Das Schicksal der Blankenburgs (eBook)
576 Seiten
Blanvalet Verlag
978-3-641-27663-8 (ISBN)
Frankfurt 1936: Nach harten Jahren scheint sich das Schicksal der Familiendynastie der Blankenburgs wieder zum Besseren zu wenden. Die Streitigkeiten zwischen den Schwestern Ophélie und Elise sind beigelegt, der französische Zweig der Porzellanmanufaktur unter der Leitung von Ophélies Mann prosperiert, und im Königsteiner Stammhaus führt Elise erfolgreich die Geschäfte.
Doch dann bricht Krieg über Europa herein, und die Gräben innerhalb der Familie vertiefen sich erneut: Der ungeliebte uneheliche Neffe Tankred steigt als strammes Parteimitglied in der SS weiter auf, und ein grauenvoller Verrat bringt ein Familienmitglied in tödliche Gefahr.
Die Porzellan-Dynastie:
Die Blankenburgs
Das Schicksal der Blankenburgs
Eric Berg zählt seit vielen Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Autoren. 2013 verwirklichte er einen lang gehegten schriftstellerischen Traum und veröffentlichte seinen ersten Kriminalroman »Das Nebelhaus«, der 2017 mit Felicitas Woll in der Hauptrolle der Journalistin Doro Kagel verfilmt wurde. Seither begeistert Eric Berg mit jedem seiner Romane Leser und Kritiker aufs Neue und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten.
1
Es war der Tag der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Berlin, der Tag, an dem die Welt ein großes Fest veranstaltete, und Elise stand vor der grausamsten Entscheidung, die ein Mensch treffen konnte – jener zwischen ihrem Mann und ihrem Kind.
Immer wieder durchmaß sie die Suite des Hotels Adlon mit schnellen Schritten, blieb am Fenster stehen, schob die Gardine zur Seite und warf einen Blick auf das Brandenburger Tor, als sei von dort Hilfe zu erwarten. Die Straßen waren mit zahllosen Hakenkreuzfahnen und den Flaggen der neunundvierzig Nationen geschmückt, die an der Olympiade teilnahmen. Ein Strom von Menschen bewegte sich auf dem Boulevard Unter den Linden von Ost nach West. Die Euphorie drang von allen Seiten an Elises Ohren, von draußen durch die Fenster und von den Fluren des Adlon durch die Tür. Es war wie ein stechender Schmerz, zusätzlich zu den anderen Leiden, die Elise gerade ausstand.
Sie griff zum Telefon. »Empfang? Ich erwarte ein Gespräch, das mir für neun Uhr avisiert wurde. Nun ist es bereits zehn, und ich … Was meinen Sie mit überlastet? Das Telefonat ist äußerst wichtig.«
Ungeduldig lauschte sie den nichtssagenden Beschwichtigungen des Rezeptionisten.
»Die Olympischen Spiele sind mir egal, hören Sie? Mein Mann versucht, mich zu erreichen, es geht um Leben und Tod … Nein, ich werde mich nicht beruhigen. Tun Sie einfach Ihre Arbeit.«
Sie warf den Hörer auf die Gabel. Natürlich war sie ungerecht. Hunderte von Hotelgästen wollten ihre ersten Eindrücke von den Feierlichkeiten nach Hause melden. Das Hotel war ausgebucht. Für zwei Wochen war Berlin so etwas wie die Welthauptstadt, und das Adlon war die beste Adresse. Absichtlich hatte Elise übertrieben, als sie von Leben und Tod sprach, und zudem verschwiegen, dass der Anruf, den sie erwartete, aus dem Gefängnis kommen würde. Dieses Detail wäre einer bevorzugten Bearbeitung durch die Telefonzentrale gewiss nicht förderlich gewesen. Der Gedanke jedoch, dass Isaac sie wegen einer pompösen Nazi-Parade nicht erreichte und sie seine Stimme, die sie seit Monaten entbehrte, nicht hörte, ließ sie fast verrückt werden.
Im Zimmer nebenan quengelte ihr Sohn, der kleine Noah. Mit seinen zwei Monaten war er in einem Alter, in dem selbst seine Quengelei Elises Mutterherz höherschlagen ließ.
Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Er hat schon wieder Hunger«, antwortete Biene und legte den Säugling an die Brust. Sie war für eine Frau recht groß und korpulent und hatte Wangen so rot wie Weihnachtssterne.
