Das Gedächtnis des Winters (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
496 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-365-00101-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Gedächtnis des Winters - Steven Conte
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Winter 1941, Russland: Ein deutscher Militärarzt baut ein Feldlazarett in Jasnaja Poljana, dem Landgut von Tolstoi, mit auf. Während die Soldaten unter der eisigen Kälte sowie den Strapazen des Krieges leiden und immer weiter auf einen Abgrund zudriften, trifft er auf Katerina, eine Russin, deren Herz am Tolstoi-Grundstück hängt. Die beiden versuchen, inmitten des Winters nicht die Hoffnung zu verlieren - doch wird ihre Liebe dabei helfen, der Dunkelheit zu entkommen?



Steven Conte ist ein australischer Schriftsteller, der schon zahlreiche wichtige Preise gewonnen hat. Er wuchs in Guyra in New South Wales auf und studierte Kreatives Schreiben in Canberra. Derzeit lebt Conte in Warrnambool, wo er schreibt, ein kleines Öko-Haus in einem nahegelegenen Dorf designt und sich um seinen kleinen Sohn mit nonverbalem Autismus kümmert. »Das Gedächtnis des Winters« ist sein zweiter Roman.

1


Herr Hauptmann?«, sagte Winkel. »Sie sollten Ihren Helm aufsetzen.«

Paul Bauer, vierzig Jahre alt, Feldchirurg, ließ die Augen geschlossen. Dass der Obergefreite sich um ihn sorgte, war anrührend, aber nachdem er im Zelt sechsundzwanzig Stunden am Stück operiert hatte, gefolgt von elf weiteren Stunden sabotierten Schlafs – zuerst unweit einer aktiven Geschützgruppe, dann sitzend in der Fahrerkabine eines schaukelnden Lastwagens –, kümmerte es ihn kaum noch, ob er lebte oder starb. Einen Moment lang schlingerte das Fahrzeug, und Bauer versuchte, sich nicht gegen das Armaturenbrett zu stemmen und dadurch zu verraten, dass er wach war.

»Er schläft«, sagte Pflieger.

»Dann weck ihn auf«, gab Winkel zurück.

»Das würde er mir nicht danken.«

»Dieser Wald … Du solltest ihn wecken.«

»Warum weckst du ihn nicht selbst?«

»Pflieger, ich fahre«, sagte Winkel. »Du sitzt neben ihm.«

Der Lastwagen geriet erneut ins Schlingern, und Bauer schlug mit der Schläfe gegen die Tür. »Hey, Sepp, willst du uns umbringen, oder was?«, schimpfte Pflieger.

»Dieser verdammte Schlamm«, sagte Winkel. Schlamm – allein schon das Wort, ein triefender abscheulicher Affront.

»Leg die Karre bloß nicht auf die Seite«, sagte Pflieger. »Im russischen Straßengraben zu landen, wär nicht ruhmreich.«

Der Wagen steckte fest, die Räder drehten durch, bis es schließlich doch weiterging, das Tempo bestimmt vom langsamsten der siebzehn Konvoi-Fahrzeuge. Ihres war das vorletzte. Eine Weile sprach niemand. Ein wehklagender Motor. Ächzendes Getriebe. Das Regenprasseln auf dem Wagendach. Quietschende Scheibenwischer.

Pflieger sagte: »Es wird spät.«

»Ich weiß«, sagte Winkel.

»Wir hätten im Dorf nicht Halt machen sollen.«

»Sagst du.«

»Ganz genau. Ich sag das. Warum denn nicht?«

»Du, der große Taktiker.«

Gekränkt entgegnete Pflieger: »Ich rede nicht von Taktik, Sepp, sondern von gesundem Menschenverstand.«

»Schon mal etwas von Durchhaltevermögen gehört?«

»Ich meinte nur, dass es bald dunkel wird.«

Ein heftiger Ruck überraschte Bauer und er musste sich am Armaturenbrett abstützen.

