WILLOW singt, schreibt eigene Songs und ist politisch aktiv.
1
Yafeu
Das Antilopenkalb entfernt sich zu weit von seiner Mutter.
Reglos hocke ich hinter einem Felsen und verfolge seine Bewegungen, während der kleine Bock das ausgedörrte Flussufer nach den letzten Büscheln Sumpfgras absucht. Meine Füße sind fest auf den Boden gepresst, meine Oberschenkelmuskeln gespannt wie Bogensehnen, ich bin zum Sprung bereit. Seit ich die kleine Herde auf ihrem Weg zum Weißen Fluss entdeckte, hat in meinem Körper kein Muskel mehr gezuckt. Durch jahrelanges Training schaffe ich es, die Anstrengung auszublenden; mein Atem geht gleichmäßig, meine Gelenke geben keinen Laut von sich. Ich verlangsame den Fluss meines Nyama – jener Energie, die allem innewohnt –, bis ich ebenso reglos verharre wie der Felsblock.
Du musst so lautlos sein wie der Tod selbst.
Papas tiefe, warme Stimme erklingt in meinen Gedanken ebenso klar, als würde er die Worte laut sagen. Als stünde er direkt neben mir.
Konzentriere dich, sagt er.
Kontrolliert lasse ich die Luft aus meinem Körper entweichen. Bald schon nehme ich das Nyama der Herde ebenso deutlich wahr wie mein eigenes. Ein starker Strom verbindet das Kalb mit dem Muttertier, beide spüren die Nähe des anderen. Das Kalb ist zwar groß genug, um nicht mehr bei der Mutter zu trinken, aber noch nicht erwachsen genug, um sich der Gefahren ringsum bewusst zu sein. Eine frisch geschmiedete Klinge, die noch geschärft werden muss.
Der Weiße Fluss ist flach und schlammig, seine Ufer kahl. Die Grasbüschel, die hier wie die Flecken auf dem Fell einer Giraffe die rötliche Erde zierten, sind verschwunden. Mich umgibt trockenes, sprödes Land, in dem sich kaum mehr Leben regt. Noch mindestens ein Mondlauf wird vergehen, bevor uns Sogbo wieder mit Regen segnet, sodass wir die Saat streuen können. Doch die verdorrte Erde ist mit einem zarten rosafarbenen Schimmer überzogen, da Lisa sich nun langsam über den Horizont erhebt. Die Wärme des Sonnengottes streicht angenehm über meine schwarze Haut, sein Licht lässt die Akazienbäume erstrahlen und weckt die dunkelroten Astrilden, die nun ihr Morgenlied anstimmen. Als ich meinen Tag begann, waren selbst die Vögel noch nicht wach. Rastlosigkeit weckt mich oft zu einer Zeit, in der noch Mawu über die Welt herrscht – immer dann, wenn die Stunde der Jagd gekommen ist.
Das Kalb kommt immer näher, das diffuse Licht des frühen Morgens zeichnet Schatten auf meinen Felsen. Ich sehe bereits vor mir, wie seine winzigen Hörner zwischen den verschiedenen Zähnen und Klauen mein Jagdhemd zieren. Andenken an jene Tiere, die ich in die ewige Nacht geschickt habe.
Vertraue deinem Instinkt. Auch eine Lektion von Papa. Dieser Instinkt wirkt durch dich, um zu töten.
Meine Geduld scheint sich an der Spitze meines Wurfmessers zu manifestieren, als ich es lautlos aus der Scheide ziehe. Ich hebe meinen Arm, so langsam, dass es beinahe schmerzt, bis die Klinge auf Höhe meiner Ohren verharrt.
Jetzt.
Doch gerade als ich zustechen will, schießt ein braun-schwarzer Schatten hinter einer Akazie hervor: Ein Wildhund stürzt sich auf meine Beute.
