Professor Zamorra 1250 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-3197-3 (ISBN)
Gerade war die Stelle am Waldrand noch leer gewesen.
Jetzt war das Haus da.
Es war nicht irgendein Haus, sondern eine prachtvolle viktorianische Villa - oder war es zumindest einmal gewesen - und es war auch nicht von einem Blinzeln auf das nächste einfach erschienen oder hatte sich aus dem Nebel herausgeschält, der lautlos wie eine Hand mit tausend rauchigen Fingern aus dem Wald griff, sondern auf eine vollkommen unmöglich-bizarre Art in die Wirklichkeit hereingewachsen, unvorstellbar schnell und zugleich mit der unaufhaltsam langsamen Beharrlichkeit eines wandernden Gletschers; als wäre die Zeit auf gespenstische Weise zweigeteilt worden ...
Und genau darum geht es: um die Zeit. Und die wird Zamorra plötzlich zum Verhängnis!
12:40 Uhr
»Das ist ... ein Scherz, oder?«, fragte Nicole. Sie spürte sogar selbst, wie das klang, und Mostache legte auch nur die Stirn in noch mehr Falten und sah sie ein wenig strafend an.
»Mit einem Familienerbstück treibe ich keine Späße, junge Dame«, sagte er gestelzt und schüttelte zusätzlich und heftig den Kopf. »Sie muss kaputt sein. Was für eine Schande, nach all den Jahren. Aber früher oder später erwischt es wohl alles und jeden.«
Das mochte sein, aber Nicole hatte da trotzdem so ihre Zweifel. Sie sah wieder die Wanduhr an, die ebenfalls stehen geblieben war. Wenn das ein Zufall war, dann ein wirklich seltsamer ...
»Entschuldigung?«, wandte sie sich an den Monteur, der nach wie vor an der Musikbox herumfummelte, ohne dass sie erkennen konnte, was er da eigentlich trieb. Die Musik wurde jedenfalls nicht leiser.
»Entschuldigung?«, rief sie noch einmal und mit jetzt deutlich mehr Lautstärke. Sie bekam immer noch keine Antwort, glitt schließlich vom Barhocker und ging zu der Wurlitzer, um kurzentschlossen den Stecker zu ziehen.
Die Musik dröhnte fröhlich weiter.
Nicole starrte den Stecker in ihrer Hand eine Sekunde lang verwirrt an, zuckte schließlich mit den Achseln – Museumsstück hin oder her, das Ding musste wohl so etwas wie eine Notbatterie haben – und tippte dem jungen Burschen auf die Schulter, woraufhin er sich immerhin dazu bequemte, den Kopf zu heben und zu ihr hochzusehen.
»Geht das auch ein bisschen leiser?«, fragte sie und berührte gleichzeitig mit dem Zeigefinger der freien Hand ihr Ohr. Der Knabe nickte, und die Musik wurde tatsächlich leiser. Wenn auch nicht sehr viel.
»Eigentlich wollte ich Sie nur fragen, ob Sie mir vielleicht sagen können, wie spät es genau ist«, sagte sie, mühsam ihren Ärger herunterschluckend.
Die Musik wurde noch ein bisschen leiser, wahrscheinlich damit der Blonde nicht schreien musste, als er schließlich antwortete: »Dann tu das doch.«
Diesmal musste Nicole schon ein wenig heftiger schlucken, um sich noch zu beherrschen; wobei die Betonung ganz eindeutig auf noch lag. Und sie meinte regelrecht zu hören, wie Mostache hinter ihr die Stirn runzelte.
