Tenement Kid (eBook)

Die Autobiografie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
528 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-29058-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tenement Kid - Bobby Gillespie
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Aus einfachen Verhältnissen in Glasgow stammend ('Tenement' ist der Ausdruck für die dortigen Mietskasernen), wird Bobby von seinem Vater früh mit Beat-Literatur, revolutionärem Gedankengut und Popmusik in Kontakt gebracht. In den 70er-Jahren entdeckt er die Welt der Rock- und Punkmusik, in die er tief eintaucht. Als Mitglied von stilprägenden Bands wie The Jesus and Mary Chain und vor allem Primal Scream prägt er den Zeitgeist. Hits wie »Movin on Up« oder »Loaded« füllen bis heute jeden Tanzboden, das Album Screamadelica gilt als einer der Klassiker der Popmusik. Sein Buch ist eine einzige farbenprächtige Liebeserklärung an die Popkultur in all ihren Facetten.

Robert 'Bobby' Gillespie, geboren 1961, ist ein schottischer Musiker, Singer-Songwriter und Multi-Instrumentalist. Er ist vor allem als Leadsänger, Gründungsmitglied und Haupttexter der Indierock-Band Primal Scream bekannt. Mitte der 1980er Jahre war er auch Schlagzeuger für The Jesus and Mary Chain. Mit Jenny Beth (Savages) veröffentlichte er 2021 ein Duett-Album.

1

Ein Junge aus Springburn – und stolz darauf

Ich bin aufgewachsen an Orten, wo die Geister der Vergangenheit herumspukten. Meine Spielplätze waren ein verlassenes Lokomotivenwerk, ein riesiger Friedhof und gespenstische Straßen mit geräumten Mietshäusern. Springburn wurde im Zuge des »Slum-Sanierungs«-Programms der konservativen Regierung von Edward Heath in den späten Sechzigerjahren abgerissen; Straße für Straße wurden die Häuser geräumt, bis die Gegend große Ähnlichkeit hatte mit den im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten zerbombten deutschen Städten, die ich auf Fotos in dem Geschichtsbuch meines Vaters gesehen hatte. Es war gruselig und aufregend zugleich. Ein älterer Junge half uns, in die mit Brettern vernagelten Wohnungen und Häuser in der Vulcan Street einzubrechen. Wo einst die Familien der verhassten »Vulcies« (die Straßenbande, mit der unsere verfeindet war) gewohnt hatten, herrschte nun Leere. Anwohner hatten Tische, Stühle und Betten zurückgelassen, in den verdreckten Waschbecken stand Geschirr, und in den Vorhängen, die man hatte hängen lassen, sammelten sich Staub und Schmutz, der dort bleiben würde bis in alle Ewigkeit. Es herrschte eine Atmosphäre von Flucht und Verlassenheit, als wären die ehemaligen Bewohner vor einer feindlichen Armee geflohen. In gewisser Weise waren sie das auch. Eine einst lebendige Arbeitersiedlung wurde zerstört und durch eine Autobahn ersetzt.

Was ist mit diesen Menschen geschehen? Was wurde aus ihnen? Wohin gingen sie? Folgendes ist mit mir passiert.

Ich kam am 22. Juni 1961 im Rottenrow Maternity Hospital in Cowcaddens, im Herzen des mittelalterlichen Stadtkerns von Glasgow, zur Welt. Es liegt ein paar Straßen von Provand’s Lordship entfernt, dem ältesten noch erhaltenen Wohngebäude der Stadt, das 1471 erbaut wurde und überragt wird von der Kathedrale – im zwölften Jahrhundert an der Stelle erbaut, wo St. Mungo, der Schutzheilige der Stadt, einst seine erste Kirche errichtet hatte. Ganz in der Nähe befindet sich der Necropolis-Friedhof – der Père Lachaise von Glasgow –, auf dem die Industriellen und Kaufleute der viktorianischen Ära, die Zuckerimporteure und Tabakbarone der Stadt, begraben sind, von denen einige ihren Reichtum der Sklaverei verdankten. Auf dem Gipfel des höchsten Hügels der Nekropole steht die Statue von John Knox, dem Begründer des schottischen Presbyterianismus. Seine kalten, frommen Augen sind wachsam und streng auf das sündige Treiben zu seinen Füßen gerichtet. Dort steht auch die Statue von König Wilhelm von Oranien auf dem Cathedral Square. Meine Oma erzählte mir, dass jeden Sommer am Jahrestag der Schlacht am Boyne betrunkene Katholiken vorbeizogen, um König Billy mit Flaschen zu bewerfen. Religion, Gewalt und Alkohol sind in Glasgow untrennbar miteinander verbunden.