»Willkommen zurück, Hauptmann«, sagte Winkel. »Gut geschlafen?«

Bauer öffnete die Augen. Zwischen den rasenden Scheibenwischern erkannte er den Krankenwagen vor ihnen, dessen Heck im Schlamm hin und her schlingerte, obwohl er kaum mehr als Schritttempo fuhr. Herbstliche Regenfälle und die Durchfahrt von mehr als sechzig Panzern hatten die Straße in einen gefurchten Sumpf verwandelt. Links und rechts davon lagen die aufgewühlten Randstreifen, wo Fuhrwerke, Lastwagen und Panzer vergebens festeren Untergrund zu finden versucht hatten. Kiefernwald auf beiden Seiten. Ein Ausschnitt des Himmels, aus dem der Regen fiel wie Tränen. Vor drei Wochen hatte ein sowjetischer Scharfschütze aus einem Wald wie diesem Dieter Clemens, Bauers engsten Freund im Bataillon und besten Anästhesisten, tödlich getroffen.

Winkel sagte: »Ich meinte gerade, dass Sie Ihren Helm aufsetzen sollten.«

»Aber Pflieger nicht?«

»Pflieger ist ein Idiot, Herr Hauptmann.«

»He … Ich bin einfach das Gewicht leid.«

»Und deinen Haarausfall«, sagte Winkel.

Pflieger strich sich über den Kopf. Mit sechsundzwanzig und immer noch zu Akne neigend, lichtete sich sein Haar tatsächlich unübersehbar. »Wär doch möglich, oder? Dass mir wegen des Helms die Haare ausfallen. Was meinen Sie, Herr Hauptmann? Sie sind Arzt.«

»Ich meine, der Obergefreite hat recht«, sagte Bauer und setzte seinen Helm auf. »Wir sollten auf Nummer sicher gehen.«

Pflieger grinste; dabei lugte seine Zunge ein Stück zwischen den Zähnen hervor, was ihm einen dümmlichen Ausdruck verlieh. »Ist vielleicht ein bisschen spät dafür, oder?«, erwiderte er, setzte aber seinen Helm auf. Ein anderer Offizier hätte ihn für die Bemerkung vielleicht gerügt, aber Bauer ging mit Pflieger nachsichtig um, der im Frankreichfeldzug eine Kopfverletzung erlitten hatte, die seine Persönlichkeit im Grunde nicht verändert, sondern sie vielmehr offen hatte zutage treten lassen, sodass nun vollends der gutmütige, einfältige Mensch zum Vorschein kam, der nicht mehr imstande war, seine Äußerungen einer inneren Zensur zu unterziehen. In diesem Fall musste Bauer ihm allerdings beipflichten: Vier Monate nach Beginn von Unternehmen Barbarossa war es tatsächlich längst zu spät, um sich über persönliche oder anderweitige Sicherheitsbelange Gedanken zu machen. Sicherheit war kaum noch ein Thema. Hätte der Größte Feldherr Aller Zeiten auch nur einen Funken Achtung vor dem menschlichen Leben gehabt, hätte er keinen weiteren Feldzug begonnen, und zwar einen, gegen den Frankreich rückblickend wie ein Kindergeburtstag wirkte.

Bauer fröstelte und schlang sich den Schal fester um den Hals, schlug den Kragen seines Wintermantels hoch. Dann zog er die Zigaretten aus der Tasche und hielt sie Pflieger hin, der eine nahm; Winkel lehnte ab. Er kämpfte mit der Schlammpiste, ein Leichtgewicht, die Finger um das Lenkrad geklammert, es sah aus, als würde er die Schläge eines unsichtbaren Gegners abwehren. »Ich kann sie Ihnen anzünden«, erbot sich Bauer.

»Nein danke, Hauptmann. Ich habe aufgehört.«

»Ach ja?«

»Ja. Letzte Woche.«

»Wegen der Gesundheit?«

»Nicht unbedingt.«

»Er hat Angst, dass die Glimmstängel seinem Wachstum schaden«, sagte Pflieger.

»Haha«, sagte Winkel, der kleinste Mann im Bataillon. Um die Pedale des Lastwagens besser erreichen zu können, hatte er sich seinen zusammengerollten Schlafsack in den Rücken gestopft.

»Also, warum haben Sie aufgehört?«, fragte Bauer. »Um damit Tauschhandel zu betreiben?«

»Darauf hat mich Leutnant Hirsch gebracht, Hauptmann.«

»Der Leutnant?«, fragte Bauer, sich der schalen Wirkung bewusst, die der Name des Zahnarztes auf ihn ausübte und die noch größer geworden war seit Hirschs Ernennung zu seinem Anästhesisten, um die durch Dieters Tod entstandene Lücke zu füllen.

