Die Porzellanpuppe (eBook)

Roman | Liebesgeschichte und Schicksalsroman: Eine Liebe in Leningrad
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2799-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Porzellanpuppe -  Kristen Loesch
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Eine große Liebesgeschichte vor den Wirren der russischen Revolution Nur einen Augenblick sehen sich Tonja und Walentin in die Augen, doch an diesem Herbsttag 1915 beginnt ihre unendliche Liebe. Der Bolschewik ist genauso gefangen in seinem Leben wie die wohlhabende Ehefrau eines Fabrikanten, die von ihrem Mann immer wieder eingesperrt wird. Sie kann sich heimlich zu Walentin flüchten, aber am Vorabend der Oktoberrevolution ist die schwangere Tonja in höchster Gefahr. Walentin, schon auf den Weg zu ihr, wird in den Unruhen aufgehalten. Jahrzehnte später reist eine junge Frau aus London nach Moskau, im Gepäck das alte russische Märchenbuch ihrer Mutter und viele Fragen zu ihrer Familiengeschichte. Sie ist auf der Suche nach einer Frau, die schön sein soll wie eine Puppe. ***Folgen Sie Tonja in die Weiten der russischen Seele***

Kristen Loesch ist in San Francisco aufgewachsen. Nach dem Studium der Geschichte und Slawistik in Cambridge hat sie sich mit ihren Kurzgeschichten einen Namen gemacht. Ihre Stories sind u. a. in Mslexia, SmokeLong Quarterly, Barren Magazine erschienen. Kristen lebt in Kalifornien mit ihrem Mann und den drei Kindern.  Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Werke von Jojo Moyes, Graham Norton und Olivia Manning übersetzt.

Kristen Loesch ist in San Francisco aufgewachsen. Nach dem Studium der Geschichte und Slawistik in Cambridge hat sie sich mit ihren Kurzgeschichten einen Namen gemacht. Ihre Stories sind u. a. in Mslexia, SmokeLong Quarterly, Barren Magazine erschienen. Kristen lebt in Kalifornien mit ihrem Mann und den drei Kindern.  Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Werke von Jojo Moyes, Graham Norton und Olivia Manning übersetzt.

Kapitel 1


Rosie
London, Juni 1991

Der Mann, den ich hier treffen will, ist fast ein Jahrhundert alt. Es ist nur noch ein kleiner Rest von dem filmstarhaft guten Aussehen seiner Jugend übrig; mit weißem Haar, hager, sitzt er allein auf der Bühne und trommelt mit den Fingern auf seine Knie. Er legt den Kopf in den Nacken und wirft einen gestrengen Blick in die Menge, auf die Nachzügler, die unbeholfen in den Gängen stehen und verlegen lächeln. Auf das junge Paar, das seine Kinder mitgebracht hat, ein Mädchen im Kindergartenalter, das mit den Beinen baumelt, und den älteren, reglosen Jungen mit dem ernsten Gesicht. Auf mich.

Wenn sich zwei Fremde in einem überfüllten Raum in die Augen sehen, wendet normalerweise einer den Blick ab, aber keiner von uns tut das.

Alexej Iwanow wird heute Abend aus seinen Memoiren lesen, dem schmalen Buch mit dem roten Umschlag, das auf dem Tisch neben seinem Sessel liegt. Ich habe es inzwischen so oft gelesen, dass ich zu seinen Worten lautlos die Lippen bewegen könnte: Ein Hügel verschwindet aus dem Blickfeld, und auch die Stimmen verklingen … wir sind wie Schiffbrüchige, die auf einem einzelnen Wrackteil in Richtung Meer treiben und alles zurücklassen, was uns mit der Menschheit verbunden hat …

Alexej erhebt sich. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind«, sagt er mit messerscharfem Akzent. »Und nun will ich beginnen.«

Der letzte Bolschewik ist ein Bericht über seine Zeit auf Stalins Weißmeerkanal, erzählt in Form von Kurzgeschichten, damit man beim Lesen nicht vergisst zu atmen. Heute hat Alexej die Geschichte des zum Scheitern verurteilten Einsatzes eines Arbeitstrupps ausgewählt, der in eine düstere winterliche Wildnis aufbricht, um eine Straße zu bauen, die nie jemand befahren wird. Die Gruben, die die Gefangenen ausheben, sind für sie selbst bestimmt. Sie sollen zu ihrem eigenen Grab werden.

