Sápmi, so nennen es die Ureinwohner von Nord-Skandinavien, ist wild, einzigartig und so weitläufig, dass sogar die gigantischen Rentierherden klein wirken können.
Tilmann Bünz nimmt uns mit auf eine lange Reise mit dem Nachtzug von Stockholm bis an die Küste des Eismeeres. Wir sind dabei wenn die letzten freien Rentierherden den Weg ins Tal antreten, rasen durch den Winterwald mit der Hundenärrin Kitty, erfahren warum alle Welt so verrückt ist auf das Polarlicht und sind eingeladen bei Åsa Larsson zu Kaffee und Kuchen. Wortgewandt und einfühlsam zeigt uns Tilmann Bünz eine ebenso fremde wie wunderschöne Welt. Man möchte sofort die Taschen packen und mit eigenen Augen sehen, was er so eindrücklich beschreibt.
Tilmann Bu?nz, 1957 geboren, war lange Jahre ARD-Korrespondent für Skandinavien und die baltischen Staaten. Er ist Autor und Dokumentarfilmer. Für dieses Buch schwang er sich in den Sattel und radelte von Litauen über Lettland nach Estland. Er lebt in Hamburg und in den Schären vor Stockholm.
Stockholm Abfahrt 18:03
Erste Lektion in Lappland: nicht mit Puschen in den Speisewagen.
Zwischen den Waggons liegt der Schnee knöchelhoch.
»Ganz normal«, sagt die Köchin und wirft einen kurzen Blick auf unsere Hüttenschuhe, »ein bisschen Schnee kommt immer durch die Ritzen.«
Es ist acht Uhr abends kurz hinter Uppsala, und eine lange Fahrt liegt vor uns. Noch eintausendzweihundert Kilometer bis Kiruna.
Die Zeit könnte sich dehnen. Doch dann beginnt der junge, blonde Mann mit der kleinen Wampe, der schräg über den Gang sitzt, aus seinem Leben zu erzählen.
Es fühlt sich an wie in einem russischen Roman.
Pärvo war Koch hoch oben in einer Touristenstation, nahe am Nordlicht.
»Zwanzig Grad minus fühlen sich nach einer Weile wie zehn Grad plus an.« Pärvo ist, wie man an seinem rollenden R erkennen kann, ein Finnlandschwede – und laut Selbstauskunft trockener Alkoholiker. »Familientradition«, sagt er und grinst. Ob wir mal kurz auf sein Bier und sein Handy aufpassen könnten, er müsse austreten. Er sei gerade auf dem Weg zu einer Sauftour mit alten Kollegen, berichtet er, als er zurück ist. Und dass er eine Freundin hat, die ihn gerettet habe, als er ganz unten war, damals, als er mit siebzehn in einem Hotel in Kopenhagen strandete. Die – Krankenschwester sei sie von Beruf – möge es nicht, dass er trinke, aber ab und zu könne er eben nicht anders. Als er das sagt, sieht er nicht unzufrieden aus. Fröhlich zitiert er ein klassisches Sprichwort: »Warum sollte man seine alten Sünden bereuen, wenn man doch neue Sünden begehen könnte?« Von wem es stammt? »Ach – egal«, sagt er.
Eine junge Frau mit halbseitig geschorenem Schopf, die andere Hälfte voller blonder Locken, betritt die Bühne des Buffetwagens, hört den Monolog und sieht uns nicken. Sie mischt sich sofort ein: »Du machst mich ganz krank mit deiner Geschichte. Du bist so hübsch – du könnest fünf Kinder haben und eine schöne Frau.«
»Und was ist, wenn ich das nicht will«, sagt er.
So direkt geht es nicht immer in schwedischen Zügen zu. Doch der Nachtzug nach Kiruna macht da eine Ausnahme. Lappland war schon immer eine besondere Gegend.
Die allzu hart sind, brechen
Lappland ist etwas für Liebhaber. Das offenbart auch der Blick aus dem Zugfenster. Draußen fliegen die Fichten vorbei. Sie sind kleinwüchsig und knorrig. Die Bäume halten ihre Zweige dicht am Stamm, breiten sie nicht aus. So als ob sie frören.
