Wo vielleicht das Leben wartet (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
544 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3086-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo vielleicht das Leben wartet - Gusel Jachina
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Ein Sieg der Menschlichkeit in aussichtsloser Lage.
Kasan 1923: Im Wolgagebiet herrscht große Hungersnot. Dejew, ein ehemaliger Soldat auf der Seite der Roten, soll fünfhundert elternlose Kinder mit einem Zug nach Samarkand schaffen, um sie vor dem sicheren Hungertod zu retten. Aber es fehlt an allem für den Transport: Proviant, Kleidung, Heizmaterial für die Lokomotive, Medikamente.

Ein Roadmovie durch ein total zerrüttetes Land beginnt, in dem in weiten Teilen immer noch der Bürgerkrieg wütet. Dejew, der selbst ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt, scheut kein Wagnis und keine Gefahr, um die Kinder ins Land des Brotes und der Wunderbeere Weintraube zu bringen.

Gusel Jachinas Roman ist eine Ode an die Zuversicht – und an die Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten.

Gusel Jachina, geboren 1977 in Kasan (Tatarstan), russische Autorin tatarischer Abstammung, studierte an der Kasaner Staatlichen Pädagogischen Hochschule Germanistik und Anglistik und absolvierte die Moskauer Filmhochschule. Ihr Roman “Suleika öffnet die Augen“ wurde in 31 Sprachen übersetzt, ihr zweiter Roman „Wolgakinder“ in 14 Sprachen. Ihr dritter Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“ wird in 19 Sprachen erscheinen und ist wie alle ihre Bücher in Russland ein Bestseller. Gusel Jachina lebt mit ihrer Familie in Moskau.

Helmut Ettinger, Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Polina Daschkowa, Darja Donzowa, Sinaida Hippius, Gusel Jachina, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger und viele andere ins Deutsche.

Eine ungeschminkte Auseinandersetzung mit einem düsteren Kapitel der Sowjetgeschichte und ein Roman der starken Emotionen.

»Der Roman 'Wo vielleicht das Leben wartet' wurde noch vor seinem Erscheinen (in Russland) zu einem wichtigen Bestandteil der Diskussion über die dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit.« Gorki Media

»Gusel Jachina ist eine der bedeutendsten Autorinnen der russischen Gegenwartsliteratur.« Ljudmila Ulitzkaja

»Gusel Jachina fesselt ihre Leser vonder ersten bis zur letzten Seite.« NZZ

I. Fünf-hundert


Kasan

4000 Werst1 – diese Strecke hatte der Sanitätszug der Kasaner Eisenbahn bis nach Turkestan zurückzulegen. Doch den Zug gab es noch nicht. Der Befehl, ihn zusammenzustellen, war gerade erst am Vortag, dem 9. Oktober 1923, unterschrieben worden. Fahrgäste waren auch noch nicht da. Die vom Hunger bis auf die Knochen abgemagerten und extrem geschwächten Mädchen und Jungen von zwei bis zwölf Jahren mussten erst von Kinderheimen und Sammelstellen abgeholt werden. Nur den Zugführer gab es schon: jung, hatte im Bürgerkrieg gekämpft. Name: Dejew. Soeben ernannt.

»Es geht um Kinder«, warf ihm der Leiter der Transportabteilung Tschajanow anstelle einer Begrüßung hin. »500 Seelen. Die müssen von Kasan nach Samarkand gebracht werden. Auftrag und Instruktionen kriegst du bei der Sekretärin.«

Während der Jahre, die Dejew nun schon bei dieser Abteilung angestellt war, hatte er alles begleitet, was man auf Schienen befördern konnte – von beschlagnahmtem Getreide und Vieh bis zu Waltran in Kesselwagen, eine Spende des befreundeten Norwegens für das hungernde Wolgagebiet. Kinder waren bisher nicht dabei gewesen.

»Wann soll’s losgehen?«

»Am besten schon morgen. Wenn du Wagen und Kinder beisammenhast, Dejew, dann nichts wie weg! Kinder mögen keine langen Fahrten, das wirst du bald merken.«

Das war alles, ein Wortwechsel von ein paar Minuten, nicht mehr. Was er »bald merken« sollte, war ihm nicht klar. Doch darüber nachdenken konnte er jetzt nicht. Lange Grübeleien waren etwas für alte Leute, die Zeit im Überfluss hatten.