Meine Hände fühlen sich feucht und schwer an, und meine Zehen beginnen in den Stiefeln zu kribbeln. Der Mann mittleren Alters, der neben mir sitzt, zieht seinen Mantel fester um sich, und das kleine Mädchen weiter vorne baumelt nicht mehr mit den Beinen, sondern sitzt mit ebenso durchgedrücktem Rücken da wie ihr älterer Bruder. In einem Vorlesungssaal voller Menschen hat Alexej Iwanow jedes Geräusch zum Verstummen gebracht. Er ist am Ende der Geschichte angelangt und klappt das Buch zu. »Ich stehe für Fragen zur Verfügung«, sagt er.

Leises Füßescharren ist zu hören. Irgendwo im Hintergrund hustet jemand und ein Baby beginnt zu wimmern, gefolgt von dem beruhigenden Schsch der Mutter. Alexej macht gerade Anstalten, sich in seinen Sessel zurückzulehnen, da hebt der Mann neben mir plötzlich die Hand.

Alexej lächelt breit und deutet auf ihn. »Fangen Sie an.«

»Meine Frage ist ziemlich persönlich«, sagt mein Nachbar mit breitem schottischem Zungenschlag. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus …«

»Bitte sehr.«

»Sie haben diese Memoiren jemandem gewidmet, den Sie bloß Kukolka nennen. Bestünde die Möglichkeit, dass Sie uns verraten, um wen es sich dabei handelt?«

Das Lächeln verschwindet aus Alexej Iwanows Gesicht. Ohne dieses Lächeln sieht er nicht mehr aus wie der berühmte Dissident und Schriftsteller, der gefeierte Historiker. Er ist nur noch ein alter Mann, gebeugt unter der Last von über neun Jahrzehnten Leben. Er blickt sich erneut im Saal um, und da stößt das Baby irgendwo in unserer Mitte einen weiteren erschrockenen Schrei aus. Alexejs Blick bleibt eine halbe Sekunde lang an mir hängen, bevor er weitergleitet.

»Ihren Namen spreche ich niemals laut aus«, sagt er. »Und wenn ich es täte, würde ich ihn schreien.«

Ich verlasse meine Sitzreihe und gehe auf die Bühne zu. Das Publikum zerstreut sich, aber Alexej schüttelt noch immer Hände und plaudert mit den Organisatoren. Ich habe alle seine Schriften gelesen, meist zusammengekauert in einem Lesesaal der Bodleian Library, und das Ergebnis dieser muffigen Stunden in vollkommener Stille ist: Egal, wie menschlich der Mann auch aussieht, Alexej Iwanow ist für mich zu einer beinahe mythischen Figur geworden. Zu einer Legende.

»Hallo Sie«, sagt er und wendet sich mir zu. Sein Lächeln ist wie das Licht einer Fackel.

»Ich habe Ihre Lesung sehr genossen, Mr Iwanow«, sage ich, als ich meine Stimme wiedergefunden habe. Vielleicht ist genießen nicht das richtige Wort, aber er nickt. »Ihre Geschichte ist inspirierend.«

Ich hatte mir vorgenommen, das zu sagen, aber erst, nachdem ich es ausgesprochen habe, merke ich, wie ernst ich es meine.

»Ich danke Ihnen«, sagt er.

»Ich heiße Rosemary White. Rosie. Ich habe in Oxford Ihre Ausschreibung gesehen. Dort bin ich Doktorandin.« Ich huste. »Sie suchen für den Sommer eine wissenschaftliche Mitarbeiterin?«

»So ist es«, sagt er freundlich. »Jemanden, der mit mir nach Moskau kommen kann.«

Ich lockere den Griff um meine Handtasche. »Ich würde mich gerne bewerben, falls die Stelle noch frei ist.«

»Das ist sie.«

»Ich habe nicht viel Erfahrung auf Ihrem Gebiet, aber ich spreche fließend Russisch und Englisch.«

»Am Donnerstag bin ich in Oxford«, sagt er. »Wollen wir uns dort verabreden? Ich würde Ihnen gerne mehr darüber erzählen.«

»Unbedingt, danke. Nur fahre ich morgen nach Yorkshire, um die Großmutter meines Verlobten zu besuchen. Sie lebt allein. Wir besuchen sie einmal im Monat.« Ich bin mir nicht sicher, warum ich das alles hinausplappere. »Am Wochenende bin ich zurück.«

»Gut, dann dieses Wochenende«, sagt er. Seine Stimme klingt sanft. Um uns herum sind als angenehmes Summen Menschen zu hören, die sich unterhalten und scherzen, aber etwas in Alexejs Augen löst in mir plötzlich das Verlangen aus, mich gegen einen schneidenden Wind zu stemmen. Vielleicht ist der Textauszug, den er gerade vorgelesen hat, vielleicht sind die Einzelheiten über das Weiße Meer, die verlassenen Straßen, jene langen Winter in meinem Gedächtnis noch zu frisch. Vielleicht sehen die Leute, wenn sie ihn anschauen, immer nur diese Dinge.

