Melodie des Bösen (eBook)

Kriminalroman. Atmosphärische Spannung im Paris der 20er-Jahre

(Autor)

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2022
464 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-28689-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Melodie des Bösen - Britta Habekost
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In den Bars feiern die Pariser ausgelassen zu den betörenden Klängen des Jazz, doch auf den Straßen treibt ein grausamer Serienmörder sein Unwesen ...
Paris 1925: Während die Klänge von Jazzmusik durch die schmalen Gassen von Montmartre wehen, wird auf dem Friedhof Père Lachaise eine grausame Entdeckung gemacht. Ein menschliches Herz wurde vor Frédéric Chopins Grab niedergelegt. Ermittler Julien Vioric erinnert der groteske Anblick an den einzigen ungelösten Fall seiner Karriere - einen skandalumwitterten Fund vor zwölf Jahren. Seine Recherchen führen ihn in die Kreise junger Exilanten und zur rechtsextremen Action française, die immer wieder gewaltsame Überfälle organisiert. Inmitten des Chaos taucht plötzlich eine weitere Leiche auf und Vioric weiß, dass weitere Tode folgen werden ...

»Britta Habekost schreibt sehr ausdrucksstark und bildgewaltig, manchmal poetisch, dann wieder brutal realistisch. Ihr Paris ist eine Stadt voller Gewalt, Vergnügungssucht und Hysterie.« NDR Kultur über Stadt der Mörder

Britta Habekost, geboren 1982 in Heilbronn, studierte Literatur sowie Kunstgeschichte und arbeitete unter anderem als Museumsführerin. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft für surrealistische Dichter wie André Breton und Louis Aragon, die sie in ihrem historischen Kriminalroman »Stadt der Mörder« gekonnt durch die Szenerie wandeln lässt. Wenn sie nicht gerade an einem Buch schreibt, reist sie mit ihrem Mann durch Asien.

1

Zwölf Jahre später

8. Mai 1925, Rue Chaptal, spätnachts

Julien Vioric presste sich das Kissen auf seine Ohren, aber der Trompeter torpedierte die Nacht mit einer Penetranz, die Vioric sonst nur von besonders hartnäckigen Wespen kannte. An Schlaf war nicht zu denken. Wenn diese Trompete im Stockwerk über ihm wenigstens etwas gespielt hätte, das ihm vertraut gewesen wäre, hätte er sich ein wenig in der Melodie verlieren können, während er gegen die dunkle Zimmerdecke starrte. Stattdessen glaubte er, in der rasenden Aneinanderreihung der Töne so etwas wie ein spöttisches Lachen zu hören. Als wollte diese Musik seinem Geist ein unlösbares Rätsel aufgeben. Und etwas an diesen abstrusen Klängen schien ihn auch herauszufordern. Ohne Zweifel zum Tanzen, was das Ganze noch nervenaufreibender machte. Warum spielte dieser Trompeter sie in einem privaten Wohnhaus mitten in der Nacht und nicht in einem der vielen Musik-Clubs der Umgebung? Vioric dachte wehmütig an seine alte ruhige Wohnung im sechsten Arrondissement, in der das Lauteste, was seine Nacht hätte stören können, der Hustenanfall eines Nachbarn war oder streitende Katzen unten im Schatten von Saint-Sulpice. Aber er hatte die Wohnung aufgegeben und vermietet, um von den Mieteinnahmen leben zu können, ehe er eine genaue Vorstellung davon hatte, wie es mit seinem Leben weitergehen sollte. Für die Zwischenzeit hatte er sich eine günstige Wohnung am Montmartre besorgt. Das Haus wurde hauptsächlich von Einwanderern aus Amerika und der Karibik und einigen Theaterschauspielern bewohnt, und die meisten dieser Bewohner waren nachts nicht zu Hause. Nun, das erklärte, dass niemand sonst im Haus sich von der entfesselten Trompete gestört fühlte.

Vioric sprang aus dem Bett, zog sich etwas über und lief die Stufen bis zur Mansarde hoch. Er hämmerte gegen die Tür, an der kein Name angebracht war, aber die Trompete ließ sich dadurch nicht beirren. Die Töne hüpften, glucksten und plärrten, und Viorics Ruhelosigkeit steigerte sich. Er wollte schlafen, doch bei diesem rasenden Rhythmus würde er noch bei Sonnenaufgang aufrecht im Bett sitzen und mit den Füßen den Takt mitwippen. Ein pochender Schmerz kroch in seinen Hinterkopf. Für einen Moment spielte Vioric mit dem Gedanken, die Tür seines Nachbarn einzutreten und ihm seine Trompete von den Lippen zu reißen.

