Grenzen überwinden (eBook)
myMorawa von Dataform Media GmbH (Verlag)
978-3-99129-101-5 (ISBN)
Die Jahre der Asche
Munir Alubaidi
Eine Hinrichtung ist nicht grausamer als Einzelhaft.
Die Einzelhaft ist viel grausamer als die Hinrichtung. Hinrichtung ist ein Moment, Einzelhaft ist Ewigkeit. Ich habe den Film „Papillon“ gesehen, war aber nicht drin, ich war eher am Rand der Leidenschaft, ein Beobachter; da ich wusste, dass draußen eine parallele Welt existiert, eine echte Welt: heitere Tage, Sonne, Geselligkeit … Alle diese Dinge hinderten mich wahrzunehmen, wie schrecklich das Leben in der Einzelzelle ist.
Als ich dieses Ereignis erlebte, als ich Zeit in Einzelhaft verbracht hatte, habe ich die Bedeutung von „Einzelhaft“ real wahrgenommen.
Der Gefangene in Isolationshaft will Änderung haben, selbst wenn diese zum Tode führt. Er will ein Wort hören, ein Wort, um ihn fühlen zu lassen, dass er ein Mensch ist. Selbst wenn das Wort beleidigend ist.
„Endlich hörten sie auf, mich zu foltern. Nächte wie Blei sind schwer und grau vergangen. Jede Änderung ist willkommen. Egal, ob sie zur Exekution, zu anderem Gefängnis oder zur Freiheit führt!“
An einem Abend im August eines Jahres des vorigen Jahrhunderts sind Personen des Geheimdienstes zu meiner Einzelzelle gekommen, haben mir die Augen verbunden, Handfesseln angelegt und mich aus der Zelle heraus zu einem kleinen Lastwagen geführt. Zwei Personen haben mir geholfen, auf die Ladefläche des Lastwagens zu steigen. Jemand drückte meine Schultern herunter und schob mich auf einen Sitzplatz. Ich fühlte, dass ich nicht allein war. Im Gefängnis durften wir mit niemandem reden. Ich habe keine Stimme gehört. Trotzdem fühlte ich, dass andere Gefangene auch da waren.
Das Atmen und die Körperbewegungen waren hörbar. Riechbar waren auch die langen nicht gewaschenen Körper.
Da habe ich mich gefragt: „Ist Yousif gerade mit uns?“
Vor ein paar Monaten haben wir uns neben der Bagdad - Messe getroffen, Yousif, der Parteiorganisationsvorsitzende und ich. Nachdem das Treffen beendet war, gingen wir verschiedene Wege. Als ich einen kleinen Garten im Viertel Alyarmuk erreichte, wurde ich von 3 Personen angegriffen, gekidnappt und zu einem unbekannten Gebäude geführt. „Sie haben gewartet. bis sich unsere Wege getrennt hatten. Vielleicht wurde Yousif auch festgenommen, vielleicht sitzt er gerade neben mir.“
Es war nicht so schrecklich damals, wie es jetzt scheint. Manchmal ist etwas zu erinnern schrecklicher, als es zu erleben. Ein Gefangener, der regelmäßig gefoltert und gedemütigt wird, befindet sich in einem Zustand, in dem seine Gedanken und Gefühle sehr chaotisch sind. Das führt dazu, dass es ihm egal ist, ob er lebt oder tot ist. Er will ein Ende seines Leidens erleben, egal welches. Er verliert die Fähigkeit, seine Situation zu bewerten oder seine Wünsche wahrzunehmen.
Das Auto bewegte sich. Am Anfang sah ich durch den Augenverband Lichter. Lichter unterschiedlicher Farben und Stärke blitzten entgegen der Fahrtrichtung. Je schneller das Auto fuhr, umso schneller flohen die Lichter. Sie haben meine Augen in mehrere horizontalen Schichten geschnitten. „Jetzt fahren wir schneller zu unseren Schicksalen!“, habe ich mir gedacht. Dann, als die Lichter verschwunden waren, wusste ich, dass wir die Stadt Bagdad verlassen hatten. Als Versuch, unsere Richtung zu definieren, folgte ich meinen Vermutungen: oben, unten, starke oder milde Wendungen…
Nach einer Weile hüllten uns wieder Lichter ein. Wir hatten eine große Stadt erreicht. Das Auto wendete sich nach rechts und ich spürte einen leichten Anstieg. Es war eine Brücke. Dann ging es erst nach links, dann rechts und das Auto wurde langsamer. Es schien, als ob wir in ein Gebäude fahren würden. Ich fragte mich: „Sind wir im Geheimdiensthauptquartier in Baquba?“ Die letzten Lichter waren die der Stadt Baquba. Der kurze An- und Abstieg bedeutete, dass wir über die Brücke, die zum Zentrum der Stadt führte, gefahren waren. Die Wendung nach links brachte uns zur Al-dhubbat Straße. Die Wende nach rechts war ein Zugang zum hinteren Eingang des Geheimdiensthauptquartiers.
Wir übernachteten unter freiem Himmel im hinteren Hof des Hauptquartiers. „Freier Himmel!“ Naja, unter uns Opfern und Henkern war nur der Himmel frei. Selbst das Geheimdienstpersonal war es nicht.
Einst erzählte mir einer von ihnen: „Ein Gefangener wie du wird eines Tages freigelassen. Ich bin aber ein Gefangener bis zum Ende meines Lebens.