Elise hätte Noah gerne selbst gestillt, aber das war eines der Dinge, in der sie ihre Erziehung über ihren Instinkt stellte. Eine Frau ihres Standes tat so etwas nun mal nicht selbst, schon gar nicht, wenn sie Mitte vierzig war und bereits Großmutter hätte sein können. Biene, die eigentlich Eberhardine hieß, war eine mehr als würdige Stellvertreterin. Seit vielen, vielen Jahren in den Diensten der Familie Blankenburg, hatte sie sich zum ersten Hausmädchen und, mehr noch, zum Faktotum entwickelt. Ihr konnte Elise alles sagen, jede Wahrheit und jede Schmach anvertrauen.
»Immer noch nichts?«, fragte Biene, während sie ihre üppige Brust an Noahs Lippen führte.
»Da draußen ist die Hölle los«, sagte Elise kopfschüttelnd.
»Ein wahres Wort, gnädige Frau. Das ist wirklich die Hölle: ein Fest des Friedens, ausgerichtet von Raubrittern. Eine Schande, dass kein Land diese Scharade boykottiert, nicht einmal die Franzosen und Engländer, denen Hitler seit Jahren auf der Nase herumtanzt.«
»Ach, als ob ein Boykott etwas ändern würde …«
Es war schon Ironie, dass Biene, die sich noch vor ein paar Jahren nicht im Mindesten für Politik interessiert hatte, sich plötzlich als Aufwieglerin verstand, wohingegen Elise als Tochter eines zeitlebens hochpolitischen Wirtschaftsmagnaten die Politik am liebsten mit all dem anderen stinkenden Zeug auf den Kompost geworfen hätte. Seit dem Börsensturz von 1929, dem »Schwarzen Freitag«, der ihren ersten Mann und ihren Vater das Leben gekostet hatte, stand Elises Welt Kopf – zuerst der drohende Ruin der ererbten Porzellanmanufaktur, die hoch verschuldet war, dann die Nazis, die ihre Familie spalteten und zerpflückten. Sie wollte der Politik einfach nicht verzeihen, dass sie sich in ihre intimsten Belange einmischte, vor allem in ihre noch junge Ehe mit einem Juden.
Im Türrahmen stehend, schweifte Elises Blick über Bienes Dienstbotenzimmer, das obligatorisch war für ein Hotel wie das Adlon, in dem kaum ein Gast ohne Hausangestellte anreiste. Die Einrichtung war solide, aber unpersönlich: Bett, Schrank, Tisch und Stuhl aus ungeöltem Kiefernholz. Die Wiege des kleinen Noah stach daraus hervor wie eine Schwarzwälder Torte zwischen lauter Rührkuchen. Für einen kurzen Moment erfasste Elise die Diskrepanz der beiden Zimmer – früher hatte sie sich um solche Dinge keine Gedanken gemacht –, und sie verstand, warum die Nazis mit ihrer Idee der Gleichheit und der Abschaffung der Stände einen solchen Erfolg bei den Massen hatten. Doch dann klingelte das Telefon, und alles andere war vergessen.
»Isaac«, rief sie in die Sprechmuschel. »Liebster.«
»Ein Gespräch für Sie, Frau Löwenkind. Aus dem Gefängnis Moabit.« Der Unterton des Rezeptionisten troff von unverhohlener Verachtung. Auch das war die neue Zeit: Die Privilegien des Respekts und der Höflichkeit genossen nur diejenigen, die mitspielten. Frauen, deren Ehemänner im Gefängnis saßen, gehörten zu den Spielverderbern.
In der Leitung knackte es, woraufhin Elise erneut rief: »Isaac? Bist du es? Liebster?«
»Kriminalsekretär Koppe.« Die Stimme des Gestapo-Mannes klang kühl und distanziert, war jedoch frei von Herablassung. »Man hat Ihrem Gatten gestattet, mit Ihnen zu sprechen. Sie haben fünf Minuten, die Zeit läuft.«
»Isaac«, presste sie hervor. »Liebster?«
»Ich bin hier.«
»Isaac!«
»Ja.«
Einige Sekunden lang brachte sie kein Wort hervor, nur Laute, die sich in ihren Ohren seltsam anhörten, als stammten sie nicht von ihr, von überhaupt keinem menschlichen Wesen.
»Was …?«, begann sie endlich, hielt sich jedoch im letzten Augenblick zurück, ihn zu fragen, was sie mit ihm gemacht hatten. Gewiss hörten sie mit.
