Einfühlsam und klug erzählt Nikki Erlick, was mit der Gesellschaft, mit Beziehungen und mit jedem einzelnen Individuum passiert, wenn uns die eigene Sterblichkeit drastisch vor Augen geführt wird. »Die Vorhersage« ist ein berührender Roman über das Leben und das Sterben, über Freundschaft und Liebe und über das Menschsein selbst.
Nikki Erlicks Arbeiten sind auf den Websites von »New York Magazine«, »Harper's Bazaar«, »Newsweek«, »Cosmopolitan« und »The Huffington Post« erschienen. Als Reisejournalistin hat sie viele Länder erkundet - von beschaulichen Dörfern in Frankreich bis zu den arktischen Fjorden Norwegens. Sie schloss ihr Studium an der Harvard University mit summa cum laude ab und ist ehemalige Redakteurin von »The Harvard Crimson«. Sie erwarb ihren Master-Abschluss in Global Thought an der Columbia University. »Die Vorhersage« ist ihr Debütroman.
Nina
Nina wollte die Box nicht öffnen.
Jeden Tag las sie die Nachrichten, wie sie es schon immer getan hatte. Sie wühlte sich durch Twitter auf der Suche nach Neuigkeiten, redete sich ein, ganz normal zu arbeiten. Doch sie suchte nicht nur nach Storys.
Sie suchte nach Antworten.
Die Theorien im Internet zu der unerklärlichen Herkunft der Fäden reichten von einem göttlichen Boten über eine geheime Regierungsorganisation bis hin zu einer Invasion von Außerirdischen. Einige der größten Skeptiker wandten sich dem Spirituellen oder dem Übernatürlichen zu, um das plötzliche Auftauchen der Boxen, die gerade mal fünfzehn Zentimeter breit und sieben Zentimeter lang waren, vor allen Haustüren der Welt zu rechtfertigen. Selbst Obdachlose, die ihre Zelte auf den Straßen aufschlugen, selbst Nomaden und Anhalter, alle waren an jenem Morgen aufgewacht und von ihrer Box erwartet worden, wo sie am Abend zuvor ihr Haupt gebettet hatten.
Doch nur wenige Leute konnten anfangs die Überzeugung eingestehen, dass die Fäden tatsächlich die Länge des eigenen Lebens abbilden könnten. Die Vorstellung einer übergeordneten Existenz mit solch unnatürlicher Allwissenheit war zu beängstigend, und selbst diejenigen, die an einen allwissenden Gott glaubten, rangen mit dem Verständnis, warum Er sich nach Tausenden von Jahren plötzlich so fundamental anders verhalten sollte.
Während immer neue Boxen auftauchten.
Nachdem in der ersten Welle alle Erwachsenen von zweiundzwanzig Jahren an aufwärts ihr Exemplar bekommen hatten, brachte jeder Sonnenaufgang eine Box und einen Faden für jeden Menschen mit sich, der an diesem Tag zweiundzwanzig wurde, ein neuartiger Übertritt ins Erwachsensein.
Ende März wurden die ersten Storys bekannt, die sich rasch verbreiteten. Sobald sich die Vorhersage eines Fadens erfüllte, wurde breit darüber berichtet, vor allem wenn Menschen mit kürzeren Fäden unerwartet starben. Trauernde Familien, deren völlig gesunde junge Angehörige in ihren Zwanzigern bei tragischen Unfällen ums Leben gekommen waren, traten in Talkshows auf, im Radio wurden Interviews mit Krankenhauspatienten gesendet, die alle Hoffnung verloren hatten, bevor sie ihre Boxen mit langen Fäden erhielten und plötzlich Kandidaten für neue klinische Studien und Behandlungen waren.
Doch niemand konnte konkrete Beweise dafür finden, dass diese Fäden etwas anderes als ganz gewöhnlicher Bindfaden waren.
Trotz der hartnäckigen Gerüchte und der sich häufenden Erfahrungsberichte weigerte sich Nina immer noch, einen Blick auf ihren Faden zu werfen. Sie fand, sie und Maura sollten erst in ihre Boxen sehen, wenn sie mehr darüber wussten. Sie wollte sie nicht einmal in der Wohnung haben.