Auch wenn ich im Ruhestand bin, kann ich keine Freiheit genießen.
Wir haben immer Geheimnisse, die wir unter keinen Umständen verraten dürfen, sonst werden wir mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen müssen. Wir brauchen besondere Zulassungen, um ins Ausland zu reisen, wenn wir das überhaupt dürfen. Wir müssen den Geheimdienst informieren, falls wir etwas kennen, das die Regierung gefährden könnte.“
Von einer vorherigen Festnahme habe ich den Platz gut gekannt. Ich ließ mein Gedächtnis den Platz rundum inspizieren. „Da befanden sich ein Parkplatz, zwei oder drei Dattelpalmen, ein kleiner Laden und Toiletten.“
Als ich im Gefängnis in Bagdad war, fand ein Aufstand der Islamisten gegen die Regierung statt. Die Regierung wollte nicht an zwei Fronten kämpfen.
Sie betrachtete die linke Fraktion, zu der ich und meine Genossen gehörten, als nicht so gefährlich wie die Islamisten. Tausende Islamisten wurden festgenommen. „Es gibt zwei Möglichkeiten, die Gefängnisse zu säubern: die Gefangenen frei zu lassen oder sie zu liquidieren.“ Ich war müde, wollte schlafen. Der Augenverband ließ mich gar nichts sehen. Die Handfesseln banden immer noch meine Hände eng zusammen. Ich schlief auf der linken Seite meines Körpers und streckte meine Arme vor, die Hände übereinander. Während des Schlafes habe ich meine Hände voneinander getrennt. Die neu importierten Handfesseln hatten weitere Sicherheitsmaßnahmen. Jede Bewegung drehte das Sperrad und verengte die Ringe um meine Handgelenke. Es war schmerzhaft. Ich konnte nicht weiterschlafen.
„Hallo …
Hallo, ist jemand da?“
Eine aggressive Stimme antwortete mir: „Ja, was willst du?“
„Können Sie vielleicht die Handfesseln ein bisschen lockern? Sie drücken sehr an meinen Handgelenken. Ich kann nicht schlafen.“
Er hat jemanden gefragt und ich hörte ihn sagen: „Nein, auf keinem Fall, er versuchte schon mal zu flehen. Egal, ob er schläft oder nicht.“
Trotzdem habe ich dann noch geschlafen und geträumt:
Ich lief eine Straße entlang bis ich den Fluss Khuraisan erreichte. Mit meinen Freunden bin ich oft auf dieser Straße, parallel zum Fluss, spazieren gegangen. Ich sah das Kinogebäude, das sein Baujahr groß an der Fassade anzeigte. Das Kino und ich sind im gleichen Jahr geboren, 1949. Ich sah auch die Apotheke, Dr. Bashirs Praxis und mehrere andere Plätze der Stadt. Ich habe das Herz der Stadt besucht. Karim habe ich getroffen. Er fragte mich: „Wurdest du freigelassen?“
Mit Vergnügen antwortete ich: „Ja.“
Ich habe von der Freiheit geträumt.
Als ein Hahn den neuen Tag ankündigte, bin ich aus dem Schlaf erwacht. Die erfrischende Morgenbrise berührte mein Gesicht und bewegte die Wedel der Dattelpalmen. Wieder hatte ich das Gefühl des Lebens. Ich fühlte, wie schön die Freiheit ist. Ich konnte hören, wie das tägliche Leben begann. Wie das Blut in den Adern der Stadt floss. Ich lebte lange mit Augenverband, konnte nichts sehen. Wenn ich zur Toilette oder zur Untersuchung gehen musste, wurden meine Augen verbunden. Ich durfte niemanden sehen. Sie nahmen mir meine Augen, als ich sie brauchte. Sie gaben sie mir zurück, wenn ich nichts zu sehen hatte, wenn ich in meiner Einzelzelle war, wo die Augen nutzlos waren. Wenn ein Sinn geraubt wird, wird der Körper andere Sinne als Ersatz verstärken. Meine Ohren haben die Aufgaben meiner Augen übernommen. Ich sah mit meinen Ohren. Jede Stimme wandelte sich zu einem Bild.
Die Stimme des Hahnes wandelte sich zu dem Bild eines Hahnes in Buntfarben im Sonnenlicht.
Als ich auf die Toilette musste, nahm eine Person vom Geheimdienst meine Hand und führte mich. Er fragte mich: „Munir, was denkst du. Wo sind wir gerade?“
„Im Geheimdienstamt in Baquba.“
„Quatsch!“
Seit langem hatte ich mit niemandem gesprochen. Er hatte „Quatsch“ in einem freundlichen Ton gesprochen. Ich brauchte es, eine menschliche Stimme zu hören, selbst wenn es die Stimme eines Feindes war.
Vor einigen Jahren habe ich ein vierjähriges Studium an der Universität Bagdad abgeschlossen. Damals musste ich fünfmal pro Woche nach Bagdad und zurückfahren. Zuerst gab es nur eine Hauptstraße, die die zwei Städten Baquba, wo ich wohne, und Bagdad, die Hauptstadt, verband. Danach wurde eine neue Straße gebaut. Die Leute nannten sie die alte und die neue Straße. Ich kenne die beiden Straßen sehr gut, auch wenn ich...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-99129-101-0 / 3991291010 |
ISBN-13 | 978-3-99129-101-5 / 9783991291015 |
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