»Meine Zähne sind gelb geworden«, sagte Winkel. »Leutnant Hirsch meinte, das kommt vom Rauchen und ich soll aufhören.«

»Ist sicherlich ein guter Rat«, sagte Bauer und steckte sich seine Zigarette an. Ungewollt brachte er damit Pflieger zum Lachen, ein lautes Wiehern, das meistens lustiger war als der Grund, aus dem er lachte. Bauer lächelte und nahm einen tiefen Leben spendenden Lungenzug.

Immer noch wiehernd, stieß Pflieger demonstrativ Winkel mit dem Ellbogen an. »Willst nicht, dass dir deine gelben Beißer die Chancen bei den Miezen verderben, was?«

Der Obergefreite kämpfte weiter mit dem Lenkrad, sagte nichts. Winkels Eitelkeit – seine Haarcreme und die Zahnstocher, seine gezupften Ohren und Nasenlöcher – war unter seinen Kameraden ein geschätzter Anlass für Heiterkeit. Ihr Lachen war ein Ausdruck von Erleichterung darüber, einen Schwachpunkt bei einem Mann gefunden zu haben, den sie ansonsten in hohem Ansehen hielten, Bauer genauso sehr wie die anderen, wenn nicht mehr. Er und Winkel waren im gleichen Alter und teilten das gleiche Schicksal, über das sie zwar selten sprachen, das jedoch nie vollends aus Bauers Gedanken verschwand. Beide hatten sie kurz vor dem Krieg ihre Frau verloren: Bauers Frau war einer Krankheit erlegen, Winkels war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Beide waren sie kinderlos.

Eine Weile schwiegen die drei Männer. Der Regen prasselte aufs Dach, und Bauer wurde schläfrig.

»Dieser verdammte Schlamm!«, sagte Pflieger.

»Amen«, murmelte Bauer. Geboren aus dem russischen Staub, an dem sie und ihre Motoren den ganzen Sommer über beinahe erstickt waren, klebte der Schlamm schwer an den Stiefeln, Hufen und Reifen und brachte eine Armee von fast vier Millionen Mann entlang einer zweitausend Kilometer langen Front beinahe zum Stillstand. Rasputiza nannten die Russen die herbstliche Regenzeit – die Zeit der Unbefahrbaren Straßen –, ein Begriff, den Bauer vor drei Wochen von einer alten Bäuerin gelernt hatte. Sein Russisch war mittelprächtig, aber während der kurzen Unterhaltung mit der russischen Babuschka hatte er genau das begriffen, was das deutsche Oberkommando, das über Abwehrspione und russische Linguisten verfügte, augenscheinlich übersehen hatte: Ende Oktober waren die für die deutsche Strategie maßgeblichen Straßen per definitionem unbefahrbar. Nachdem er das verstanden hatte, hatte er vor Wut eine halbe Stunde lang kein Wort herausgebracht. Seit Beginn des Krieges hatte er dessen Ende herbeigesehnt, und da die Wehrmacht bisher an allen Fronten triumphiert hatte, schien ihm ein deutscher Sieg über die Sowjetunion der schnellste Weg zum Frieden zu sein. Es stimmte, das Verhalten einiger seiner Landsleute in der Sowjetunion war kriminell – manchmal sogar verwerflich –, aber mit dem Krieg würde auch das Töten enden, und danach war es möglich, dass die verbrecherischen Machthaber in Berlin ihre Politik mäßigen oder sogar gänzlich von der Bildfläche verschwinden würden. Zumindest hatte er das vor seinem Gespräch mit der Babuschka gedacht. Seitdem hegte er den Verdacht, dass der Größte Feldherr Aller Zeiten nicht mehr war als ein arroganter Emporkömmling, dass die letzten beiden Monate des Jahres 1941 keinen Sieg bringen würden und dass es...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2022
Übersetzer Joannis Stefanidis
Sprache deutsch
Original-Titel The Tolstoy Estate
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arzt • Bibliothek • Bücher • Feldlazarett • Gehobene Unterhaltung • Krieg • Landgut • Lazarett • Liebe • Literatur • Militär • Militärarzt • Militärbasis • Russland • Soldat • Tolstoi • Winter • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-365-00101-8 / 3365001018
ISBN-13 978-3-365-00101-1 / 9783365001011
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