Die Wintergarten-Frauen. Der Traum beginnt (eBook)
400 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46477-9 (ISBN)
Charlotte Roth, Jahrgang 1965, ist gebürtige Berlinerin, Literaturwissenschaftlerin und seit zwanzig Jahren freiberuflich als Autorin, Übersetzerin und Lektorin tätig. Sie lebt in der weltschönsten Stadt London, behält aber einen Koffer in ihrer Geburtsstadt Berlin und einen Fuß am Golf von Neapel. Ihr Debüt Als wir unsterblich waren war ein Bestseller, dem seitdem zahlreiche weitere Romane über Frauenschicksale vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte folgten
Charlotte Roth, Jahrgang 1965, ist gebürtige Berlinerin, Literaturwissenschaftlerin und seit zwanzig Jahren freiberuflich als Autorin, Übersetzerin und Lektorin tätig. Sie lebt in der weltschönsten Stadt London, behält aber einen Koffer in ihrer Geburtsstadt Berlin und einen Fuß am Golf von Neapel. Ihr Debüt Als wir unsterblich waren war ein Bestseller, dem seitdem zahlreiche weitere Romane über Frauenschicksale vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte folgten
1
Lass mich vorbei, Carlo!«
Wieder einmal hatte sich Ninas Bruder, das Faultier, auf der untersten Stufe der Hintertreppe breitgemacht, weil er zu bequem war, sich seine Reitstiefel im Stehen auszuziehen.
»Weshalb hast du’s denn so eilig?«, fragte er in dem verschlafenen Tonfall, der Nina zuverlässig auf die Palme brachte. Mit seinen sechzehn Jahren war Carlo bei Weitem schwerfälliger als Oma Hulda mit irgendetwas zwischen sechzig und siebzig.
»Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist?« Ruppig drängte sie ihn zur Seite und sprang schon mit einem Satz zwei Stufen hinauf. »Heute kommt er nach Hause!«
»Und was macht dich so sicher?« Mit dem Fingernagel kratzte Carlo eine Art Muster in die Schlammkruste auf seinem Stiefelschaft. »Auf den Tag genau kann das doch keiner wissen.«
»Das Telegramm steht auf dem Sims im Salon!«, konterte Nina triumphierend. »Da heißt es Ankunft 6. März – und er ist keiner, der zu spät kommt. Er ist wie ich.«
Sie drehte sich nicht noch einmal um, sondern eilte durch den Korridor bis zur Tür ihres Zimmers, riss sie auf und lief ans Fenster. Das riss sie ebenfalls auf. Beide Flügel zugleich. Die eisige Luft, die ihr entgegenströmte, fand sie nicht schneidend, sondern belebend. Obwohl der Frühling so nah war, lagen der Vorhof, die von Kastanien gesäumte Allee und der Flickenteppich der Felder noch in diesiges Weiß getaucht, und der Tag, den kein Vogel begrüßt hatte, schien sich schon wieder verkriechen zu wollen. Für Nina aber hätte ihre Welt schöner nicht sein können, nicht einmal am Weihnachtsabend, wenn die Lichter aus allen Fenstern den Schneedecken Glanzpunkte aufsetzten, als hätte jemand im All eine Kiste ausgekippt und sämtliche Sterne verstreut.
Er kommt nach Hause, er kommt heute nach Hause!
Von ihrem Fenster aus würde sie ihn schon von weit her sich nähern sehen – zuerst als weiße Staubwolke inmitten von aufgewirbeltem Schnee, aus dem sich mit jedem Galoppsprung klarer die dunkle Silhouette von Pferd und Reiter schälen würde. Nina hatte sich eigens ein Zimmer im Haupthaus ausbedungen, weil man aus den Fenstern der beiden Seitenflügel einen Ankömmling erst sehen konnte, wenn er bereits auf dem Vorhof war.
Das war nichts für sie. Sie wollte alles, was auf sie zukam, im Voraus sehen und darauf vorbereitet sein. Dass heute ihr Vater auf eine Woche Urlaub nach Hause kommen würde, wusste sie, seit letzten Freitag sein Telegramm eingetroffen war. Daran, dass er pünktlich wie angekündigt eintreffen würde, bestand für sie kein Zweifel, denn so kannte sie ihn: verlässlich wie das Amen in der Kirche, in die sie allerdings schon ewig nicht mehr gegangen war. Dann eben verlässlich wie die Heuernte, wie das Blühen der Luzerne, die Heimkehr der Kraniche, die bald wieder in ihrem weiten Delta über den Himmel ziehen würden, und die Storchennester auf den Dachfirsten.
