Zur See (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2022
256 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-28497-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zur See -  Dörte Hansen
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Der lang erwartete dritte Roman von Bestsellerautorin Dörte Hansen.

Woher kommt unsere Liebe zum Meer und die ewige Sehnsucht nach einer Insel?

Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht.

Klug und mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Wandel einer Inselwelt, von alten Gesetzen, die ihre Gültigkeit verlieren, und von Aufbruch und Befreiung.
Spiegel-Bestseller

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt »Altes Land« wurde 2015 zum »Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels« und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman »Mittagsstunde« erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 erschien ihr dritter Roman »Zur See«. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland lebt, ist Mainzer Stadtschreiberin 2022.

1

Knochenzäune

Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens. Falls er an Herbst- und Wintertagen eine Mütze trägt, bedeckt sie keinesfalls die Ohren. Handschuhe trägt er nie. Zwischen seinen steifen Fingern klemmt, sobald das Schiff an- oder abgelegt hat, eine Kippe. Sein Haar ist lange nicht geschnitten worden, seine Haut von Meerwasser und Alkohol gebeizt, und immer hustet er in seinen ungekämmten Bart und spuckt das, was da hochgehustet wird, ins Hafenbecken. Und immer sieht die Jacke, die er trägt, so aus, als hätte sie den Ahnen schon gehört.

Der Mann, der Leinen los- und festmacht, ist nie freundlich zu den Fremden, die vom Festland auf die Insel fahren. Mit schroffen Gesten weist er beim Verladen ihre Wagen in die Spuren, treibt mit knappen Kopfbewegungen die Fahrradfahrer und die Fußgänger aufs Schiff, die sich wie Schafe von ihm scheuchen lassen.

Der Decksmann friert aus einem Grund, den er wohl selbst nicht kennt. Er tut nur das, was schon die Vorbesitzer seiner Jacke taten: das kleine Frieren üben, weil irgendwann das große Frieren kommen wird. Der große Sturm, die große Flut oder die eine große Welle. Wer dann nicht frieren kann, ist schon verloren.

Und, ja, auch schwimmen kann der Mann an Deck, auch wenn es von den Seeleuten von jeher heißt, sie wollten es nicht lernen. Er hat es früh gelernt, von seiner Mutter.

Dass Festlandfrauen sich in ihn vergucken, kennt er schon. Dass sie ein bisschen in den wilden Bart verliebt sind, in seine alte Seemannsjacke und in den kleinen Ring aus Gold in seinem Ohr, das will er doch stark hoffen.

Für die Dauer einer Überfahrt, für eine Stunde oder zwei, ist er das Standbild eines Inselmannes. Steht an Deck, macht Leinen fest und los und lässt die Messingknöpfe mit dem Ankermuster glänzen. Übt das Frieren, pfeift ein altes Lied. Und Winde wehn.

Sein Vater, seine Brüder, seine Onkel frieren jetzt vielleicht auf einem Krabbenkutter, einem Frachter, einem Seenotrettungskreuzer, einem Ausflugsdampfer, einer Bohrinsel, und alle halten klaglos eine kleine Unterkühlung aus, als müssten sie den Vorfahren Respekt bezeugen.

Sie alle sind die Nachkommen von Männern, die das große Frieren noch beherrschten: Grönlandfahrern, die auf Walfangschiffen in die Arktis segelten.

Und etwas hat sich eingedrückt und auf sie abgefärbt, ist in sie eingesickert von diesen Schiffsjungen und Harpunierern, Steuermännern, Kapitänen, die jedes Jahr vom Frühjahr bis zum Herbst ins Nordpolarmeer fuhren, ihre Kleider niemals trocken, ihre Körper niemals warm.

Irgendetwas in dem Mann, der zu dünn angezogen ist, erinnert sich an diese Zeit, auch wenn sie schon dreihundert Jahre her ist.

Vielleicht steckt es in den Knochen seiner rot gefrorenen Hand, in seinen Rückenwirbeln, in der Haut auf seiner Stirn, in seinen Blutgefäßen, in den Wurzeln seiner Zähne, seines Bartes.

Und vielleicht glauben das auch alles nur die Fremden, die vom Festland kommen und ihn auf der Fähre stehen sehen, das Original, den waschechten Insulaner, der sie kaum eines Blickes würdigt.