Als Erstes suchte er den Bahnhofsvorsteher auf. In dessen Büro versprach man ihm, alle Reserven zusammenzukratzen. Das Ergebnis war ein einziger Wagen, aber erster Klasse. Die Sitze, einst von edlem Blau, waren zu einem trüben Grau verblichen, die Gobelintapeten an manchen Stellen heruntergerissen, doch die Spiegel an der Innenseite der Abteiltüren fast alle noch ganz. Der Wagen hatte einen großen Gemeinschaftsraum, in dem man Walzer tanzen konnte. Einst hatte sich dort die Reisebibliothek befunden – sogar mit einem Konzertflügel. Jetzt stand da eine schartige gusseiserne Wanne, die man wahrscheinlich aus dem Bad hergeschleppt und dann vergessen hatte. Inmitten von leeren Bücherregalen und verstaubten Kronleuchtern gab sie ein komisches Bild ab. Dejew runzelte die Stirn, doch den Wagen behielt er. Er befahl, die Tapeten abzureißen und die Kronleuchter hinauszuwerfen. In die Abteile sollten anstelle der Gepäcknetze eine zweite und dritte Pritsche übereinander eingebaut werden. Die Wanne wollte er behalten. Als er versuchte, ein Kanonenöfchen dazuzubekommen, um für die Kinder Wasser wärmen zu können, musste er sich einen Bourgeois nennen lassen und verschob die Sache auf später.

Auf den zweiten Wagen wartete er bis zum nächsten Tag. Er wurde in Krassnaja Gorka entdeckt, wo er zwei Jahre lang in einer Ecke des Depots gestanden hatte. Als Dejew dieses Beutestück zu sehen bekam, zuckte er zusammen: Das war kein Personenwagen, sondern eine Reisekapelle! Offenbar stand sie so lange im Depot, weil man in der neuen Sowjetzeit keine Verwendung für sie gefunden hatte. Die mit nachgedunkelter Bronzefarbe gestrichene Kuppel konnte man entfernen und den Altar herausreißen. Aber was sollte er mit den rot umrandeten Bogenfenstern anfangen? Und mit dem Schmuck an der Decke? Dejew nahm auch diesen Wagen. Weil er so geräumig war. »Wie viele Pritschen übereinander sollen hier rein?«, fragte der Vorarbeiter der Zimmerleute mit einem ehrfurchtsvollen Blick zur Decke. »Meinetwegen, drei!«, ließ Dejew fallen. Sicher hätten auch vier Platz gehabt, doch vor solcher Höhe kriegten die Kinder vielleicht Angst.

Auf einen Küchenwagen musste Dejew weitere zwei Tage warten. Aus Simbirsk schickte man ihm ein etwas kurz geratenes Gehäuse auf Rädern, aus gehobelten Brettern zusammengenagelt und später mit Sperrholzplatten geflickt. Aus der Dachluke guckte etwas heraus, das ein Ofenrohr sein sollte. Wie er hörte, wären in den Gassen von Simbirsk viele solche Kästen aus dem 19. Jahrhundert zu finden, die er schon gebraucht hätte. Aber das nachzuprüfen war keine Zeit.

Schließlich koppelte man einen aus Moskau eingetroffenen Personenzug auseinander und hängte fünf Wagen an Dejews Zug an. Dieses Sammelsurium aus Personenwagen erster und dritter Klasse, Kirche auf Rädern und Bretterbude als Küche hatten die Eisenbahner bereits »Girlande« getauft. Für die letzten fünf Neuzugänge, die nach Zigarettenrauch stanken und mit der Spucke zahlloser Fahrgäste verziert waren, brauchte Dejew keine Zimmerleute, sondern Reinigungskräfte. Doch inzwischen hatte er den Bahnhofsvorsteher mit seinen Forderungen so genervt und immerzu sofortigen Vollzug verlangt, dass der ihm eine Putzkolonne rundweg ablehnte. Da spuckte Dejew in die Hände, holte zwei Eimer Wasser und machte sich selbst an die Arbeit.

Hier tauchte sie zum ersten Mal auf. Dejew lag gerade lang ausgestreckt auf dem klatschnassen Fußboden und angelte mit einem Lappen die Schalen von Sonnenblumenkernen unter einer Pritsche hervor, als vor seiner Nase zwei Infanterie-Schnürstiefel auftauchten. Er schaute auf und sah schlanke Waden, die nicht in Fußlappen, sondern in zarten Wollstrümpfen steckten.