Verlässlich wie Nina selbst.
»Mein Sohn und seine Tochter sind wie zwei Erbsen in derselben Schote«, pflegte Oma Hulda zu sagen, und Tante Sperling, Vaters Schwester, hatte schon vor Jahren angesichts einer Kinderfotografie von Nina erklärt: »Hätte mein Bruder je Zöpfe getragen, ich würde Stein und Bein schwören, dass er das Kind auf diesem Bild ist. Und wie merkwürdig – der kleine Carlo hat in den Zügen gar keine Ähnlichkeit mit ihm.«
Carlo und Nina waren Zwillinge, aber unterschiedlicher als sie beide konnten zwei Menschen kaum sein. Wann immer Carlo sich noch halb in Träumen aus dem Bett kämpfte, war Nina längst unterwegs. Hase und Igel, das war eines der ersten Schauspiele gewesen, die sie im Dachboden des Herrenhauses aufgeführt hatte. Carlo hatte in einer Doppelrolle den Igel sowie dessen Frau gegeben und Nina mangels weiterer Schauspieler den Hasen. Da Carlo aber viel zu langsam von einer Rolle in die nächste schlüpfte, war es am Ende nicht der behäbige Igel, sondern sie selbst als Hase gewesen, die über die Bühne geflitzt war und verkündet hatte: »Ich bin schon da!«
So war es zwischen Nina und Carlo geblieben. Wer sie nicht kannte, hielt sie nicht einmal für Geschwister, und die Zwillinge im Geiste waren Nina und ihr Vater. Pippa und Pappi. Vor drei Jahren, bevor er so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war, hatte sie zu ihm gesagt, er solle aufhören, sie Pippa zu nennen, das sei kindisch und sie mit dreizehn dafür viel zu groß. Jetzt war sie sechzehn, und auf nichts freute sie sich so sehr wie auf den Augenblick, in dem er aus dem Sattel glitt, ihr Gesicht in seine behandschuhten Hände nahm und »Da ist ja meine Pippa« zu ihr sagte.
Der Spitzname stammte aus einem Stück von Gerhart Hauptmann, das er in einem Berliner Theater gesehen hatte, als Nina vier Jahre alt gewesen war. »Sämtliche Kritiker haben es verrissen, und ich glaube ja selbst, dass es ein ziemlicher Käse war«, hatte er zu Ninas Mutter gesagt. »Aber ich habe nur dieses glaszarte Püppchen gesehen, das nicht aufhören konnte, von einem Ende der Bühne zum andern zu tanzen. Wie unser Ninchen. Unser Perpetuum mobile.«
Wie es bei Zwillingen häufig der Fall ist, war Nina – die kleinere, zweitgeborene der beiden – tatsächlich in ihrer Kinderzeit glaszart und zerbrechlich gewesen, und über die schmächtige Statur, die sie mittlerweile erreicht hatte, würde sie wohl nicht mehr hinauswachsen. Dennoch fühlte sie sich wie aus Eisen. Als kleines Mädchen hatte sie nicht nur einmal einen Bühnenraum für sich erobert, indem sie so lange darüber hinweggetanzt war, bis sie ohnmächtig wurde.
Inzwischen erschuf sie ihre Tänze im Kopf, doch für ihren Vater blieb sie seine Pippa, und für ihn wollte sie es nun auch immer bleiben. Er war es, der all ihre Komödien und Tragödien, ihre Inszenierungen und Choreografien begleitet hatte, seit sie mit Kastanienmännchen und Kasperlefiguren angefangen hatte. Als Nächstes hatten die Stallkaninchen als Schauspieler herhalten müssen, die sich immerhin besser schlugen als die Hühner, und danach war es Carlo gewesen, der in sämtliche Rollen gezwängt wurde und eine jede in den Sand setzte.
Nach einem kurzen erfolglosen Gastspiel an einem Züricher Lyzeum war Nina schließlich zu Festspielen übergegangen: Weihnachten, Ostern, Jubiläen, Erntedank – jeder Anlass wurde mit einer Inszenierung im Dachboden begangen, zu der sie die Kinder von den Nachbargütern als Ensemble zusammentrommelte.
Ohne Publikum spielten sie nie. Still und leise sorgte ihr Vater dafür, dass die Erwachsenen sich als Zuschauer einfanden und am Ende gebührend applaudierten.