Das gälische Wort »Rottenrow« bedeutet übersetzt »Straße der Könige«. Es ist außerdem ein althergebrachter englischer und schottischer Name für eine Straße, die gesäumt ist von Reihen rattenverseuchter Hütten. Man könnte also sagen, dass ich in einer rattenverseuchten Straße der Könige zur Welt kam.

Ich wurde ein Jahr vor der Kubakrise geboren, in dem Jahr, als die Berliner Mauer hochgezogen wurde. Meine Mutter, Wilma Getty Gemmell Gillespie, war noch ziemlich jung, als sie mich zur Welt brachte. Sie erzählte mir, dass sie damals fürchtete, Russland und Amerika würden den gesamten Planeten in einem apokalyptischen Atomkrieg auslöschen. Ich war ein Kind des Kalten Krieges. Die Paranoia angesichts einer drohenden nuklearen Vernichtung war damals allgegenwärtig. Meine Mutter war einundzwanzig, und mein Vater, Robert Pollock Gillespie, war dreiundzwanzig. Sie lernten sich bei der Arbeit kennen. Beide waren bei Collins, dem Buchverlag, angestellt. Mein Vater war Druckereiarbeiter und Mitglied der Drucker- und Buchbindergewerkschaft National Union of Printing, Bookbinding and Paper Workers. Sie waren beide Mitglieder der Jungsozialisten von Springburn. Mein Vater beteiligte sich in den späten Fünfzigern an einem Streik zur Verkürzung der Arbeitszeit von fünfundvierzig auf vierzig Stunden pro Woche, der letzten Endes zur Einführung der Fünftagewoche führte. Bis die Gewerkschaften diese Auseinandersetzung für sich entschieden hatten, war es Usus, dass von den Arbeitnehmern erwartet wurde, auch samstagmorgens zu arbeiten. Die Erfahrung, welche Macht eine solidarische Klasse ausüben und welche Veränderungen sie bewirken konnte, politisierte meinen Vater. Er war mit siebzehn Jahren in die Armee eingetreten – die übliche Geschichte eines weitgehend ungebildeten Arbeiterkindes ohne echte Perspektiven, das durch das Versprechen von Reisen und Abenteuern in der weiten Welt zum Militär gelockt wurde. Er war Unteroffizier in der Royal Artillery und während des Kalten Krieges in Hongkong stationiert, wo er an Aufklärungsmissionen teilnahm und hoch oben auf einem Berggipfel darauf wartete, dass Mao Tse-tungs Rote Armee über den Dragon’s Back gestürmt kam. Er erzählte mir, die Armee habe einen Mann aus ihm gemacht. Sie verschaffte ihm außerdem einen Einblick in die Funktionsweise des britischen Klassensystems. Um uns zu unterhalten, erzählte er meinem Bruder Graham und mir Geschichten aus seiner Armeezeit: Massenschlägereien in Kneipen und Bars mit amerikanischen GIs, die in den Augen der britischen Jungs nichts weiter waren als verwöhnte Weicheier, die keinen Krieg führen konnten, ohne dass an der Front nicht mindestens ein Coca-Cola-Automat stand. Dad hat die Worte »HONGKONG« auf seinen Knöcheln tätowiert. Außerdem hat er einen schwarzen Panther auf dem rechten Oberarm (stellt euch vor, wie überrascht ich war, als ich im Jahr 2000 im Hudson Hotel in New York denselben Panther auf dem linken Oberarm meiner zukünftigen Frau Katy tätowiert sah), dazu eine chinesische Prostituierte, die schüchtern hinter einem Fächer hervorschaut, und auf dem linken Unterarm den Namen »Jim Surrey«. Jim Surrey war sein bester Kumpel in der Armee, der wiederum die Worte »Bob Gillespie« auf seinem linken Unterarm eintätowiert hatte. In den Fünfzigerjahren, lange bevor Tattoos in Mode kamen, ließen sich nur Soldaten, Matrosen, Gangster, Kriminelle, Knastbrüder und fahrendes Volk die Haut mit einer Tätowiernadel bearbeiten. Tätowierungen waren etwas für Gesetzlose und Außenseiter, nicht für anständige Leute. Tätowierungen waren tabu.