»Sie Mörder!«, tönte es von oben. »Was trödeln Sie hier herum?«

Verblüfft ließ Dejew seinen Blick weiterwandern bis zu einem schwarzen Rock, unter dem sich spitze Knie abzeichneten.

»Während Sie Ihren Bauch über den Fußboden schieben, sterben Kinder!«

Als er unter der Pritsche hervorkriechen wollte, um sich draufzusetzen, stieß er sich den Kopf an einer scharfen Kante.

»Was bist du denn für eine?« Dejew war schüchtern gegenüber Frauen. Deshalb duzte er sie, gab sich betont forsch und unnahbar.

»Kinderkommissarin. Wir fahren zusammen nach Samarkand, wenn Sie geruhen, sich aus der Pfütze zu erheben und an die Erfüllung Ihres Auftrags zu gehen.«

»Hast du auch einen Namen, Kommissarin?«

»Belaja.«2

Dejew sann darüber nach, ob dies ein Vor- oder Familienname sein sollte. Nachzufragen traute er sich nicht.

Sie war älter als er, aber nicht so viel, dass sie seine Mutter hätte sein können. Vielleicht eine ältere Schwester. Schönes, strenges Gesicht wie von einem Plakat. Kurz geschnittenes blondes Haar. Nach allen Seiten abstehende Löckchen. Sie hatte den Vorgesetztenblick, der einem Armeeoffizier alle Ehre gemacht hätte. Beinahe wäre Dejew aufgesprungen und hätte sich in Ordnung gebracht. Aber das tat er nicht. Ohne Eile fuhr er sich durchs Haar, entfernte ein paar Schalen, die darin hängengeblieben waren, ließ den Lappen in den Eimer klatschen, dass das Wasser überschwappte und die Schuhe der Kommissarin bespritzte, und blieb in lässiger Haltung auf dem Boden sitzen.

»Vielleicht hilfst du mir erst mal beim Scheuern, Genossin Belaja? Oder willst du die Kinder in diesem Saustall unterbringen?«

»Mach ich«, antwortete sie ernst. »Aber nachts, wenn die Kinder schlafen.«

»Wir beide etwa nicht?«, gab Dejew zurück. Er wollte ihr gar nicht frech kommen; das war ihm einfach so rausgerutscht.

Sofort war es ihm peinlich. Er quälte sich hoch, schüttelte den Dreck von der aufgekrempelten Hose und den nackten Knien. Als er schließlich aufrecht vor ihr stand, musste er immer noch zu ihr aufschauen. Kommissarin Belaja war einen halben Kopf größer als er.

»Ich fürchte, zum Schlafen werden wir nicht viel kommen, Dejew«, sagte sie und schaute ihn unverwandt an. Jetzt konnte er endlich ihre Augen sehen. Grau, kalt und von geraden Wimpern umgeben. »Bis wir in Samarkand sind«, fügte sie hinzu.

Nur wenige Minuten später schritt er bereits an ihrer Seite dahin. Eigentlich schritt er nicht, sondern trappelte neben ihr her über die regennassen Gleise, sehr bemüht, nicht auszurutschen oder gar in den Laufschritt zu verfallen.

Sie nahm gleich zwei Schwellen auf einmal; schließlich hatte sie mädchenhaft dünne Beine und eine schlanke Figur, von der allerdings unter den dicken Falten der von einem Koppel zusammengehaltenen Feldbluse kaum etwas zu sehen war. Während Dejews Blick dem schnellen Takt ihrer breiten Schuhe folgte, ging ihm...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2022
Übersetzer Helmut Ettinger
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Эшелон на Самарканд
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuerreise • Bürgerkrieg • historisch • Hungersnot 1923 • Kasan • Kazan • Kinder • Kindertransport • Kommunismus • Kosaken • Rettungsaktion • Russische Literatur • Russische Revolution • Russland • Russland 20. Jahrhundert • Samarkand • sowjetisch • Sowjetunion • Überleben • Usbekistan • Zug • Zugführer • Zugreise
ISBN-10 3-8412-3086-5 / 3841230865
ISBN-13 978-3-8412-3086-7 / 9783841230867
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