Das Holz zitterte unter seinen Schlägen. Ganz plötzlich erstarb die Melodie. Die Tür wurde aufgerissen. Das Erste, was Vioric auffiel, war die Tatsache, dass der Mann hinter der Tür offenbar noch andere Menschen zu gewalttätigen Fantasien anregte.

Auf seiner Stirn prangte ein schlampiger Verband und Vioric sah auf der Brust tiefviolette Blutergüsse. Der Mann trug nur eine lose blaue Leinenhose und war barfuß. Das spärliche Licht, das aus der Mansarde ins Treppenhaus fiel, lag wie Goldstaub auf seiner dunklen Haut. Die Trompete ließ er fast aufreizend in der linken Hand baumeln und sein Blick traf Vioric nur aus einem Auge. Das andere war halb zugeschwollen. Vioric starrte seinen neuen Nachbarn verblüfft an. Dieser betrachtete sein Instrument, als wäre es ein Kind, das einmal mehr für Ärger gesorgt hatte. »Ich bin zu laut, was?«

Vioric nickte. »Monsieur, ich weiß zwar nichts von Trompeten, aber ich gehe davon aus, dass man sie nicht leise spielen kann. Zumindest nicht so leise, dass andere Leute währenddessen ein Stockwerk drunter schlafen können.«

»Sie wollen schlafen?« Der Mann sah ihn an, als hätte Vioric ihm gerade von einem seltenen, schrecklichen Laster berichtet.

»Es ist halb drei. Was denken Sie denn, was ich um diese Uhrzeit will?«

»Tanzen. Lieben. Vielleicht beides?«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Monsieur …?«

Der Mann lächelte Vioric entschuldigend zu.

»Sie können mich Jean nennen. Ich bin alles, aber gewiss kein Monsieur.«

Jean, der alles, aber kein Monsieur war, öffnete die Tür noch weiter und gestattete Vioric einen Blick in das schummrig beleuchtete Mansardenzimmer. Auf den ersten Blick sah er mehrere übereinanderlappende Teppiche, einen Sessel, ein schmales Eisenbett, Notenstapel und noch drei weitere dieser blechernen Ungeheuer, die aus aufgeklappten Lederkoffern blitzten. Vioric war entwaffnet. Was nicht nur an den Blessuren seines Nachbarn lag, sondern auch daran, dass er ihn an einen jungen surrealistischen Dichter erinnerte, den Vioric im letzten Winter kennengelernt hatte. Jean stellte mit Tönen ungefähr das an, was Louis Aragon mit Sprache gelang. Etwas Freches, Unerhörtes, das Vioric sich alt fühlen ließ, das ihn aber auch kitzelte und auf eine nicht unangenehme Weise provozierte.

»Haben Musiker keinen Proberaum oder etwas in der Art, wo sie spielen können, wann immer ihnen danach ist?« Vioric rieb sich die brennenden Augen.

Das Lächeln des Mannes verschwand. »Verschaffen Sie mir einen solchen, dann sind Sie mich los. Aber normalerweise stehe ich um diese Zeit ohnehin auf einer Bühne. Aber nicht so.« Er deutete auf seine Verletzungen.

»Was genau ist Ihnen zugestoßen?« Viorics geschultes Auge verriet ihm, dass die Prügel, die der Mann eingesteckt hatte, nicht von einer gewöhnlichen Kneipenschlägerei stammten. Die Verletzungen sahen brutal und gezielt aus. Etwas Gehetztes und zugleich Verstohlenes war in den Blick des jungen Mannes getreten, als er an Vioric vorbei ins Treppenhaus spähte. Sein unversehrtes Auge verengte sich. »Sind Sie von der Polizei?«

»Ich bin einfach nur ein Nachbar, der versucht, freundlich zu sein.« Vioric hob ergeben die Hände, aber er fühlte sich ertappt. Jean starrte ihn an. Das Lächeln kehrte nicht zurück. Vioric ließ die Arme sinken.

»Sie haben Recht. Ich war früher bei der Polizei.«

Jean senkte den Blick. Seine Finger strichen geistesabwesend über das Mundrohr seiner Trompete.

»Wissen Sie, die Leute hier sind nachts meistens außer Haus«, sagte er.