Der Mann, der wortlos seine Gästeherden auf die Inselfähre treibt, ist unter Deckenbalken aufgewachsen, die so niedrig waren, dass er mit fünfzehn schon den Kopf einziehen musste. In einem Haus mit alten Mauerankern und mit Delfter Fliesen an den Wänden.

Der Vorfahr, der es bauen ließ, war noch zwei Handbreit kleiner als die Inselmänner heute, aber ein Großmeister des Frierens: mit zwölf das erste Mal an Bord und dann ein Seemannsleben lang den Sommer nicht gesehen. Vom Kombüsenjungen hochgefroren bis zum Kapitän.

Er baute sich ein großes Haus, ließ seine Initialen in die Wand des Giebels schlagen und um sein Grundstück einen Zaun errichten, nicht aus Holz gezimmert, sondern aus den Kieferknochen eines Grönlandwals.

Von diesem Knochenzaun ist nicht mehr viel zu sehen, nur eine Reihe Stümpfe, schartig und verwittert, die von grünen Algen überwuchert sind. Ein schadhaftes Gebiss, kein schöner Anblick. Aber niemand denkt daran, den Zaun herauszureißen, und am wenigsten der Mann, der jeden Morgen über ihn hinwegsteigt und sich auf den Weg zum Hafen macht, in einer Jacke, die so aussieht, als hätte sie den Ahnen schon gehört.

Am Abend, nach der letzten Überfahrt, wenn alle Fahrzeuge und Fußgänger das Schiff verlassen haben, geht er von Bord und wartet auf dem Fähranleger drei, vier Zigarettenzüge lang, bis er ein großes Auto kommen sieht. Es ist zu schnell, wie immer, und die Frau im Wagen steuert auf ihn zu, als wollte sie ihn überfahren. Dann bremst sie doch noch, lässt ihm gerade Zeit genug, die Kippe wegzuwerfen, einzusteigen und die Tür zu schließen. Noch bevor er richtig angeschnallt ist, gibt sie wieder Gas. Der Motor heult wie ein gequältes Tier, der Lack des Wagens ist vom Salz der Seeluft ziemlich angefressen.

Sie hat nicht viel Geduld mit Autos und mit Männern, die von Schiffen kommen.

Auf einer Nordseeinsel, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es eine Frau, die einen Mann von einem Hafen abholt wie von einem Tatort, schnell und schweigend. Lebensretter fahren so, Komplizen eines Überfalls – und Inselfrauen, die nicht mehr an Hafenkanten stehen wollen, winkend, wartend, Ausschau haltend nach dem Schiff, das kommen wird oder auch nicht, nach Messingknöpfen, Bärten und verfrorenen Gesichtern.

Sie steigt nie auf der Inselmole aus, sie bleibt am Steuer ihres Wagens sitzen, ganz egal, ob er nur einen Tag auf See gewesen ist, zwei Wochen, sieben Monate, ein Jahr. Und wenn er wieder fährt, macht sie es ebenso: nicht aus dem Wagen steigen und nicht winken. Motor laufen lassen und den Mann absetzen wie ein Stück Expressgut. Schiffe geh’n und Schiffe kommen, und das Abschiednehmen, das Willkommenheißen muss man beiläufig erledigen, gleichmütig wie die See, die immer da ist, aber auch auf keinen wartet.

Es gibt für einen Mann, wenn er von einem Schiff nach Hause kommt, nie eine Zeit der Schonung. Kein Essen in der guten Stube, von den feinen Goldrandtellern. Nach einem Abendbrot am Küchentisch spült sie die alten Tassen mit dem Zwiebelmuster und wirft ihm das Geschirrtuch zu.