Der Urwald der Arktis sieht vergleichsweise mickrig aus. Man muss ihn sich schöngucken. Keine Spur von mächtigen Kronen und breiten Stämmen oder dem, was man sich so vorstellt, wenn man an einen Urwald denkt. Einige dieser zähen Geschöpfe dort draußen am Bahndamm stemmten sich schon gegen die brausenden Winterstürme, als Mozart seine Nachtmusik komponierte.
In der Arktis wächst alles langsam, und ich muss an die Worte in Wolf Biermanns »Ermutigung« denken: »Die allzu hart sind, brechen, die allzu spitz sind, stechen.« Hier oben überlebt nur das, was sich klein machen kann und sich verkriecht wie die Bären, wenn der Winter kommt.
Aber sind das nicht auch Schreckgespinste, verbreitet von Leuten, die andere verknurren möchten, wie man in der Schweiz sagt?
»Als Kinder aus Mittelschweden dachten wir, dass es in Lappland immer kalt und dunkel ist,« erzählte uns Jessica. Auch Jessica gehört zu Lappland (und damit in dieses Buch). Sie ist keine Sami, sondern eine Zugezogene, eine aus dem Süden, die für den Job in den Norden kam und nicht mehr von dort wegwill. Nun will sie, dass wir ihre neue Welt kennenlernen.
»Niemand hat uns erzählt, dass im Sommer die Sonne monatelang nicht untergeht und man in den Seen baden kann, wenn man nicht zimperlich ist.«
Jessica wohnt so ziemlich am Ende der Bahnstrecke, in Abisko, dort, wo man das Polarlicht am besten sehen kann – und sie hat uns eingeladen mit ihr in den Himmel zu gucken.
Nach Lappland kommt man mit dem Zug, so wie einst die neuen Siedler, die Männer und Frauen und Kinder von Kiruna und Gällivare, die Grubenarbeiter, Köchinnen, Krankenschwestern und Ingenieure. In jener Zeit der Pioniere um 1900 dauerte die Fahrt von Mittelschweden bis hierher noch sechsunddreißig Stunden. Nach zwei Nächten und einem Tag in der Holzklasse tat dann das Gesäß weh. Inzwischen ist die Reise komfortabler.
Unser Zug tuckert durch die Nacht. Meine Frau Jutta – zum ersten Mal in Lappland – sagt: »Ich könnte jetzt noch tagelang weiterfahren und mich verlieren.«
Draußen hat es aufgehört zu schneien, zwischen den Abteilen ist der Schnee festgetrampelt. Halbwegs trockenen Fußes gelangen wir zurück ins Abteil. Nächstes Mal bleiben wir besser in den Stiefeln, wenn wir in den Speisewagen gehen.
Unterwegs mit Nils Holgersson
Der Morgen graut, allmählich wird es hell. Tatsächlich ist es schon nach 10 Uhr – wir nähern uns Kiruna. Eintausenddreihundert Kilometer hat sich der Zug durch eine Landschaft zwischen Taiga und Tundra gebimmelt. Die Dämmerung lässt langsam Konturen von Häusern am Bahndamm erkennen, meist sind sie, auch das erkennt man nun, ochsenblutrot mit weißen Dachkanten. Wir sind zweifelsfrei noch in Schweden.
Hier oben liegt reichlich Schnee, so viel, dass es uns zwei Lapplandfahrenden die Augen blendet, als die Sonne aufgeht. Dies ist die Gegend, wo man die dem Wind ausgesetzte Hausseite komplett einschneien lässt, weil Schnee isoliert. Es dauert eine Weile, bis man diesen Satz in seiner Tragweite begreift. Der Schnee wärmt das Haus, so wie ein Iglu seine Bewohner schützt.
Der Zug passiert eine kleine Stadt und drosselt das Tempo.
Wir sehen im Vorbeifahren einen Mann mit seiner Haustür kämpfen. Man sieht vom Mann nur den Kopf mit der Zipfelmütze aus der Tür ragen. Der Schnee liegt mindestens einen Meter fünfzig hoch. Ob es ihm gelingt, sein Haus zu verlassen?
Es gibt Winter, da hört es gar nicht mehr auf zu schneien. Dann bleibt nur der Weg aus dem ersten Stock zum Aussteigen. 2020 war so ein Winter. Sechs Meter Schnee – das ist auch für Lappland eine Menge. Für viele Tiere war es ein Hungerwinter. Ein Ren schafft es zwar, mit seinen großen Hufen Flechten in zwei Meter Tiefe auszugraben. Aber sechs Meter sind zu viel.