»Ich wusste nicht, dass jemand hier ist, den die Musik stören könnte. Ich werde den Dämpfer nehmen. Dann können Sie schlafen.«

Vioric betrachtete seinen Nachbarn nachdenklich. »Wissen Sie, so müde bin ich eigentlich gar nicht mehr.«

Das war gelogen, aber die Vorstellung, nun wirklich ungestört in seinem Bett zu liegen, erfüllte Vioric mit Unruhe und Widerwillen. Die Stille würde sich einmal mehr mit den Erinnerungen an die letzten vier Monate füllen, an Antibes und an Nicolette. Immer wieder: Nicolette. Er müsste sich erneut fragen, warum er es nicht geschafft hatte, sie anzusprechen. Sich ihr auch nur zu nähern. Er hätte nur von dieser Bank am Hafen aufstehen und Nicolette auf sich aufmerksam machen müssen. Allerdings hätte er dann auch diesem jungen und unzweifelhaft gut aussehenden Arzt in die Augen blicken müssen, der sie sonntags über die Mole spazieren führte. Vioric hatte Nicolette nur mit klopfendem Herzen hinterhergesehen, unentschlossen wie Nieselregen. Vier Monate lang hatte er sich gefühlt wie die unansehnliche Vase, die in seiner Pension auf der alten Kommode gestanden hatte – so gänzlich von feinen Rissen durchzogen, dass es ihm unmöglich gewesen war, sie fester anzupacken oder irgendetwas an ihrem Standort zu ändern, ohne sie vollkommen zu zerstören. Aber dann war ihm klar geworden, dass Nicolette nur der äußere Anlass war, seinem Leben in Paris auf dieser Hafenbank in Antibes eine längere Pause zu verordnen. Er hatte in den vergangenen Jahren nicht nur von Nicolette geträumt und sich immer wieder Vorwürfe wegen ihrer dramatischen Trennung gemacht. Nein, es waren auch die salzigen Gerüche dort am Hafen, das gleichmütige Lachen der Möwen und die Monotonie des Meeres, nach der er sich gesehnt hatte. Nach dem weichen Licht an der Küste. Andere Leute fuhren in die Berge, um zur Ruhe zu kommen. Und in dieser Ruhe am Hafen war Vioric allmählich etwas klar geworden. Er brauchte seine garstige, prächtige, aufreibende Großstadt. Er sehnte sich nach Paris wie nach einer anspruchsvollen und launischen Geliebten. Und er gestand sich ein, dass ihm das Leben, das er Nicolette damals vor seiner Beförderung an die Préfecture versprochen hatte, nun unerträglich eintönig erschienen wäre. Er folgte ihr mit seinen Blicken und sah sich in der Gestalt des jungen Arztes. Dort ging die Antwort auf seine nagende Frage, ob seine Liebe zu Nicolette in Wirklichkeit die nie endende Sehnsucht nach einem Glück war, für das er nicht gemacht war. Er war nicht dieser Mann, der am Sonntag eine Frau spazieren führte und diese Einsicht hatte ihn der kalte Hafen von Antibes gelehrt. Auch der Beginn des Frühlings, als die Luft seidig wurde und die Nebel das Meer aus ihrem winterlichen Gewicht entließen, hatte an seinem Entschluss nichts geändert.

Und so war Julien Vioric vor ein paar Tagen nicht ganz aus freien Stücken nach Paris zurückgekehrt, sondern weil dieser prachtvolle Moloch der einzige Ort war, an den er aus Antibes hatte fliehen können.

Vioric deutete auf die Blutergüsse am Oberkörper seines neuen Nachbarn. »Wer hat Ihnen die verpasst?«

Jean verzog das Gesicht. »Was kümmert es Sie?«

Vioric lächelte beschwichtigend. »Reiner Eigennutz. Je unversehrter Sie sind, desto ruhiger ist es im Haus, nicht wahr? Nichts für ungut.«

Jean befühlte seinen Unterkiefer. »Ich kann von Glück sagen, dass die Schweine mir nicht den Kiefer gebrochen haben, sonst könnte ich womöglich nie wieder spielen. Hören Sie, Monsieur …« Vioric winkte ab.

»Bitte, nennen Sie mich Julien.«

»Was machen Sie überhaupt in einem Haus wie diesem? Ein...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2022
Reihe/Serie Kommissar Julien Vioric ermittelt
Kommissar Julien Vioric ermittelt
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte 1925 • 2022 • Alex Beer • Art déco • Babylon Berlin • eBooks • Frankreich • Fräulein Gold • Frédéric Chopin • Historische Kriminalromane • historischer Krimi • historisches Paris • Jazz-Musik • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Nachkriegskunst • Neuerscheinung • Niklas Natt och Dag • Volker Kutscher
ISBN-10 3-641-28689-1 / 3641286891
ISBN-13 978-3-641-28689-7 / 9783641286897
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