»Wie geht es dir?«
»Gut. Aber erzähl mir lieber von unserem Kind.«
Seit Isaacs Verhaftung war viel passiert, weshalb Elise manchmal vergaß, dass er seinen Sohn noch nie zu Gesicht bekommen hatte, ja, noch nicht einmal wusste, welches Geschlecht sein Kind hatte.
»Wir haben einen Sohn, Isaac. Er ist gesund. Er hat andauernd Hunger. Er schläft sehr viel, fast zu viel für meinen Geschmack. Ich mag es, wie er mit seinen Ärmchen fuchtelt. Und wie er lächelt. Er lächelt für drei. Er ist … ist so … wunderschön.«
Obwohl Elise sich vorgenommen hatte, auf keinen Fall zu weinen, brach sie in Tränen aus. Sie bemühte sich zwar, es zu überspielen, doch den Mann, der sie aufrichtig liebte, konnte sie nicht täuschen.
»Du musst nicht tapfer sein«, sagte Isaac, der seinerseits versuchte, etwas vor ihr zu verbergen, und ebenso scheiterte.
Die Erschöpfung lag wie ein öliger Film auf seiner Stimme, sosehr er sich auch bemühte, sie mittels übertriebener Lautstärke zu verhüllen. Elise schob seinen Zustand auf die Haft, weil der Gedanke, dass er noch Schlimmeres über sich ergehen lassen musste, sie zu sehr niedergedrückt hätte. Es gab Gerüchte.
»Vier Minuten«, rief der Gestapo-Mann dazwischen.
»Er heißt Noah«, berichtete sie weiter, wischte sich die Tränen von den Wangen und nannte Isaac das Gewicht, die Farbe der Augen, der Haare, der Gesichtshaut … »Er kommt sehr nach dir.«
Das war nicht ganz die Wahrheit, man könnte auch sagen, es war geschwindelt. Eine Lüge, um der Liebe willen.
»Noah«, wiederholte er, als handele es sich um eine Verheißung.
»Ja. Ich hoffe, der Name gefällt dir. Wir haben vorher ja nie darüber gesprochen.«
»Ja, er gefällt mir. Noah, der Neubeginn.«
»Drei Minuten.«
Elise ertappte sich dabei zu hassen. Es war ein neuartiges Gefühl für sie, so unangenehm wie kratzende Wäsche. Den Gestapo-Mann, seine Behörde, deren Erfinder, den vorherrschenden Ungeist und die Unmoral – alles zusammen wünschte sie zum Teufel. Genau das wollten diese Leute. Sie beschränkten sich nicht darauf zu verhaften, zu verhören, auszugrenzen, sie drängelten sich nicht nur in das Leben der Missliebigen, sondern auch in ihre Gedanken und Gefühle. Sie sollten werden wie diese Leute selbst, verachtend.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte sie.
»Ja. Erzähl mir von dir.«
»Sie wollen dich in Kürze vor Gericht stellen.«
»Ich weiß. Sprechen wir lieber von dir.«
Die Nachricht hatte Elise eine Woche zuvor brieflich erreicht, und seltsamerweise war sie daraufhin für eine Minute getröstet, ja, geradezu glücklich gewesen. Isaac lebte. Und nicht nur das, er verschwand nicht einfach, so wie einige Jahre zuvor sein Sohn Esra oder wie kürzlich Elises Schwägerin Chen Lu, die von den Nazis verschleppt worden waren. Erst ein paar Atemzüge später war ihr bewusst geworden, dass dieses Gerichtsverfahren nur Makulatur sein und zu einem Schauprozess gegen den »verbrecherischen Juden« verkommen würde.
»Ich werde dabei sein«, sagte sie.
»Nein.«
»Doch, Isaac. Deswegen bin ich nach Berlin gekommen.«
»Du bist in Berlin?«
»Um in deiner Nähe zu sein. Und um für dich auszusagen.«
»Nicht doch!«
»Aber ja. Die...
Erscheint lt. Verlag | 23.11.2022 |
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Reihe/Serie | Die Porzellan-Dynastie | Die Porzellan-Dynastie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Allianzen • Deutschland • Downton Abbey • eBooks • Familiensaga • Familienunternehmen • Frankfurt • Frankreich • Generationenroman • geschenk für die mutter • Historische Romane • historische romane 20. jahrhundert • Loire • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2022 • Neuerscheinungen 2023 • Peter Prange • Porzellan-Dynastie • Schicksalsroman • Starke Frauen • Weihnachtsgeschenk • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-27663-2 / 3641276632 |
ISBN-13 | 978-3-641-27663-8 / 9783641276638 |
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