Also gut. »Verraten Sie mir, wie spät es ist?«
Der Monteur erhob sich ächzend aus der Hocke und überragte sie plötzlich um mehr als eine Handspanne. »Im Prinzip gerne, Schätzchen«, feixte er, »aber wer braucht schon eine Uhr, wenn er so gute Mucke hat?« Er stieß die linke Faust in die Höhe und schüttelte den Ärmel herunter. Das Handgelenk war leer, bis auf die Ausläufer eines komplizierten Tribal-Tattoos, die aus seinem Hemdsärmel wuchsen. »Aber es ist immer noch genug Zeit, damit wir zwei ein bisschen Spaß haben können, Süße.«
Letzte Verwarnung, dachte Nicole, beließ es aber trotzdem bei einem angedeuteten Schulterzucken und wollte sich umwenden, doch hinter ihr sagte Mostache. »Du solltest ein bisschen auf deine Worte achten, mein Freund.«
»Ach?« Der Kopf des Hünen ruckte mit einer Bewegung herum, die irgendwie an ein Reptil erinnerte. »Und wenn nicht, Alterchen? Kommst du dann hinter deinem Tresen heraus und haust mir auf die Fresse?«
»Nö«, antwortete Mostache leichthin. »Ich wollte dir nur eine unangenehme Erfahrung ersparen. Die junge Dame kann ganz gut auf sich selbst aufpassen.«
Der Hüne blinzelte, trat einen Schritt zurück und maß Nicole mit einem langen Blick von Kopf bis Fuß. »Ist das so?«
Er war auf Streit aus, begriff Nicole, und er wäre auch nicht der Erste, der sich von ihrer gertenschlanken Erscheinung und der vermeintlichen Zartheit ihrer Glieder täuschen ließ. Für einen ganz kurzen Moment war sie in Versuchung, ihm zu demonstrieren, wie sehr, aber dann drehte sie sich nur endgültig um und ging zur Theke zurück. Der Kerl war es nicht wert. Außerdem hatte sie andere Probleme.
»Das mit der Uhr ist wirklich seltsam«, sagte sie. Eigentlich hätte sie lieber ein anderes Wort benutzt. »Ich sage McTaggart Bescheid, damit er sich das Ding mal ansieht.«
»Jetzt übertreib mal nicht«, brummelte Mostache. »Außerdem dachte ich, eure Ein-Mann-Armee ist eher dafür da, alles Mögliche kaputtzumachen.«
»Oh, er hat eine Menge Talente«, erwiderte Nicole, und hinter ihr fügte der Mechaniker mit einem schmutzigen Kichern hinzu:
»Ja, ich wette, er schraubt auch gerne ein bisschen an dir herum, Süße. Ist der gut? Ich wette, nicht so gut wie ich.«
So, das reichte. Nicole drehte sich mit einem zuckersüßen Lächeln wieder zu ihm herum, machte einen Schritt auf ihn zu, und der Bursche fand sich unversehens auf dem Rücken liegend und nach Luft japsend wieder, bevor er überhaupt begriff, wie ihm geschah.
»Das hat er mir übrigens auch beigebracht«, sagte sie lächelnd, »und noch eine ganze Menge mehr. Noch eine Runde?«
Der Bursche hob verdattert den Kopf, schien etwas sagen zu wollen und stemmte sich dann stattdessen nur brummend ganz in die Höhe. Sogar geduckt und mit hängenden Schultern dastehend überragte er sie noch und wog mehr als das Doppelte, aber er sah nicht so aus, als sei er sich dessen momentan wirklich bewusst.
»Du gehst jetzt besser, Freundchen«, sagte Mostache. »Bevor du sie wirklich wütend machst. Ich brauche meine Einrichtung noch, weißt du?«
Der Bursche funkelte ihn – und vor allem Nicole – zwar noch eine Sekunde lang zornig an, machte aber dann auf dem Absatz kehrt und stapfte hinaus, und hinter der Theke atmete Mostache erleichtert auf. »Das war knapp«, sagte er.
»Hattest du etwa Angst um mich?«, fragte Nicole mit gutmütigem Spott.