Winter in Lappland ist für die einen eine Verheißung. Für viele eher ein Fluch. In meinem Reisegepäck steckt ein dickes Buch, ein Wälzer von einigen Hundert Seiten, der vor über einhundert Jahren genau auf dieser Bahnstrecke geschrieben wurde, jedenfalls zum Teil. Die schwedische Autorin (und erste Nobelpreisträgerin für Literatur) Selma Lagerlöf reiste 1904 mit der Eisenbahn nach Lappland. Sie recherchierte in allen Teilen Schwedens für ein Lehrbuch der Geografie. Sie verwebte darin Ortskunde mit schwedischen Sagen so meisterhaft, dass es nach den Schulkindern auch Erwachsene verschlungen haben. Die Rede ist vom Däumling Nils Holgersson und seinen Wildgänsen, die im Sommer nach Lappland fliegen und dann im Herbst fast fluchtartig den Rückweg antreten:
»Nils Holgersson dachte auch, es sei höchste Zeit für die Wildgänse, südwärts zu ziehen, denn es war schon sehr viel Schnee gefallen; so weit das Auge reichte war die Erde ganz weiß und es war auch in der letzten Zeit im Felsental tatsächlich recht unbehaglich gewesen.«[1]
Der Winter zwingt zudem die Rentiere hinab in die Täler. Auch darüber berichtet Selma Lagerlöf, die zusammen mit ihrer Begleiterin Sophie Elkan auf eine Reise nach Norrland gegangen war und in der neuen Herberge des Schwedischen Touristenvereins wohnte, die zuvor den Bahningenieuren in Abisko als Baracke gedient hatte.
Es wurde einsam oben im Norden. Nur wenige Tiere trauten sich den Winter in Lappland zu.
»Aber als die Bären die Wildgänse sahen, zeigten sie sie ihren Jungen und brummten: seht, seht! Diese dort fürchten sich vor ein bisschen Kälte; deshalb bleiben sie im Winter nicht daheim.
Aber die alten Wildgänse blieben den Bären die Antwort nicht schuldig, sondern riefen den Jungen zu: seht, seht! Diese verschlafen lieber das halbe Jahr, als dass sie sich die Mühe machen, südwärts zu reisen!«
Vorfahrt für Rentiere
Immer wieder schreckt uns der Lokomotivführer aus dem angenehmen Halbschlaf einer langen Zugreise. Die Tiere des Waldes nutzen gerne die Wege der Menschen, wenn sie im Schnee nicht mehr vorankommen. Dann hupt sie der Zugführer von den Gleisen, und im Vorbeifahren sehen wir eine kleine Ren-Herde in den Wald verschwinden.
Hier oben gibt es noch richtiges Wetter. Wo Naturkräfte wirken, darf man sich endlich mal angemessen klein fühlen. Lappland sperrt sich gegen alles, was zu geplant ist. Im Zweifel machen Rentiere sowieso allen Plänen einen Strich durch die Rechnung.
Ein paar Jahre zuvor, auf einer Drehreise für ARTE, trabten drei Rene auf der Europastraße Kiruna Richtung Narvik und knabberten dann auf den Gleisen der Erzbahn an den letzten Halmen zwischen den Schwellen. Im Gelände kamen sie nur mühsam voran. Man sah nur noch ihr Hinterteil aus dem Schnee ragen.
Wie sollte unter solchen Umständen der Nachtzug nach und von Stockholm pünktlich sein?
Verabredungen stehen hier immer unter Vorbehalt, besonders, wenn die Temperatur auf dem Thermometer ganz tief in den Keller geht. An diesem Tag sank sie auf minus 38 Grad. Eigentlich stand ein Interview mit einem jungen Rentierhirten in der Nähe von Kiruna an. Doch der hatte uns abgesagt. Der Grund: eine Mischung aus unerträglichen Zahnschmerzen und Renen in Not. Wir glaubten ihm, er klang am...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • 2024 • Aurora Borealis • eBooks • Lappland • Neuerscheinung • Nordlicht • Nordschweden • Reisebericht • Reisen • Rentiere • Sápmi • Schweden |
ISBN-10 | 3-641-29588-2 / 3641295882 |
ISBN-13 | 978-3-641-29588-2 / 9783641295882 |
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