anders bleiben (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01524-1 (ISBN)
Selma Wels kam 1979 als Tochter türkischstämmiger Eltern in Pforzheim zur Welt. Von 2011 bis 2020 gründete und leitete sie den binooki Verlag. 2017 wurde sie europaweit als erste Verlegerin für 'ihren unternehmerischen Mut, ihren Pioniergeist und ihre kulturelle Vermittlungsarbeit' mit dem renommierten europäischen Kulturpreis KAIROS ausgezeichnet. Sie ist Co-Initiatorin und Kuratorin des viel beachteten Literaturfestivals 'WIR SIND HIER - Festival für kulturelle Diversität'. 2022 wurde sie in die Jury des Deutschen Buchpreises berufen.
Selma Wels kam 1979 als Tochter türkischstämmiger Eltern in Pforzheim zur Welt. Von 2011 bis 2020 gründete und leitete sie den binooki Verlag. 2017 wurde sie europaweit als erste Verlegerin für "ihren unternehmerischen Mut, ihren Pioniergeist und ihre kulturelle Vermittlungsarbeit" mit dem renommierten europäischen Kulturpreis KAIROS ausgezeichnet. Sie ist Co-Initiatorin und Kuratorin des viel beachteten Literaturfestivals "WIR SIND HIER – Festival für kulturelle Diversität". 2022 wurde sie in die Jury des Deutschen Buchpreises berufen.
Vorwort
«Wir sind nicht ‹anders›. Wir sind Möglichkeiten.»
Toni Morrison
Es waren gerade mal sechs Tage nach dem rassistischen Anschlag von Hanau im Februar 2020 vergangen, und ich fand mich auf einer Bank in der Turnhalle der Kita meines Sohnes wieder. Um mich herum eine Horde von Elsas, Dinos, Captain Americas, die in ihren Kostümen fröhlich jemand anderes sein durften. Die große Welt da draußen, die darauf brannte, ihnen zu sagen, wer sie waren, und versuchen würde, sie in dieser Identität einzusperren, interessierte diese Kinder jetzt noch nicht. Sie waren heute einfach das, was sie sein wollten – Prinzess*innen, Superheld*innen oder eben die größten Landraubtiere aller Zeiten. Außerhalb dieser Turnhalle tobte eine Diskussion darüber, ob es angebracht sei, Karneval zu feiern, und in mir wirbelte ein Sturm aus Wut, Trauer und Sprachlosigkeit. Wenn mein kleiner Dino vorbeitrampelte, warf ich ihm ein schiefes Lächeln zu und hoffte, die Hilflosigkeit, die von mir Besitz ergriffen hatte, dahinter zu verbergen. Ich war gerade von Berlin nach Frankfurt gezogen, als ein paar Kilometer weiter Menschen ermordet wurden, weil sie anders hießen, anders aussahen, weil man sie schlicht an diesem Ort vermutete. Seit sechs Tagen traute ich mich nicht mehr, draußen auf der Straße nach meinem Kind zu rufen, aus Angst, seinen Namen zu nennen. Wann hatte ich mich zuletzt so gefühlt? Es musste im August 2018 gewesen sein, als es zu Ausschreitungen in Chemnitz gekommen war. Rechte und Neonazis machten auf offener Straße Jagd auf Menschen, die sie für Migrant*innen hielten, und griffen sie an. Allein das war grauenvoll. Noch grauenvoller war, dass viele Menschen dabei zusahen und keinen Versuch unternahmen, die Menschenjagd aufzuhalten. Ich saß damals in der U-Bahn, noch in Berlin, und aktualisierte den Schrecken von Chemnitz im Minutentakt auf meinem Smartphone. Mir schoss durch den Kopf: «Zum Glück sieht man meinem Kind nicht an, dass zwei seiner Großeltern aus der Türkei kommen.» Auf die Erleichterung folgte die Erschütterung über die Erleichterung, darüber, dass White Passing für meine Familie funktionierte, aber eben nur bedingt. Wenn wir unsere Namen nannten, würden wir auffliegen. Wieso waren wir immer noch nicht weiter? Wieso waren nicht alle Menschen, die in diesem Land lebten, sicher? Wieso konnte sich ein Teil der Gesellschaft selbst von jenen nicht geschützt fühlen, die für die Sicherheit aller sorgen sollten? Und was war mit den anderen Müttern, die Angst um ihre Kinder hatten, um ihre Unversehrtheit in einem Land, in dem es immer aggressiver zuging und die Menschen zugleich weniger Anteilnahme zeigten? Genau