»Eher um ihn«, erwiderte Mostache. »Aber das mit der Einrichtung habe ich schon ernst gemeint. Außerdem mag ich keinen Streit. Schon gar nicht hier drinnen.« Er seufzte sehr tief. »Ich schätze, ich muss meine Beteiligung an einem gewissen neuen Unternehmen doch noch einmal überdenken.«
»Nur weil sie einen Monteur haben, dessen Manieren nicht die besten sind?« Nicole hatte fast ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Sie hatte gesehen, welchen Spaß Mostache an der antiken Wurlitzer hatte, und wollte gewiss nicht die Spielverderberin geben. »Ruf erst mal dort an, und sie schicken dir bestimmt einen anderen.«
»Darum geht's doch gar nicht.« Mostache kam hinter seinem Tresen hervor und bückte sich nach dem einsamen Stecker, um ihn am Ende seines antiken geflochtenen Kabels kreisen zu lassen. »Das Ding ist ein Fake!«
»Das Kabel sieht jedenfalls alt genug aus«, gab Nicole zu bedenken.
»Ja, und das ist dann wahrscheinlich auch schon alles«, schnaubte Mostache. »Oder hast du schon mal von einer Wurlitzer mit Batterien gehört? Die Kerle werden mich kennenlernen!« Auf knackenden Kniegelenken ließ er sich in die Hocke sinken, verdrehte sich fast den Hals, um in die offene Wartungsklappe zu blicken, und gab ein erstauntes Geräusch von sich.
»Probleme?«, fragte Nicole. Mostache hatte zweifellos multiple Talente, aber von Technik verstand er herzlich wenig. »Vielleicht sollte ich doch McTaggart – «
»So weit kommt's noch!«, fiel ihr der Wirt ins Wort. »Ich werde wohl noch einen Stecker rausziehen können.« Etwas knackte. Die Wurlitzer flackerte, ging für einen Moment ganz aus und brüllte dann fröhlich weiter; diesmal allerdings nicht mit einem Heavy-Metal–Crescendo, sondern einem Big-Band-Stück aus den Fünfzigern. Wenn auch genauso laut.
»McTaggart?«, schlug Nicole vorsichtig vor.
»Damit sie hinterher behaupten können, ich hätte sie selbst kaputt gemacht, und mir auch noch eine gepfefferte Rechnung schicken?«, grunzte Mostache. »Neee, lass mal.«
Nicole sagte nichts dazu. McTaggart würde vermutlich sehr viel weniger Schaden anrichten als er, aber wenn Mostache etwas war, dann stur. Außerdem war es ohnehin zu spät: Sein Arm verschwand fast bis zur Schulter in der Musikbox, dann zischte es, Funken stoben, und er zog den Arm fluchend zurück und schüttelte wild die Hand hin und her. Seine Fingerspitzen schwelten.
»Verbandskasten?«, machte Nicole einen anderen Vorschlag.
»Verdammter Mist!«, fauchte Mostache, steckte die versengten Fingerspitzen in den Mund und fuhr nuschelnd und kaum verständlich fort: »Also gut, geh schon und hol deinen Daniel Düsentrieb. Ich halte hier inzwischen Wache. Nicht dass das Ding mir am Ende noch die ganze Bude abfackelt!«
»Am besten mit einem Eimer Wasser«, riet ihm Nicole amüsiert. »Warte, ich hole dir einen Eimer.«
Unverzüglich wollte sie hinter der Theke verschwinden, kam aber nicht dazu, denn in diesem Moment flog die Tür auf, und ein sehr aufgeregter Pater Ralph stürmte herein. »Nicole?«
»Bei der Arbeit«, witzelte Nicole. »Und ich schwöre, ich habe die letzte Beichte nur ausgelassen, weil deine Zeit sowieso nicht...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
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Reihe/Serie | Professor Zamorra |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • Deutsch • eBook • eBooks • Extrem • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • Lovecraft • Männer • Neuerscheinung • Neuerscheinungen • Paranomal • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony Ballard • Top • Walking Dead |
ISBN-10 | 3-7517-3197-0 / 3751731970 |
ISBN-13 | 978-3-7517-3197-3 / 9783751731973 |
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