In einem dunklen Sommer (eBook)
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01363-6 (ISBN)
Antonio Manzini, geboren 1964 in Rom, ist Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Seine im Aosta-Tal angesiedelten Kriminalromane um den charismatischen Ermittler Rocco Schiavone stehen in Italien regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten und wurden erfolgreich verfilmt.
Antonio Manzini, geboren 1964 in Rom, ist Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Seine im Aosta-Tal angesiedelten Kriminalromane um den charismatischen Ermittler Rocco Schiavone stehen in Italien regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten und wurden erfolgreich verfilmt. Anja Rüdiger, geboren in Bonn, hat in Köln, Paris und Santander Übersetzen/Dolmetschen studiert. Fünfzehn Jahre lang hat sie in verschiedenen Verlagen als Lektorin und Programmleiterin gearbeitet. Seit 2011 ist sie als freie Übersetzerin, Lektorin und Literaturscout tätig.
I
Vor einer halben Stunde waren die abendlichen Lichter angegangen, und die Luft war kühl und angenehm. Ein paar Leute kehrten erst jetzt mit eiligen Schritten nach Hause zurück. Er dagegen stand da, bewegungslos, auf dem Gehsteig der Via Brean, und konnte sich nicht überwinden. Dabei brauchte er nur die Straße zu überqueren und an der Sprechanlage zu klingeln, der Rest würde sich von allein ergeben. Doch er konnte sich nicht zu den wenigen Schritten aufraffen. Die Hände in den Taschen, zerknautschte er weiter den Zettel mit der Adresse: Via Brean 12, Studio M.
Was hielt ihn zurück? Warum schienen seine Sohlen auf einmal auf dem Gehsteig festgewachsen?
«Ciao, Amigo, willst du?»
Die Stimme ließ ihn herumfahren. Ein Afrikaner, der jede Menge in Zellophan verpacktes Zeug dabeihatte, bot ihm ein Paar Baumwollsocken an. Filo di Scozia.
«Wie geht’s? Zehn Euro, Amigo …» Der Mann streckte ihm fragend die freie Hand entgegen.
«Allora, willst du? Zehn Euro!»
Marco verneinte mit einer Kopfbewegung.
«Hast du ein bisschen Kleingeld? Für einen Kaffee?»
Marco nickte, blieb aber mit den Händen in den Taschen stehen, unbeweglich, ein Wachtposten mit präzisem Befehl, ein Lichtmast auf der Straße. Der Schwarze wartete und sah ihn an, dann grinste er mit seinen weißen Zähnen und schüttelte ein paarmal den Kopf.
«Amigo, hast du ein bisschen Kleingeld?», wiederholte er.
Langsam zog Marco seine Brieftasche hervor. Darin waren ein Fünfzig- und ein Zehn-Euro-Schein. Er nahm den Zehn-Euro-Schein und hielt ihn dem anderen hin. Der Straßenhändler schnappte sich wortlos das Geld und gab ihm dafür die Socken, die Marco, ohne den Mann anzusehen, entgegennahm.
«Ciao, Amigo …» Der Schwarze ging mit großen Schritten davon.
Marco wandte den Blick wieder dem Gebäude mit der Nummer zwölf zu. Ein mehrstöckiges Backsteinhaus mit einer verglasten schmiedeeisernen Eingangstür, kein Portier, die Sprechanlage an der rechten Seite.
Wie spät ist es wohl?, fragte er sich.
Viertel nach acht. Wie waren noch mal die Zeiten? Von fünfzehn bis einundzwanzig Uhr oder von fünfzehn bis zwanzig Uhr? Vielleicht war sie ja schon nicht mehr da? Er nahm sein Handy heraus und gab noch einmal die Nummer ein, die er bereits am Morgen gewählt hatte. Er wartete, bis sich der Anrufbeantworter meldete. «Ciao … hier ist Sonya … du findest mich in der Via Brean an der Kreuzung zur Via Monte Grivola. Komm … ich bin sehr schön, eine heiße Latina mit Körbchengröße E. Ich bin immer da und warte auf dich, um Dinge machen, die du magst … Brauchst du jemand zum Kuscheln? Möchtest du sehr lange Liebe machen? Oder doppelt Penetration? Ich habe auch eine Überraschung für dich. Alles, was du willst … sehr entspannte und saubere Zimmer … Komm heute, am Sonntag, zwischen fünfzehn und einundzwanzig Uhr in die Via Brean 12 und klingel an Sprechanlage bei Studio M … M wie Mailand … Ciao, Hubscher, ich warte auf dich!»