»Ich bin stolz auf dich, meine Pippaloni Tagliazzoni«, hatte er gesagt – so häufig, dass es Nina peinlich war und sie ihm kein Wort mehr glaubte. »Er lobt mich nur, weil er mein Vater ist«, hatte sie sich bitter bei Tante Sperling beklagt. »Ob ich wirklich gut bin, interessiert ihn gar nicht. Er würde auch klatschen, wenn ich wie ein Kleinkind Purzelbäume schlage oder in der Nase bohre.«
»Über das Nasebohren bin ich mir nicht so sicher«, hatte Tante Sperling erwidert. »Aber für deinen Vater ist eben alles, was sein Töchterchen zustande bringt, großartig und könnte besser nicht sein.«
Und was nützt er mir dann als Kritiker?, hatte Nina gedacht. Es machte sie wütend, dass Erwachsene Kinder nie ernst nahmen und ihr Vater in ihr nur seine Tochter und keine künftige Künstlerin sah.
Dann war ihr Vater fortgegangen, war von einem Tag zum andern nicht mehr da. »Wir werden uns wehren bis zum letzten Mann und Ross«, hatte der Kaiser den Zeitungen zufolge verkündet, und Ninas Vater hatte sich von seinem Leibdiener in seine Majorsuniform helfen lassen und war auf Pierrot, seinem geliebten Pferd, nach Templin geritten, um sich seinem Regiment der Garde du Corps anzuschließen. Die nächste Aufführung auf Gut Neu-Mahlens Dachboden hatte vor ausschließlich weiblichem Publikum stattfinden müssen. Als der Vorhang fiel, waren Mütter, Großmütter und Tanten mit sorgenvollen Mienen zurück in den Salon gezogen, und über Ninas Feuerwerk von einer Inszenierung hatte niemand mehr ein Wort verloren.
Der Vater begann ihr zu fehlen. Er kämpfte an einem Fluss namens Marne und schien endlos weit weg. Was Krieg war, konnte sich Nina nicht vorstellen, denn hier gab es ja keinen. Hier wucherte Futterklee, keimte Hafer, steckte Spargel seine Köpfe aus Erdhügeln, peitschte Wind das Land und kündigte die Zeit der Ernte an. Fohlen wurden geboren, Stuten gedeckt und Jährlinge an Sättel gewöhnt, und während alledem sollte ihr Vater irgendwo in der Fremde in einem Graben hausen, der mit Minen und Granaten beschossen wurde? Es ging nicht in ihren Kopf. Nina erkannte, wie viel Sicherheit es ihr verliehen hatte, dass er immer da gewesen war – mit seiner Stille, mit seinem Lächeln, über das sie sich ärgerte, das ihr aber beständig vermittelt hatte: Ich stehe hinter dir, ich unterstütze dich in allem, was du tust.
Sie hatte begonnen, auf die Tage hinzuleben, an denen er auf Urlaub nach Hause kam. Seltene Gelegenheiten. Zweimal zu Weihnachten, einmal zur Ernte und einmal im vergangenen Frühling, um sein jüngstes Kind willkommen zu heißen, die überraschend geborene kleine Otta, die inzwischen bereits ›Mama‹ rief und laufen lernte. Und heute. Nina blickte über die verschneiten, sich in Abendnebel hüllenden Felder hinweg und entdeckte die Wolke, auf die sie gewartet hatte. Anfangs hob sie sich kaum gegen die verschwommene Umgebung ab, doch mit jedem zurückgelegten...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Die Wintergarten-Saga | Die Wintergarten-Saga |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20er Jahre Berlin • 20er Jahre Romane/Erzählungen • Als wir unsterblich waren • Berlin • Buchempfehlung beste Freundin • buchtipps frauen • Charlotte Roth • Charlotte Roth Bücher • Charlotte Roth Grand Hotel • Die Königin von Berlin • Die Wintergarten-Saga • Die Wintergarten-Saga Band 1 • Dreißiger Jahre • Film • Frauenfiguren • Frauenfreundschaft • Frauenfreundschaft Roman • Frauenschicksale • Freundinnen • Freundschaft • Goldene 20er • Golden Twenties • Grand Hotel Odessa • Historische Romane • historische romane 20. jahrhundert • historische Romane Berlin • Historische Romane Deutschland • Historische Romane Serie • historische Saga • Kino • Kunst • Künstlerroman • Künstlertreff • Lebenstraum • Mentor • Neo-Histo Roman • Nina von Veltheim • Regisseurin • Roman Freundinnen • Roman Kunst • Starke Frauen • Stars • Traumfabrik • Weimarer Republik • Wintergarten • Wintergarten-Trilogie • Wintergarten Varieté in Berlin • Zeitgeschichte Roman • Zwanziger Jahre |
ISBN-10 | 3-426-46477-2 / 3426464772 |
ISBN-13 | 978-3-426-46477-9 / 9783426464779 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich