Der Riss (eBook)
320 Seiten
Lübbe (Verlag)
978-3-7517-2848-5 (ISBN)
Die Geologin Antonia Rauwolf wird mit einem ungewöhnlichen Auftrag ins nicht mehr ganz so ewige Eis der Antarktis geschickt: Sie soll herausfinden, ob die kürzlich entdeckten knapp 100 Vulkane aktiv werden könnten. Ein Ausbruch hätte katastrophale Folgen für die ganze Welt.
In der Forschungsstation angekommen, stellt Antonia fest, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Bei ihren Nachforschungen kommt sie dem Robotik-Experten Pietro Malatesta in die Quere, der auf eigene Faust nach Diamant-Vorkommen sucht.
Durch die Bohrungen geraten Eisplatten in Bewegung, die seit fünfzig Millionen Jahren den Lebensraum vieler Arten beherbergt und beschützt haben. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Thilo Winter ist das Pseudonym eines deutschen Schriftstellers und Wissenschaftsjournalisten. In seinen Reportagen berichtet er über Unterwasserforschung mit Tauchrobotern, archäologische Funde in abtauenden Gletschern, den Klimawandel als Ursache für den Untergang früher Kulturen und die Zukunft der Polargebiete. Winter arbeitet u.a. für die Zeitschriften SPIEGEL GESCHICHTE, BILD DER WISSENSCHAFT und SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT.
Die Antarktis wird laut Expertenmeinung in naher Zukunft globaler Krisenherd Nummer 1 sein
Der Kampf um noch unangetastete Rohstoffe wie Öl, Erze, Diamanten und Süßwasser hat bereits begonnen
Kapitel 1
7. Dezember
Der grüne Pistenbully rollte durch eine weiße Welt ohne Horizont, in der Himmel und Schnee nicht voneinander zu unterscheiden waren. Eiskristalle glitzerten auf der Windschutzscheibe. Emilio drückte sich tief in den Beifahrersitz und bildete sich ein, die sanfte Wärme des Sonnenlichts auf dem Gesicht zu spüren. Tatsächlich war es die Heizung, deren Gebläse die Temperatur in der Kabine auf sieben Grad anhob. Draußen herrschten minus zwanzig Grad Celsius – ein Sommertag in der Antarktis.
Das Kettenfahrzeug schwankte und stöhnte, wenn Malatesta es über Schneeverwehungen rattern ließ. Emilio hatte sich an die Erschütterungen gewöhnt. Seit zwei Tagen waren sie jetzt schon unterwegs nach Südwesten, und zwei weitere Tage lagen noch vor ihnen. Die Stunden krochen so langsam dahin wie das Polarmobil, denn Pietro Malatesta sprach nicht viel. Schon in der Station war der Sizilianer stets in seinem Labor verschwunden, wenn es im Gemeinschaftsraum gesellig wurde, wenn sich ein Kollege an das E-Piano setzte und ein anderer nach der Gitarre griff, um die endlosen Abende mit Leben zu füllen. Hätte Emilio es sich aussuchen können, wäre er lieber mit einem anderen Wissenschaftler der Neumayer-III-Station zu der Reise aufgebrochen, mit einem Biologen wie ihm, mit dem er sich über Artemis hätte unterhalten können. Aber Malatesta war nun mal der Geologe des Teams und sollte am Zielort nach Temperaturanomalien suchen. In der Westantarktis war unter dem Eis ein großes Vulkanfeld entdeckt worden, und bislang war unklar, ob die einundneunzig Vulkane schliefen oder aktiv waren.
Die Entdeckung hatte weltweit für Aufsehen unter Wissenschaftlern gesorgt, denn sie befürchteten, dass ein Ausbruch den Westantarktischen Eisschild abschmelzen lassen könnte. Die unmittelbaren Folgen wäre der Anstieg des globalen Meeresspiegels um mehrere Meter und der Untergang vieler Küstenregionen und Inseln. Nun sollten sich die beiden Forscher vor Ort ein Bild von der Lage machen – in der abgelegensten Region des abgelegensten Kontinents der Erde.
Eisregen prasselte gegen das Fahrzeug. Malatesta schaltete den Scheibenwischer ein, der gefrorene Bröckchen mit einem Kratzen zur Seite schaufelte. Emilio drehte den Regler für die Belüftung der Windschutzscheibe höher. Ein Geräusch wie von einem Föhn brauste durch die Kabine.