Die Herde flieht, das Kalb flüchtet sich zu seiner Mutter. Der Biss des Wildhundes geht ins Leere. Er hetzt dem Kalb noch kurz nach, muss dann aber mitansehen, wie die Antilope am Horizont verschwindet. Ist die Herde einmal in Bewegung, ist es beinahe unmöglich, sie einzuholen – das wissen wir beide.
Bei Legbas Gerissenheit! Mein Herz wird so schwer wie mein leerer Magen. All meine Geduld, vollkommen verschwendet!
Ich stehe auf, entspanne meine verkrampften Beinmuskeln und starre finster zu dem Wildhund hinüber, der mich offenbar gar nicht bemerkt hat, da er noch immer der Herde hinterherblickt. Jetzt sehe ich, dass es ein Weibchen ist.
Vielleicht sollte ich mir ihre Zähne für meine Sammlung holen. Um sie nach Hause zu schaffen, ist sie sicher zu schwer, aber ich könnte sie häuten und Mama ihr Fell mitbringen. Dann wäre dieser Morgen nicht vollkommen vergeudet.
Vorsichtig hebe ich wieder mein Messer, doch irgendetwas lässt mich zögern. Die Größe der Hündin verrät mir, dass sie noch nicht voll ausgewachsen ist, und ihre deutlich hervortretenden Hüftknochen zeigen, wie schlecht sie durch die Trockenzeit kommt. Vielleicht wurde sie während der letzten Regenfälle von ihrer Mutter getrennt. Nur ein unerfahrener Jäger stürzt sich so verfrüht auf seine Beute und verdirbt sich dadurch die Chance auf einen leichten Fang.
Der Hunger lässt uns alle zu wagemutig werden.
Als hätte das Tier meine Gedanken gelesen, dreht es den Kopf und sieht mich an.
Seine braunen Augen fixieren mich und plötzlich scheint der Sahel ringsum zu verschwimmen.
Die Zeit verlangsamt sich, eine nicht greifbare Vorahnung liegt in der Luft. Sie drückt auf mein Herz, wie die große Schlange Bida sich um ihre Beute schlingt.
Doch dann wendet sich die Hündin ab und trottet davon, und das merkwürdige Gefühl vergeht so schnell, wie es gekommen ist.
Achselzuckend bringe ich mich selbst wieder zur Besinnung. Meine Zunge ist geschwollen, und mein Mund fühlt sich an, als hätte ich Erde gegessen. Wie lange ist es her, dass ich etwas getrunken habe?
Mit einem frustrierten Grunzen stecke ich mein Messer weg. Die kleinen Knochen an meiner Brust schlagen klappernd aneinander, als ich zum Fluss hinuntergehe. Ich trinke ein paar Schlucke, dann spritze ich mir Wasser ins Gesicht und genieße die feuchte Kälte auf der Haut.
Aber die Gedanken an die Wildhündin lassen sich nicht abspülen.
Diese Begegnung erinnert mich an etwas, das vor einigen Jahren passiert ist, auch am Ufer des Weißen Flusses, allerdings viele Tagesritte von hier entfernt.
Damals gab es noch Wege zwischen den Städten unserer Wohnstatt und ein Heim fanden wir nur beieinander. Ich fand mich zu jener Zeit noch nicht im eigenen Körper zurecht, sodass ich oft blaue Flecken an Armen und Beinen hatte, da sie mir beim Laufen ständig in die Quere kamen.
Wir hatten unser Zelt vor den Toren der Stadt Jenne aufgeschlagen. Papa kannte dort ein paar hohe Herrschaften, die ihm für seine gerade fertiggestellten Waffen gutes Geld bezahlten, während Mama deren Ehefrauen dazu verführen wollte, ein paar ihrer Halsketten zu kaufen.
Papa und ich standen früh auf, um fischen zu gehen, bevor es zu heiß dafür wurde. Kamo und Goleh waren noch zu klein und unbändig, um mitzukommen, also ließen wir sie und Mama weiterschlafen. Ich weiß noch genau, wie aufgeregt ich war – für mich gab es nichts Wertvolleres, als Zeit mit Papa zu verbringen, nur wir zwei ganz allein.