Doch Maura war abenteuerlustiger und impulsiver als Nina.
»Komm schon«, stöhnte sie. »Hast du Angst, dass sie zu brennen anfangen? Oder explodieren?«
»Ich weiß, dass du dich lustig über mich machst, aber es weiß einfach niemand, was genau passieren könnte«, erwiderte Nina. »Was, wenn das so etwas wie die Anthrax-Briefe ist, nur im richtig großen Stil?«
»Ich wüsste nicht, dass jemand beim Öffnen krank geworden wäre«, sagte Maura.
»Vielleicht können wir sie erst mal auf der Feuertreppe stehen lassen?«
»Dann könnte sie jemand stehlen!«, wandte Maura ein. »Und die Tauben scheißen darauf.«
Sie einigten sich darauf, die Boxen erst einmal unter dem Bett zu verstauen und abzuwarten, bis sie mehr darüber wussten.
Doch gerade das Warten machte Maura wahnsinnig.
»Was, wenn es wahr ist?«, fragte sie Nina. »Das ganze ›das Maß deines Lebens‹-Ding?«
»Es kann einfach nicht wahr sein«, beharrte Nina. »Es gibt keine wissenschaftliche Erklärung dafür, dass ein Stück Bindfaden die Zukunft kennen kann.«
Maura sah sie ernst an. »Aber gibt es nicht Dinge auf dieser Welt, die weder Fakten noch die Wissenschaft erklären können?«
Nina wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
»Und was ist, wenn dieses Kästchen wirklich vorhersagen kann, wie lange du noch zu leben hast? Mein Gott, wirst du nicht irre vor Neugier?«
»Doch«, gab Nina zu, »aber nur weil man neugierig ist, muss man ja nicht gleich alles überstürzen. Entweder ist das Ganze nicht wahr, dann lohnt es sich auch nicht, deshalb auszuflippen, oder es ist wahr, und dann müssen wir uns absolut sicher sein, was wir tun wollen. Die Boxen können auch sehr viel Schmerz mit sich bringen.«
Als Nina bei der Redaktionskonferenz mit den anderen Redakteuren und ein paar Reporterinnen die nächste Ausgabe diskutierte, sprach der leitende politische Korrespondent aus, was alle dachten. »Ich glaube, wir müssen noch mal ganz von vorn anfangen.«
Ursprünglich hatte man eine Reihe von Interviews mit den neuen Präsidentschaftskandidaten und -kandidatinnen geplant gehabt, nachdem die meisten ihre Kandidaturen im Winter bekannt gegeben hatten. Doch die Ereignisse im März hatten den Wahlkampf, der plötzlich Lichtjahre entfernt schien, in den Schatten gestellt.
»Wir müssen einfach die Fäden nehmen, oder?«, fragte der Korrespondent. »Darüber reden alle, weshalb das auch unsere Titelstory werden muss. Die Wahl ist erst in anderthalb Jahren. Wer weiß denn schon, wie die Welt dann aussehen wird?«
»Da stimme ich zu, aber wenn wir keine belegbaren Fakten haben, dann verbreiten wir vielleicht nur weitere Gerüchte«, wandte Nina ein.
»Oder tragen zur Panikmache bei«, sagte ein anderer Kollege.