in jenem Moment öffnete sich die Tür der U-Bahn, und eine Frau, die einen Hijab trug, stieg ein. Sie telefonierte und schob ihr Kind im Kinderwagen in die Bahn. Wie fühlte sich diese Frau, diese Mutter, jetzt, oder vielleicht nicht erst jetzt, vielleicht sogar schon immer hier in Deutschland? Unsere Blicke trafen sich. Sie war eine viel offensichtlichere Zielscheibe als ich. Mit vielem, was marginalisierten Menschen im Laufe eines Lebens in Deutschland widerfahren kann, lernt man, sich zu arrangieren. Je öfter es passiert, desto «normaler» wird es, dass Menschen in der Schule, im Beruf, bei der Wohnungssuche, auf irgendwelchen Ämtern Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt sind. Ich habe gelernt, mit diesen Nadelstichen umzugehen. Aber das? Das war etwas anderes. Der Anschlag von Hanau ist als Zäsur in die deutsche Geschichte eingegangen. Und vor Hanau? Es gibt noch so viel, das aufgearbeitet werden muss: NSU, NSU 2.0, die Neunzigerjahre. In meinem Leben, sehr lange noch bevor ich Mutter wurde, erlebte ich die erste Zäsur dieser Art im Alter von 14 Jahren. Das war der Brandanschlag von Solingen. Ich weiß nicht, warum erst Solingen. Mölln hätte es ja auch sein können. Vielleicht wollte unsere Elterngeneration sich selbst und ihre Nachkommen in Sicherheit wiegen und beruhigen, indem sie Mölln zu etwas «einmalig» Schrecklichem erklärte. Nicht, dass meine Eltern das getan hätten. Ich weiß es nicht, ich habe keine Erinnerung mehr daran. Aber nach Solingen war eines für mich ganz klar: Das ist keine Ausnahme mehr, das ist jetzt so. Eine Nachbarin sagte damals zu meiner Mutter: «Sie zünden uns an und sehen zu, wie wir verbrennen. Einfach so.» Ich kann diesen Satz nicht vergessen.
Mitten im bunten Kinderfaschingsgeschehen setzte sich jemand neben mich, Achim Stanislawski. Wir hatten uns kurz zuvor an der Garderobe der Kinder kennengelernt – der Garderobenhaken seiner Tochter und der meines Sohnes liegen in direkter Nachbarschaft zueinander. Wir hatten beide schon eine lange Zeit im deutschen Literaturbetrieb verbracht, er als Lektor in einem großen Publikumsverlag, ich im kleinen binooki Verlag, den ich selbst gegründet hatte – es gab eine Schnittmenge der Welten, in denen wir uns aufhielten. Achim erzählte mir, dass er an ein Buch denken musste, als er von dem Anschlag in Hanau gehört hatte: Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen von Walter Benjamin. Ob ich den Band kannte? Ich kannte ihn nicht, aber auch für mich sollte er zu einer Art Rettungsanker werden. An jenem Nachmittag im Februar erzählte mir Achim, dass der Band, eher ein schmales Bändchen, 1936 in einem Schweizer Verlag erschienen war. Hinter dem Herausgeberpseudonym Detlev Holz verbarg sich ein deutscher Jude, Walter Benjamin, der, wie so viele andere Menschen, vor dem Naziregime hatte fliehen müssen. Und der Titel Deutsche Menschen – ein Tarntitel! Er war Walter Benjamins Versuch, das Buch an der nationalsozialistischen Zensur vorbei auf den deutschen Markt zu schleusen. Die gesammelten und von ihm zusammengestellten Briefe ausgewählter Persönlichkeiten wie Johann Wolfgang von Goethe, Immanuel Kant, Annette von Droste-Hülshoff, geschrieben zwischen 1783 und 1883, bildeten in ihrer Gesamtheit einen Gegenentwurf zum sogenannten Dritten Reich, zu Hass, Kälte, Vernichtungswut. Alles darin fragte: Was zeichnet einen «deutschen» Menschen aus? Was ist das überhaupt, diese Zuschreibung «deutsch»? Auf welche Werte kam es an, die in jener Gesellschaft doch einmal gelebt worden waren? Was ich denn davon hielte, einen Band mit Essays herauszubringen, fragte mich Achim. Ihm bedeutete dieser Band sehr viel, das war dort, auf der Bank in der Turnhalle, deutlich zu spüren, und warum das so ist, schreibt er in diesem Buch in seinen eigenen Worten, die er an Walter Benjamin richtet.
Die Zeit verging, und ich dachte nach. Über Benjamin, über Essays, darüber, dass, auch wenn gerade mal etwas über 80 Jahre vergangen waren, seit Benjamins Band erschien, er leider nichts von seiner Aktualität verloren hatte. Natürlich kann man die Situation von damals nicht mit der von heute vergleichen. Damals hatte das Töten System, heute scheint es zumindest zufällig. Aber dennoch müssen wir uns bewusst werden, dass wir nach 86 Jahren wieder an einem Punkt in der Geschichte stehen, an dem Menschen in Deutschland um ihr Leben fürchten müssen, weil sie anderen nicht «deutsch» genug erscheinen. Uns als Gesellschaft muss auch bewusst sein, dass im Bundestag wieder Nazis sitzen, die demokratische Grundwerte unterlaufen, und das geschieht auch nicht zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es muss klar sein, dass Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus die größte Bedrohung für unsere Demokratie darstellen. Zwar werden jene Stimmen lauter, die darauf aufmerksam machen, und werden deshalb auch öfter gehört, aber weiterhin haben Menschen, die den Finger in die Wunde legen, einen schweren Stand, denn noch immer gibt es eine Tradition des Wegschauens, wenn es um rechtsextreme und rassistische Strukturen geht, noch immer geistern Begriffe wie «Einzelfälle» durch die Flure von Behörden und Ämtern. Die Mitte-Studie hat gezeigt, dass Rassismus kein Randphänomen ist, sondern bis weit in die gesellschaftliche Mitte hineinwirkt. Teilhabe und menschenrechtliches Fühlen und Denken ist im Deutschland des Jahres 2023 keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder hart erkämpft werden.
Kurze Zeit nach dem Zusammentreffen mit Achim nahm ich das Bändchen von Walter Benjamin also zur Hand. Wie dieser allein durch die Auswahl und Zusammenstellung der Briefe eine subtile Kritik äußerte, die den Lesenden den Raum gewährt, das Verbindende, das Zwischenmenschliche wiederzuentdecken, das berührte mich. Ich stimmte mit allem, was Achim gesagt hatte, überein. Nur mit dem Vorschlag, einen Essay-Band herauszugeben, konnte ich nicht mitgehen. Denn den braucht es nicht mehr, den gibt es längst: Eure Heimat ist unser Albtraum, herausgegeben von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, das gelesen in jedem Bücherregal in Deutschland stehen sollte. Aber ich hatte eine andere Idee: Briefe könnte man schreiben, Texte von Mensch zu Mensch, und wenn die Beitragenden sich aussuchen könnten, an wen sie schrieben, was würde dabei herauskommen? Dieser Frage nachgehend, stellte ich das Exposé für Deutsche Menschen II. Eine neue Folge von Briefen zusammen. Es ist unschwer zu übersehen, dass dieser Band nun nicht Deutsche Menschen II. Eine neue Folge von Briefen heißt, sondern anders bleiben – Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten, und es hat eine Weile gedauert, bis ich mich getraut habe, mit dieser Idee rauszugehen und die Autor*innen anzufragen, die ich...
Erscheint lt. Verlag | 31.1.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | Alltagsrassismus • asal dardan • Ausgrenzung • Ausländer in Deutschland • Debatte • Debattenbeitrag • Demokratie • Dilek Güngör • Diskriminierung • Essays und Briefwechsel • Festival für kulturelle Diversität • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Hanau • Hasnain Kazim • Heimat • Identität • Integration • Marija Latkovic • Meron Mendel • Multikulturalismus • multikulturell • Politisches Sachbuch • Rassismus • Selma Wels • Sharon Otoo • Shida Bazyar • Soziale Gerechtigkeit • Was uns verbindet • Wir sind hier • Zuwanderung |
ISBN-10 | 3-644-01524-4 / 3644015244 |
ISBN-13 | 978-3-644-01524-1 / 9783644015241 |
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Größe: 2,3 MB
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