Es war noch früh genug. Aber in seinem Magen rumorte es in einem fort, und seine Beine blieben dort, wo sie waren. Vielleicht weil er sich die Szene schon so oft ausgemalt hatte. Wie sie ihn im Korsett und in schwarzen Seidenstrümpfen erwartete. Nur mit Slip und ohne BH. Die dunklen Brustwarzen, die sich unter dem durchsichtigen Negligé abzeichneten, während sie auf schwindelerregend hohen Absätzen, die auf dem Steinboden klackerten, auf ihn zustöckelte. Üppige Lippen, halb geschlossene Lider, offenes schwarzes Haar und eingehüllt in den Duft nach frischen Blumen und warmem Brot. Wie sie ihn bat, sich aufs Bett zu setzen, ihn küsste, ihn entkleidete und stundenlang auf ihm ritt, die riesigen Brüste direkt vor seinen Augen. Dabei wusste er insgeheim, irgendwo tief in seinem Bewusstsein, nur allzu gut, dass eine Frau wie Sophia Loren in Gestern, heute und morgen wohl kaum über eine Anzeige in der Rubrik Online-Dating der hiesigen Zeitung zu finden war. Wer weiß, was ihn im Studio M in der Via Brean tatsächlich erwartete. Ob das Foto auf der Website echt war? Es zeigte eine Frau in Dessous, deren Gesicht im Verborgenen blieb. Und daneben stand Lass dich überraschen!, was ihn am meisten erregte.
Marco hielt es einfach nicht mehr aus. Er war zweiundfünfzig, seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, Vater von drei Kindern und saß seit zwei Jahren auf dem Trockenen. Barbara hatte den Hahn zugedreht und ließ ihn verdursten, nachdem bei ihr fliegende Hitze und ständige Launenhaftigkeit an die Stelle von einem Lächeln und ein paar Streicheleinheiten getreten waren. Sie hatte keine Lust mehr auf Sex, während er immer noch so spitz war wie Nachbars Lumpi. Zwei Jahre absolute Dürre, abgesehen von einem unvollendeten Blowjob einer Vertreterin für Badarmaturen, die er bei einem Kongress für Heizungstechnik in Florenz kennengelernt hatte. Er war an dem Abend so voll wie eine Haubitze gewesen und hatte auf der Piazza della Signoria We Are the Champions gesungen. Er konnte sich nicht mal mehr an den Namen der Frau erinnern, und es war auch kein wirklich herausragendes Erlebnis gewesen. Trotz allem hatte er wochenlang gezögert, bevor er Sonyas Nummer wählte. Er hatte immer wieder mit dem Telefon in der Hand dagestanden und sich dann doch nicht getraut. Nachts hatte er von der erotischen Begegnung geträumt und war am Morgen mit einer derart schmerzhaften Erektion aufgewacht, dass er noch vor dem Frühstück ins Bad rennen musste, um sich Erleichterung zu verschaffen.
Er brauchte dringend einen Fick.
Im Geschäft redeten seine beiden Kollegen Giorgio und Andrea ununterbrochen von feurigen Geliebten, unersättlichen Ehefrauen und zügellosen Geschiedenen, die immer zur Verfügung standen. Er beschränkte sich darauf zu lächeln und dachte an Barbara, die ihre Negligés und die farblich abgestimmten Dessous längst gegen Flanellpyjamas mit Teddybärenmuster oder inzwischen farblose Shirts mit dem Logo ihres Geschäfts für Sanitärtechnik getauscht hatte. Keine High Heels mehr, sondern abgetretene Ballerinas oder Flip-Flops, und der letzte Friseurbesuch war gefühlte Jahrhunderte her. Marco hatte immer wieder versucht, das Problem zur Sprache zu bringen, aber es war, als würde er gegen eine Wand reden. Er hatte es mit einem Ausflug zu den Thermen von Pré-Saint-Didier probiert und gehofft, das warme Wasser und die Massagen würden wenigstens für eine Nacht Tote zum Leben erwecken, aber stattdessen hatte seine Frau um halb zehn bereits tief und fest geschlafen. Auch die Weihnachtsgeschenke vom letzten Jahr waren eine vergebliche Liebesmühe. Barbara hatte Strümpfe und Strumpfhalter aus Spitze zusammen mit dem Negligé in den Laden zurückgebracht und gegen zwei blaue Handtücher und einen gelben Bademantel für Ginevra, ihre jüngste Tochter, umgetauscht. Bei Marco waren indessen Lust und Frust immer größer geworden, sodass er schon bald nicht mehr wusste, wohin mit sich. Also stand er nun hier auf dem Gehsteig und starrte wie versteinert auf den Eingang, der ihm eine halbe Stunde duftende Haut und ins Ohr geflüsterte zärtliche Worte versprach.