»Aber es haben doch schon alle Angst«, warf eine Reporterin ein. »Manche haben die Aufnahmen ihrer Überwachungskamera aus der Nacht, in der die Boxen aufgetaucht sind, überprüft, doch auf den Aufnahmen war nichts zu erkennen. Das Bild wurde immer vorübergehend dunkel und verschwommen, und dann stand die Box schon da. Total verrückt.«
»Und es hat immer noch niemand, der unter zweiundzwanzig ist, eine Box erhalten, richtig? Ich habe noch von keinem jüngeren Alter gehört.«
»Ich auch nicht. Ich finde es ein bisschen unfair, dass die Kinder nur von dem Wissen um ihren Todeszeitpunkt ausgenommen sind, nicht vom Tod an sich.«
»Wir wissen doch aber immer noch nicht sicher, dass die Fäden den Todeszeitpunkt vorhersagen.«
»Zumindest tappen wir genauso im Dunkeln wie alle anderen auch.« Der Korrespondent hob geschlagen die Hände. »Am einfachsten wäre wahrscheinlich ein Artikel, für den wir ein paar Leute fragen, wie sie damit umgehen. Ob sie Bunker für den Weltuntergang bauen oder einfach alles ignorieren.«
»Ich habe von Paaren gelesen, die sich wegen unterschiedlicher Ansichten zu den Fäden getrennt haben.«
»Wir sind ein Nachrichtenmagazin, kein Klatschblatt. Und ich glaube, die meisten Menschen sind gerade mit sich selbst beschäftigt, da müssen sie nicht auch noch die Dramen anderer Menschen lesen«, sagte Nina. »Sie wollen Antworten.«
»Wir können keine Antworten liefern, wenn es keine gibt.« Deborah Caine, die Chefredakteurin, sprach so ruhig und bestimmt wie immer. »Aber die Menschen verdienen es zu erfahren, was ihre politischen Führungskräfte unternehmen wollen, und das können wir ihnen tatsächlich sagen.«
Natürlich hatten sich die Regierungsstellen auf allen Ebenen und in jedem Land nach der Ankunft der ersten Boxen einem Ansturm panischer Anrufe ausgesetzt gesehen.
Ein Kader von Führungskräften der amerikanischen Notenbank und des Internationalen Währungsfonds war wenige Tage nach dem Eintreffen der Boxen mit den mächtigsten Banken und multinationalen Konzernen der Welt zusammengekommen, um die Weltwirtschaft zu stützen. Man hoffte, mit den bewährten Maßnahmen – Zinssenkungen, Steuernachlässe, vergünstigte Kredite für Banken – jegliche Instabilität abwehren zu können, die eine hochgradig unbekannte Bedrohung auslösen könnte.
Die Politiker, konfrontiert mit immer mehr Fragen, wandten sich auf der Suche nach Antworten an die Wissenschaftler. Und nachdem die Boxen auf der ganzen Welt aufgetaucht waren, wandten sich die Wissenschaftler Rat suchend aneinander.
Auf jedem Kontinent wurden Fäden in Krankenhäusern und an Universitäten chemisch analysiert, ebenso wie die Boxen, die auf den ersten Blick aus Mahagoni zu bestehen schienen. Doch in den Materialdatenbanken der Laboratorien ließ sich keine Übereinstimmung finden. Und auch wenn die Fäden bekannten Fasern ähnelten, waren sie überraschend widerstandsfähig und ließen sich nicht einmal mit den schärfsten Werkzeugen durchtrennen.
Aus Frustration über die ergebnislose Suche baten die Labore um Freiwillige mit Fäden von unterschiedlicher Länge, damit diese vergleichenden medizinischen Tests unterzogen werden konnten. Ab diesem Zeitpunkt machten die Wissenschaftler sich allmählich Sorgen. In manchen Fällen fand man keinen erkennbaren Unterschied in der Gesundheit der »Kurzfaden« und der »Langfaden«, wie man sie schon bald nannte. Dann wieder zeigten die Tests an vielen Menschen mit kurzen Fäden schreckliche Ergebnisse: bisher unentdeckte Tumoren, Herzleiden und andere Krankheiten. Auch wenn ähnliche medizinische Probleme bei Probanden mit langen Fäden auftauchten, war der Unterschied besorgniserregend eindeutig: Diejenigen mit langen Fäden litten an heilbaren Erkrankungen, diejenigen mit kurzen Fäden an unheilbaren.
Wie umfallende Dominosteine bestätigte ein Labor nach dem anderen weltweit diese Erkenntnisse.
Die Langfaden würden noch eine ganze Weile...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2022 |
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Übersetzer | Sabine Thiele |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Measure |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2022 • eBooks • Lebensfaden • Lebensmut • Liebe • literarische Science-Fiction • Multiperspektivität • Neuerscheinung • Spekulative Literatur • Verlust • Was wäre, wenn |
ISBN-10 | 3-641-29524-6 / 3641295246 |
ISBN-13 | 978-3-641-29524-0 / 9783641295240 |
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