Die erste Flut in der Regenzeit hatte kürzlich eingesetzt und so barst der Fluss geradezu vor Leben. Ich kämpfte mit einem prall gefüllten Netz voller Butterfische, und als ich es in unser kleines Kanu hieven wollte, kippte ich das Boot um, sodass wir gemeinsam mit unserem Fang im Wasser landeten. Mama wäre sicher wütend geworden, aber Papa lachte nur ausgelassen und tauchte mich unter. Dann zog er das Boot ans Ufer, während ich hinterherschwamm.
Papa sah das Krokodil zuerst. Ich bemerkte, wie er die Augen aufriss, dann brüllte er, ich solle schneller schwimmen. So angestrengt ich konnte, bahnte ich mich mit Armen und Beinen durch das Wasser, obwohl ich eigentlich wusste, dass es keine Rolle spielte: Das Krokodil konnte mich im Wasser mühelos erwischen, mein kurzes Leben würde gleich enden. Aber mein Instinkt trieb mich verbissen an weiterzuschwimmen. Mein Herzschlag schien in meinem gesamten Körper widerzuhallen, als ich endlich das Ufer erreichte.
Papa zog mich hoch und setzte mich hinter sich ab wie einen Sack Hirse. Als ich mich umdrehte, starrte er das Krokodil an, das reglos im flachen Wasser lauerte. Er zog sein Messer und ließ es von einer Hand in die andere wandern. Ich weiß noch, wie die Klinge im Sonnenschein funkelte, als hätte Gu Lisa aufgetragen, all seine Macht in dieses Messer zu leiten.
Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, während Papa und das Krokodil einander fixierten. Dann drehte sich das Krokodil um und verschwand in den Weiten des Flusses.
»Die Götter haben uns gerettet!«, rief ich begeistert.
»Nein.« Papa steckte sein Messer weg. Er kniete sich vor mich und griff nach meinen Händen. »Die Menschen glauben gern, dass die Götter oder die Geister für alles verantwortlich sind, das ihnen widerfährt. In Wahrheit aber wird ihr Schicksal durch den Glauben selbst bestimmt.« Unverrückbare Überzeugung glänzte in seinen mahagonibraunen Augen. »Ich sage dir, Tochter, Glaube ist Macht. Aber es steckt auch eine Entscheidung dahinter. Wenn du dich dafür entscheidest, an etwas zu glauben, verleihst du ihm damit Macht. Ich habe mich dafür entschieden, daran zu glauben, dass ich stärker bin als dieses Krokodil. Also war ich stärker. Deshalb ist es verschwunden, nicht durch das Wirken der Götter. Aber vielleicht haben die Götter mich tatsächlich gerettet: Vielleicht haben sie mich gerettet, weil ich bereit war, mich selbst zu retten.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Mama sagt, wir müssen die Götter und die Ahnen ehren. Sie sagt, ich kann viel von ihnen lernen.«
Ein verstohlenes Lächeln huschte über sein Gesicht, sodass für einen Moment eines der Grübchen zum Vorschein kam. »Deine Mutter ist eine sehr weise Frau.«
Völlig perplex starrte ich ihn an. Eines war jedoch klar: Mein Papa war kein gewöhnlicher Schmied. Von diesem Augenblick an war er für mich wie ein Held aus unseren alten Sagen. Yafeu, der Mann, der...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2024 |
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Übersetzer | Charlotte Lungstrass-Kapfer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Black Shield Maiden |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 2023 • 2024 • Abenteuer • Afrikanische Geschichte • afrikanische Mythen • Diversity • eBooks • Epos • Fantasy • Hollywoodstar • Intrigen • Kriegerinnen • Liebe • Märchenbuch • Neuerscheinung • Schlachten • skandinavische Sagen |
ISBN-10 | 3-641-29462-2 / 3641294622 |
ISBN-13 | 978-3-641-29462-5 / 9783641294625 |
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