Die Gesellschaft im Hotel ist ganz abwechslungsreich. Die Gäste kommen von überall her. Wir sind viel mit einer polnischen Ärztin zusammen, die hier die Ferien mit ihrer Tochter und einem Knaben verbringt, den man ihr anvertraut hat. Wegen dieses Jungen sind wir überhaupt hierhergereist. Er hat eine Art Nervenleiden, das die Doktorin nach einer ganz neuen Methode behandelt. Am meisten aber bekommt es dem wirklich sympathischen Kleinen, dass er bis über die Ohren in die Tochter der Ärztin verliebt ist, die einige Jahre älter ist und das schönste Geschöpf, das mir je begegnet ist. Sie weichen einander den ganzen Tag nicht von der Seite. Sie sind miteinander so rührend, dass es niemandem in den Sinn käme, sich über sie lustig zu machen.

Ich habe nicht viel gearbeitet und seit meiner Abreise nicht ein Buch aufgeschlagen; aber viel nachgedacht. Die Gespräche mit Édouard sind ungeheuer interessant. Er richtet nur selten das Wort unmittelbar an mich, obwohl ich doch angeblich sein Sekretär bin; aber ich verfolge mit, wie er sich mit den anderen unterhält; mit Laura vor allem, der er gerne von seinen Plänen erzählt. Du machst Dir keine Vorstellung, wie viel ich dabei profitiere. Bisweilen sage ich mir, ich sollte mir Notizen machen, doch ich glaube, ich werde alles behalten. Bisweilen habe ich große Sehnsucht nach Dir; ich sage mir, eigentlich müsstest Du an meiner Stelle sein; doch wie könnte ich traurig sein, dass ich all dies erlebe, wie wünschen, dass sich etwas ändere. Aber glaube mir, ich werde Dir nie vergessen, dass ich Édouards Bekanntschaft durch Dich machte und mein Glück Dir verdanke. Wenn wir uns wiedersehen, wirst Du mich sicher verändert finden; doch bleibe ich stets und inniger denn je Dein Freund.

Mittwoch.

P.S.: Wir kommen soeben von einer gewaltigen Tour zurück. Besteigung des Allalinhorns – Seilschaft mit Bergführern, Gletscher, Abgründe, Lawinen usw …. In einer Schutzhütte mitten im Schnee übernachtet, zusammengepfercht mit anderen Touristen; wie Du Dir denken kannst, haben wir die ganze Nacht kein Auge zugetan. Am nächsten Tag Aufbruch vor Sonnenaufgang … Ja, lieber Freund, ich werde die Schweiz nie wieder schlechtmachen: Wenn man dort oben ist, hoch über jeder Vegetation und Besiedlung, hoch über allem, was an die Habsucht und Dummheit der Menschen erinnert, möchte man singen, lachen, weinen, fliegen, sich in den Himmel hineinstürzen oder sich auf die Knie werfen. Sei tausendmal gegrüßt.

BERNARD

Bernard war viel zu spontan, zu natürlich, zu lauter, er kannte Olivier zu schlecht, als dass er hätte ahnen können, welchen Sturm von hässlichen Gefühlen dieser Brief in ihm entfesseln sollte; ein Wirbel aus Trotz, Verzweiflung und Wut erfasste Olivier. Er fühlte sich gleichzeitig aus Bernards und aus Édouards Herzen verstoßen. Die Freundschaft zwischen seinen beiden Freunden ließ ihn wiederum überflüssig werden. Ein Satz in Bernards Brief quälte ihn vor allem, den Bernard niemals geschrieben hätte, ahnte er, wie Olivier ihn auffassen würde: »Im selben Zimmer«, wiederholte er – und die scheußliche Schlange der Eifersucht entrollte und krümmte sich in seinem Herzen. »Sie schlafen im selben Zimmer! …« Was malte er sich nicht gleich alles aus? Unreine Bilder drängten sich ihm auf, und er suchte sie nicht...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2023
Übersetzer Christine Stemmermann
Sprache deutsch
Original-Titel Les Faux-Monnayeurs
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Angst • eBooks • Frankreich • Französischer Roman • französischer Schriftsteller • Homosexualität • Jugendliche Rebellion • Klassiker der Moderne • LGBTQ • Literatur mit homosexuellem Inhalt • Literatur-Nobelpreis • Neuerscheinung • Paris Anfang des 20. Jahrhunderts • Schwule Literatur • Verwirrung
ISBN-10 3-641-29228-X / 364129228X
ISBN-13 978-3-641-29228-7 / 9783641292287
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Iris Wolff

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
18,99