Das war typisch für dieses seltsame Land: Im einen Moment zeigte sich das Wetter von seiner freundlichen Seite, im nächsten rollte ein Sturm über die konturlose Landschaft und stellte die Ausrüstung und das Geschick der Forscher auf die Probe. Kein Wunder, dachte Emilio, dass es im Landesinnern der Antarktis kein Leben gab. Sämtliche Tiere und Pflanzen hatten so viel Verstand, entweder im Meer oder an der Küste zu leben. Nur der Mensch musste seine rot gefrorene Nase mal wieder dorthin stecken, wo sie eigentlich nicht hingehörte: mitten in das weiße, kalte Nichts.
Emilio betrachtete die Instrumente. »Wind aus Osten, etwa siebzig Knoten.«
Malatesta stellte den Scheibenwischer eine Stufe höher. Als die Sicht trotzdem nicht besser wurde, schaltete er das zusätzliche Paar Wischer ein. Wie zur Antwort klatschte eine Ladung Schnee gegen die Fenster. Malatesta nahm den Fuß vom Gas und brachte den Motor in den Leerlauf. Der Pistenbully blieb stehen.
»Warum halten wir?«, fragte Emilio.
Der Geologe wandte ihm das Gesicht zu. »Wir warten«, antwortete er. Seine eckigen Züge wirkten hart, und auf seinen Wangen hatte Akne ein Minenfeld hinterlassen, das ein schwarzer Vollbart notdürftig bedeckte. Seine Augen waren tief liegend und sahen geschwollen aus. Emilio schien es, als leide Malatesta an einer Krankheit, die ihm ständig Schmerzen bereitete. Wen wundert’s?, dachte er. Wenn ich mich als Deutscher in dieser Kälte schon nicht wohlfühle, wie muss es dann erst jemandem gehen, der aus Sizilien stammt?
»Zeit für Bewegung«, sagte Malatesta und tippte mit einem behandschuhten Finger gegen die Uhr auf dem Armaturenbrett.
»Jetzt?« Emilio mochte es kaum glauben. Unterwegs hielten sie einen strengen Plan ein und stiegen einmal in der Stunde aus dem Polar 300, gingen umher und brachten den Kreislauf in Schwung. Die Übungen verhinderten, dass sie in der Kabine einschliefen, was angesichts der gleichförmigen Umgebung, des Motorbrummens und des abwechslungslosen Brausens der Lüftung rasch geschehen konnte. In einen Sturm mit Böen von siebzig Knoten hinauszugehen war allerdings viel gefährlicher, als in der Kabine einzudösen.
»Du kannst ja hier sitzen bleiben.« Damit schien für den Geologen alles gesagt zu sein. Wenn er sprach, redete er laut, und seine Worte klangen entweder wie Befehle oder wie Beschimpfungen. Er zog sich die Sturmhaube, die Balaklava, über den Kopf, sodass nur noch seine Augen zu sehen waren, und setzte die Schneebrille auf. Dann schlug er die Kapuze seines Schutzanzugs hoch und schloss den Rand aus synthetischem Fell zu einem Kreis, bis sein vermummtes Gesicht wie aus einem Tunnel herausschaute. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, entriegelte Malatesta die Tür. Als er sie einen Spaltbreit geöffnet hatte, packte der Wind zu und riss sie auf. Frostige Luft wehte in den kleinen Raum, die Kälte biss Emilio in die Wangen. Malatesta schwang sich aus dem Fahrzeug, die Tür flog zu.
Das war doch Selbstmord! Emilio starrte auf den leeren Fahrersitz, auf den sich sanft Schneeflocken senkten, die durch die offene Tür hereingedrungen waren. Er wusste, dass Malatesta eigenartig war, und die Kollegen auf der Station rissen Witze über seine Faszination für Zahlen. Aber das war etwas anderes, als aus dem Kettenfahrzeug in einen antarktischen Sturm zu springen, nur weil die Uhr eine gewisse Zeit anzeigte.
Sechs Uhr. Emilio versuchte, aus dem Fenster zu blicken, aber die Scheiben waren mit Schnee verklebt. Er griff nach seiner Ausrüstung, streifte sich die Handschuhe über und verharrte. Wenn Malatesta sein Leben aufs Spiel setzte, um eine Manie zu pflegen, war das seine Angelegenheit. Warum also sollte Emilio ihm folgen? Die Antwort lag auf der Hand: um ihn wieder in die Kabine zu bringen, bevor der Sturm ihn Gott weiß wohin trieb. Schon in zehn Meter Entfernung würde Malatesta den Pistenbully nicht mehr erkennen können. Und wenn er dann, durch den Wind herumgewirbelt, auch noch die Orientierung verlor, lief er Gefahr, blindlings in die Eiswüste hinauszustapfen.