Die Zeit, zu der meine Mutter schlafen geht, ist schon vorbei, als ich in ihre Wohnung zurückkehre, aber aus ihrem Zimmer dringt ein leises Stöhnen.

Ich klopfe an ihre Tür. »Mum? Bist du wach?«

Das Schlafzimmer meiner Mutter ist schmuddelig und düster, und sie passt perfekt hinein. Ungewaschen und reglos sitzt sie im Bett, gegen die Kissen zusammengesackt, und verströmt in Wellen den Moschusgeruch von Wodka. Ich besuche sie mindestens einmal im Monat und bleibe ein oder zwei Nächte bei ihr in London. In letzter Zeit habe ich sie häufiger besucht, aber wenn überhaupt scheint sie mich seltener zu erkennen. Mum hat immer weiter getrunken, selbst als die Ärzte sagten, dass ihre Leber dabei war zu versagen. Jetzt gerade ist sie wieder betrunken.

»Ich war bei einer Lesung«, sage ich. »Hast du auf mich gewartet?«

Ihre gelblichen Augen huschen durch den Raum, bevor sie mich direkt vor ihrer Nase entdeckt.

»Na dann, gute Nacht.« Ich stelle die Tablettenspender auf ihrem Nachttisch wieder auf und wische mir die Hände an der Hose ab. »Soll ich dich morgen früh wecken?« Ich halte inne. »Ich fahre gleich morgens nach York, schon vergessen?«

Sie zieht die knochigen Wangen ein und beginnt Halt suchend nach ihrer Decke zu greifen. Sie will, dass ich näher komme. Ich setze mich vorsichtig an das Fußende des Bettes.

»Raisa«, murmelt sie.

Raisa. Mein Geburtsname. Inzwischen fühlt er sich eher an wie etwas, das ich in Russland zurückgelassen habe, zusammen mit meinen Kleidern, meinen Büchern und allem anderen, was mich ausgemacht hat. Meine Mutter ist die Einzige, die ihn benutzt.

Wenn sie stirbt, wird sie ihn mit sich nehmen.

»Ich weiß, was du vorhast.« Ihr Atem geht stockend.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Doch, hast du.« Ihr Blick sucht den meinen, aber sie kann ihn nicht halten. »Du versuchst, nach Moskau zu fahren.«

»Woher weißt du …«

»Ich habe dein Telefonat mit der Botschaft mitgehört. Warum verweigern sie dir die Einreise? Liegt es an deinem Studienfach?« Sie versucht zu lachen. »Ich hoffe, sie lassen dich nie rein.«

»Es liegt an dem Chaos mit den Papieren, das du angerichtet hast, als wir hierhergezogen sind«, sage ich widerborstig. »Ich wollte schon immer einmal zurückkehren, um es zu sehen. Ich dachte, es ist eine gute Idee, wenn ich das mache, bevor Richard und ich heiraten. Um es hinter mich zu bringen.«

»Du lügst, Raisotschka. Du wirst diesen Mann suchen.«

Sie muss betrunkener sein als jemals zuvor, da sie diesen Mann erwähnt. Vor vierzehn Jahren, als unser klappriger Aeroflot-Flieger in den tiefroten Himmel in Richtung London abhob, brachte ich den Mut auf, sie nach ihm zu fragen. Meine Mutter starrte nur geradeaus. Das war ihre Antwort: Dieser Mann existierte nicht. Ich hatte es nur geträumt....

Erscheint lt. Verlag 26.1.2023
Übersetzer Silke Jellinghaus
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1917 • Belagerung von Leningrad • Berührende Liebesgeschichte • Beziehungsdrama • Dreiecksbeziehung • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Familienroman • Flucht • Frau • Frauenroman • Gefahr • Geheimnis • Geschenk für Frauen • GULAG • jung • Junge Frau • Kriegsgeneration • Leningrad • Liebe in Leningrad • Liebesroman • Märchen • Moskau • Mutter Tochter • Neuerscheinung 2023 • neu in 2023 • Petersburg • Resilienz • Russische Revolution • Russland • Schicksal • Schiwago • Solowezki-Inseln • Sowjetunion • stark • Starke Frauen • Trauma • Verbannung • Verbotene Liebe • Vergessene Generation • Vertreibung • Workuta • Zeitzeugin
ISBN-10 3-8437-2799-6 / 3843727996
ISBN-13 978-3-8437-2799-0 / 9783843727990
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