Die Frau, die nicht an Hafenkanten winkt, bewahrt in ihrem Haus die Dinge auf, die alle Kapitänsfamilien hüten: Seemannskisten und Sextanten, Kompasse und Messingzirkel, Seefahrtsbücher. Nachlässe der Väter, Brüder, Ehemänner, ihre handgeschriebenen Berichte von entbehrungsreichen Reisen. Von den Schiffen, die sie liebten, und den Walen, die sie töteten, von Mast- und Knochenbrüchen und Erfrierungen und schweren Stürmen, alles glücklich überstanden. Es sind die Chroniken der Überlebenden und Tüchtigen, die in den Seemannskisten liegen, und in den guten Stuben stehen ihre Ablassgaben, von großen Fahrten mitgebracht, um Frauen, die zu lange warten mussten, zu besänftigen: blau-weißes Teegeschirr aus Porzellan, durchscheinend wie Papier, und Silberschalen, nie benutzt. In den Vitrinen ausgestellt wie glänzende Pokale, die für Treue oder Tapferkeit verliehen wurden.

Irgendwo in diesem Haus, verborgen unter Deckenbalken, hinter Mauerankern oder alten Fliesen, in den Ritzen eines Knochenzauns vielleicht, müssten auch noch die Geschichten sein, die nicht geschrieben wurden: die Erinnerungen der Ertrunkenen, von einem Mast Erschlagenen, Verschollenen, Erfrorenen und an Skorbut Gestorbenen.

Und in den Wäschetruhen, tief versenkt, die Nachlässe der Seemannsfrauen: Chroniken des Wartens und Alleinseins, der Winterhochzeiten, des Kindersterbens und der Witwenschaft, vermutlich eingestickt in Taufkleider und Bettbezüge, eingenäht in Trachtensäume, eingeklöppelt in die Spitzendecken, für die Töchter.

Die Frau bewahrt auch diese Dinge auf.

Es könnte sein, dass ihre Ungeduld ein Erbstück ist von Müttern, die ihr halbes Leben lang ein Weltmeer zwischen sich und ihren Männern hatten. Und dass ihr Haus in einem alten Rhythmus atmet: schwer im Frühjahr, schnell im Sommer, kurz im Herbst und tief im Winter, wie der Mann, der es gebaut hat, und die Frau, die ihn im Februar in Richtung Eismeer segeln sah, im Juni auf den Heufeldern gebraucht hätte und im Oktober auf ihn wartete, mit einem neuen Kind im Arm. Wenn es ein Mädchen war, bekam es mit der Muttermilch wohl schon die Antikörper gegen alle Krankheiten des Wartens.

Das alles weiß man nicht. Ob sich das Frieren und die Ungeduld vererben, wie der Atem eines alten Hauses geht und wo sich die Erinnerungen der auf See Gebliebenen verbergen, das alles fragen sich vielleicht nur Menschen, die zu lange mit den Händen in den Taschen an der See gestanden haben. Sie wirft dann Fragen an den Strand wie Muscheln oder kleine Stöcke. Ein altes Spiel der See, die meisten spielen mit.

Die Frau, die jeden Abend schnell und schweigend einen Mann von einem Schiff abholt, hält nichts von Händen in den Taschen, und sie bückt sich nicht nach Muscheln, Steinen oder Stöckchen.

Am rechten Mittelfinger trägt sie einen Ring mit einem gletscherblauen Stein, den ihr vor vielen Jahren einer mitgebracht hat. Auch eine dieser Ablassgaben, hochkarätig, die sie aber nicht besänftigt hat, im Gegenteil. Er war von Anfang an ein bisschen groß, sie trägt ihn trotzdem alle Tage, weil er schön ist und sie findet, dass sie ihn verdient hat. Seemann geht, Gold besteht. Beide Hände fest am Steuer, fährt sie abends Richtung Hafen, etwas Puder im Gesicht und etwas Lippenstift, die Kleider selbst genäht, aus guten Stoffen....

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alex Capus • Altes Land • Bestseller Bücher Neuerscheinungen 2022 • bestsellerliste spiegel aktuell • Carmen Korn • Familie • Familiengeschichte • Generationen • Heinz Strunk • Insel • Inselleben • Klima • Klimaschutz • Klimawandel • Kristine Bilkau • Mariana Leky • Mittagsstunde • Neuerscheinung 2022 • Nordsee • Romy Fölck • Spiegel Bestseller Autorin • Spiegel Bestseller Nr. 1 • Spiegel Bestseller Platz 1
ISBN-10 3-641-28497-X / 364128497X
ISBN-13 978-3-641-28497-8 / 9783641284978
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