Es ist mein gutes Recht, dachte er. Ich brauch das jetzt. Verdammt, sonst gehe ich ein!
Und warum stand er dann wie angewachsen hier rum?
Aus Angst.
Die Angst verfolgte ihn, seit er diesen Entschluss gefasst hatte. Angst, den nackten Körper einer fremden Frau zu berühren, ihren Duft zu riechen, und vor allem Angst, dass ihn jemand sah. Aosta war nicht New York. Zwar kannte er niemanden, der hier wohnte, aber er hatte ein Geschäft, in dem viele Kunden ein und aus gingen. Und was, wenn er klingelte und gerade eine Mutter mit ihren Kindern aus dem Haus kam, während es aus der Sprechanlage tönte: «Komm rein, mein Hubscher, ich warte schon sehnsüchtig, um dich zu verwöhnen»? Das wäre wirklich verdammt peinlich! Oder wenn einer der Nachbarn ihn schief ansah und feststellte: «Den kenn ich doch! Was macht der denn hier? Ist das nicht der mit dem Sanitärgeschäft?» So was sprach sich schnell herum. Drei Tage später wusste es jeder. Einschließlich seiner Frau. Oder – noch schlimmer – Ginevra. In der Schule würden sie sie jahrelang hänseln und ihr etwas hinterherrufen wie: «Dein Vater geht zu Nutten, dein Vater geht zu Nutten!» Wie sollte er seiner Tochter dann noch in die Augen sehen können? Ob sie überhaupt noch mit ihm reden würde? Der Umgang mit einem Teenager war ohnehin schon schwierig genug, so ein zusätzliches Problem wäre das Ende.
Warum hatte er sich nicht eine Prostituierte in einer anderen Stadt gesucht? In Turin zum Beispiel?
Er hatte das durchaus in Erwägung gezogen. Aber wie hätte er seiner Frau gegenüber die Fahrt nach Turin erklären sollen? Mit einem Auftrag? Das war in all den Jahren seiner unbescholtenen beruflichen Laufbahn noch nie vorgekommen. Barbara würde sofort wissen, dass das gelogen war. Vielleicht sollte er seine beiden Kollegen einweihen und sie um Rückendeckung bitten, aber damit wäre die Sache öffentlich, oder zumindest wussten es dann Giorgio und Andrea. Und die Vorstellung, dass die beiden erfuhren, wie schlecht es bei ihm zu Hause lief und dass er sich in fremde Betten flüchtete, gefiel ihm gar nicht. Sie kannten Barbara seit zwanzig Jahren. Das wäre eine absolute Respektlosigkeit ihr gegenüber, ein Schlag ins Gesicht. So was konnte er ihr nicht antun. Sie war eine gute Ehefrau und eine gute Mutter, aber er brauchte trotzdem dringend einen Fick. Das kleine Gehirn, das Männer nun mal zwischen den Beinen hatten, gab keine Ruhe mehr....
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2023 |
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Reihe/Serie | Rocco Schiavone ermittelt | Rocco Schiavone ermittelt |
Übersetzer | Anja Rüdiger |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alpen • Alpenkrimi • Aostatal • Aostatal Krimi • Berge • Der Kommissar und die Alpen • Italien • Italienische Bücher • italienischer kriminalroman • ItalienKrimi • Krimi Neuerscheinungen 2023 • Krimis aus Italien • Krimiserie Aostatal • Norditalien • Rocco Schiavone • Schnee • Skifahren • Wandern |
ISBN-10 | 3-644-01363-2 / 3644013632 |
ISBN-13 | 978-3-644-01363-6 / 9783644013636 |
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