Wir wohnten im dritten Stock einer Mietskaserne in einer Einzimmerwohnung in der Palermo Street 35 im Stadtteil Springburn, die meine Eltern für 100 Pfund gekauft hatten. Diese Wohnungen wurden in Glasgow als »Single-End« bezeichnet. Unsere bestand aus einem Zimmer mit einem Waschbecken und einer Kochstelle. Die Toilette lag auf dem Treppenabsatz, und wir teilten sie mit zwei anderen Familien. Die einzige konkrete Erinnerung, die ich an das Single-End habe, ist, dass ich als Kleinkind eine volle Dose Heinz Baked Beans aus dem Fenster warf. Meine Mutter reagierte völlig panisch und rannte zum Fenster, um zu sehen, ob jemand von der Dose getroffen worden war, aber zum Glück war es gerade mitten am Tag, und alle waren bei der Arbeit oder in der Schule. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hatte – es war ein plötzliches, überwältigendes Verlangen danach, es zu tun. Ich glaube, ich genoss das Gefühl, ein böser Junge zu sein. Ich merkte auch, welche Wirkung die Tat auf meine Mutter hatte. Meine allererste grenzüberschreitende Handlung.

Mein Bruder Graham wurde 1964 geboren, kurz nachdem wir in ein etwas größeres Apartment umgezogen waren, für das meine Eltern 150 Pfund gezahlt hatten und das direkt unterhalb unserer alten Wohnung lag: ein »Zimmer mit Küche«, die beide von einem kleinen Flur abgingen. Die ersten zehn Jahre meines Lebens schliefen meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich in einem Zimmer. Das Bett unserer Eltern stand in einer Nische, während Graham und ich jeweils ein Einzelbett hatten. Es gab einen Kleiderschrank, eine Kommode und eine Holzkiste, in der wir unser Spielzeug und unsere Cowboy- und Feuerwehrkostüme aufbewahrten. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie sehr dieses Arrangement ihre Ehe belastet haben mag. Es muss hart gewesen sein.

In der Wohnküche hingen zwei abstrakte Aquarelle von John Taylor, einem Künstler, mit dem meine Eltern befreundet waren. Es gab außerdem ein riesiges Schwarz-Weiß-Poster des kubanischen Revolutionshelden Che Guevara, das auf dem großartigen Foto von Alberto Korda basierte – Che in seiner hochgeschlossenen Fliegerjacke, mit Bart und der schwarzen Baskenmütze mit dem Stern darauf. Es sah total heroisch und hip aus. Er schaute mit einem christusähnlichen Blick in die Zukunft. Che war unser Jesus, ein Rockstar-Revolutionär. Dennis Hoppers Image in den Sechzigerjahren war angelehnt an Che, Fidel und die bärtigen kubanischen Revolutionäre, die erfolgreich den von der US-Regierung und der Mafia unterstützten Diktator Batista vertrieben hatten. Es heißt, die Beatles hätten die Sechzigerjahre eingeläutet, aber Fidel, Che und ihre Jungs sind ihnen um drei Jahre zuvorgekommen. Wir hatten auch ein Schwarz-Weiß-Foto von den US-amerikanischen Olympiasiegern Tommie Smith und John Carlos, die auf dem Siegerpodest der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko die geballte Faust zum Black-Panther-Gruß in die Luft reckten. Ich erinnere mich, dass ich meinen Vater fragte, was die beiden Typen da machten. Warum hatten sie schwarze Handschuhe an, und warum hoben sie ihre Fäuste in die Höhe? Er erklärte seinem siebenjährigen Sohn, dass diese Männer in den Vereinigten Staaten nicht dieselben Schulen besuchen...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Übersetzer Kristof Hahn
Sprache deutsch
Original-Titel Tenement Kid
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2022 • Acid-House • Biografie • Biographien • Creation Records • eBooks • Glasgow • Indierock • Jesus & the Mary Chain • Kunst • Margaret Thatcher • Musik • Neuerscheinung • Popkultur • Post-Punk • Primal Scream • Punk • Rock 'n' Roll • Screamadelica
ISBN-10 3-641-29058-9 / 3641290589
ISBN-13 978-3-641-29058-0 / 9783641290580
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