Emilio schlug mit der dick behandschuhten Hand gegen die Scheibe. »Verfluchter Sizilianer!«, rief er, und der Sturm schien ihn auszulachen. Wenige Augenblicke später stand er im Freien. Er hatte seinen Kopf ebenso geschützt wie Malatesta und trug einen roten Tempex-Anzug, unter dem sich mehrere Lagen Schutzkleidung befanden. Der Kälteschutz war so unförmig, dass er Emilio in einen roten Schneemann verwandelte, der dem Wind viel Angriffsfläche bot. Augenblicklich packte ihn der Sturm und ließ ihn rückwärts taumeln. Er stemmte sich dagegen, um nicht vom Fahrzeug weggetrieben zu werden. Der Polar 300 war der einzige sichere Punkt in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern.
Emilio hielt sich an der Verstrebung der Schaufel fest, die vorn an dem Fahrzeug angebracht war. Mit ihrer Hilfe wurden Hindernisse aus Schnee beiseitegeräumt. Er schaute sich um. Von Malatesta war nirgendwo etwas zu sehen. Mit einer Hand hielt er sich am Pistenbully fest und umrundete ihn bis zur Fahrerseite. Die Spuren, die sein Kollege im Eis hinterlassen haben musste, waren schon wieder verweht. Er rief den Namen des Geologen, aber der Wind riss ihm die Silben von den Lippen.
Vielleicht war Malatesta in den Laborcontainer gestiegen. Der Polar 300 zog sieben Anhänger hinter sich her, die ersten beiden waren mit Containern beladen: einer enthielt die wissenschaftliche Ausrüstung, der andere war als Forschungsstation eingerichtet, denn an ihrem Zielort würden sie zwei Wochen arbeiten.
Schritt für Schritt tastete sich Emilio vorwärts, bis er die Container erreichte. Beide Türen waren verschlossen und mit Metallriegeln gesichert. Wäre Malatesta hineingegangen, hätte er die Riegel nicht wieder anbringen können. Wo trieb sich dieser Wahnsinnige bloß herum?
Ein Knall war zu hören. Emilio konnte den Laut deutlich vom Brausen des Windes unterscheiden. Woher war der gekommen? Er ließ den Blick schweifen, überall herrschte weißes Treiben. Doch da! Eine Gestalt stand in einiger Entfernung und hielt sich an einem Anhänger fest. Malatesta! Immerhin hatte sich der Idiot nicht verlaufen. Emilio winkte mit hoch erhobenem Arm, aber die Gestalt rührte sich nicht. Was war nur los mit diesem Kerl? Vielleicht hatte er sich bei seinen Lockerungsübungen verletzt und schaffte es jetzt nicht mehr allein zur Kabine. Emilio atmete unter seiner Sturmhaube tief durch. Was soll’s, bringe ich ihn halt in Sicherheit. Hauptsache, wir müssen wegen ihm jetzt nicht umkehren. Der Gedanke daran, Artemis wegen Malatesta nicht auf die Spur kommen zu können, machte ihn wütend.
»Ich komme!«, rief Emilio und hangelte sich Stück für Stück an der Reihe der Anhänger entlang. Als er noch zwanzig Meter von Malatesta entfernt war, sah er, wie der Geologe einen Arm hob. Etwas blitzte auf. Wieder hörte Emilio einen Knall, und im nächsten Moment lag er am Boden. Sofort griff der Wind nach ihm und zog ihn über das Eis, bis er gegen die Kufen eines der Schlitten prallte und liegen blieb. In seinem linken Arm brannte Schmerz. Er konnte die Hand nicht mehr bewegen, erst glaubte er, sich bei dem Sturz etwas gebrochen zu haben, dann sah er, dass sich der Schnee unter ihm rot...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
Schlagworte | Antarktis • Bodenschätze • diamanter • Eis • Forschung • Frank Schätzing • Gefahr aus dem Eis • Geologie • Globale Erwärmung • Heilkraft • Klima • Klimawandel • Marc Elsberg • Mikroorganismus • Natur • Polarregion • Roboter • Robotik • Schwamm • Süßwasser • Thriller • Umwelt • Vulkan • Wissenschaftsthriller • Zukunftsvision |
ISBN-10 | 3-7517-2848-1 / 3751728481 |
ISBN-13 | 978-3-7517-2848-5 / 9783751728485 |
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