Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman (eBook)

Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg) - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 14184
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2021 | 1. Auflage
293 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961969-9 (ISBN)

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Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman -  Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg)
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Die blaue Blume ist Leitmotiv und Chiffre der Sehnsucht in Novalis' Roman »Heinrich von Ofterdingen«. Heinrich reist, nachdem ihm diese Wunderblume im Traum erschienen ist, mit seiner Mutter von Eisenach nach Augsburg. Dabei erschließt sich ihm das Panorama der Welt, und er wird am Ziel in das Wesen der Poesie und der Liebe eingeweiht - ein Bildungsroman »nach Innen«. Die Edition folgt dem postumen Erstdruck von 1802. Mit einem neuen Nachwort auf aktuellem Forschungsstand. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Novalis (i. d. Friedrich Freiherr von Hardenberg, 2.5.1772 Gut Oberwiederstedt [Harz] - 25.3.1801 Weißenfels) betrieb mit poetischen Mitteln die universale Überwindung festgesetzter Grenzen. Der aus pietistischem Haus stammende Dichter studierte Bergbau, arbeitete als Assessor in einem Salzbergwerk und war ein Romantiker der ersten Stunde. Er gehörte dem Freundeskreis um Tieck, Schelling und den Brüdern Schlegel an. In einer Synthese logisch-analytischer und philosophisch-literarischer Denkstile erhebt Novalis (?der Neuland Rodende?) in seinen »Hymnen an die Nacht« die Poesie zur religiösen Form, die die Gegensätze der Welt miteinander versöhnt. Die für die Romantik maßgebliche Einbildungskraft wird in seinem unvollendeten Roman »Heinrich von Ofterdingen« im Symbol der »blauen Blume« aufgegriffen. Ihr Anblick im Traum ist für den Protagonisten Heinrich so unvergesslich, dass er sich auf die Suche nach ihr begibt. Nicht zuletzt bündelt sich in diesem Bild das Streben der Romantiker nach Geschlossenheit und Einheit als Antwort auf eine durch die Aufklärung auseinander-analysierte Welt. Mit einem Nachtwort von Mario Zanucchi: Mario Zanucchi ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Freiburg.

Novalis (i. d. Friedrich Freiherr von Hardenberg, 2.5.1772 Gut Oberwiederstedt [Harz] – 25.3.1801 Weißenfels) betrieb mit poetischen Mitteln die universale Überwindung festgesetzter Grenzen. Der aus pietistischem Haus stammende Dichter studierte Bergbau, arbeitete als Assessor in einem Salzbergwerk und war ein Romantiker der ersten Stunde. Er gehörte dem Freundeskreis um Tieck, Schelling und den Brüdern Schlegel an. In einer Synthese logisch-analytischer und philosophisch-literarischer Denkstile erhebt Novalis (›der Neuland Rodende‹) in seinen »Hymnen an die Nacht« die Poesie zur religiösen Form, die die Gegensätze der Welt miteinander versöhnt. Die für die Romantik maßgebliche Einbildungskraft wird in seinem unvollendeten Roman »Heinrich von Ofterdingen« im Symbol der »blauen Blume« aufgegriffen. Ihr Anblick im Traum ist für den Protagonisten Heinrich so unvergesslich, dass er sich auf die Suche nach ihr begibt. Nicht zuletzt bündelt sich in diesem Bild das Streben der Romantiker nach Geschlossenheit und Einheit als Antwort auf eine durch die Aufklärung auseinander-analysierte Welt. Mit einem Nachtwort von Mario Zanucchi: Mario Zanucchi ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Freiburg.

Erster Teil · Die Erwartung
Zueignung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel

Zweiter Teil · Die Erfüllung
Das Kloster, oder der Vorhof
Astralis

Tiecks Bericht über die Fortsetzung

Paralipomena zu Heinrich von Ofterdingen

Zu dieser Ausgabe
Literaturhinweise
Nachwort

[11]Erstes Kapitel


Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. »Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben«, sagte er zu sich selbst; »fernab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zumute gewesen: es ist, als hätt ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab ich damals nie gehört. Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Menschen gesehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von seinen Reden so ergriffen worden bin; die andern haben ja das Nämliche gehört, und keinem ist so etwas begegnet. Dass ich auch nicht einmal von meinem wunderlichen Zustande reden kann! Es ist mir oft so entzückend wohl, und nur dann, wenn ich die Blume nicht recht gegenwärtig habe, befällt mich so ein tiefes, inniges Treiben: das kann und wird keiner verstehn. Ich glaubte, ich wäre wahnsinnig, wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte, mir ist seitdem alles viel bekannter. Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist grade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als [12]könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten. Es muss noch viel Worte geben, die ich nicht weiß: wüsste ich mehr, so könnte ich viel besser alles begreifen. Sonst tanzte ich gern; jetzt denke ich lieber nach der Musik.« Der Jüngling verlor sich allmählich in süßen Phantasien und entschlummerte. Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wunderliche Tiere sah er; er lebte mit mannigfaltigen Menschen, bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er geriet in Gefangenschaft und die schmählichste Not. Alle Empfindungen stiegen bis zu einer nie gekannten Höhe in ihm. Er durchlebte ein unendlich buntes Leben; starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft, und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner Seele, klarer und bleibender wurden die Bilder. Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunkeln Walde allein. Nur selten schimmerte der Tag durch das grüne Netz. Bald kam er vor eine Felsenschlucht, die bergan stieg. Er musste über bemooste Steine klettern, die ein ehemaliger Strom heruntergerissen hatte. Je höher er kam, desto lichter wurde der Wald. Endlich gelangte er zu einer kleinen Wiese, die am Hange des Berges lag. Hinter der Wiese erhob sich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öffnung erblickte, die der Anfang eines in den Felsen gehauenen Ganges zu sein schien. Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm schon von fern ein helles Licht entgegenglänzte. Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes stieg, und oben [13]in unzählige Funken zerstäubte, die sich unten in einem großen Becken sammelten; der Strahl glänzte wie entzündetes Gold; nicht das mindeste Geräusch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauspiel. Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit dieser Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, nie gesehene Bilder entstanden, die auch ineinanderflossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten.

Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewusst, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloss. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, [14]der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über diese Störung zu sein; vielmehr bot er seiner Mutter freundlich guten Morgen und erwiderte ihre herzliche Umarmung.

»Du Langschläfer«, sagte der Vater, »wie lange sitze ich schon hier, und feile. Ich habe deinetwegen nichts hämmern dürfen; die Mutter wollte den lieben Sohn schlafen lassen. Aufs Frühstück habe ich auch warten müssen. Klüglich hast du den Lehrstand erwählt, für den wir wachen und arbeiten. Indes ein tüchtiger Gelehrter, wie ich mir habe sagen lassen, muss auch Nächte zu Hülfe nehmen, um die großen Werke der weisen Vorfahren zu studieren.« »Lieber Vater«, antwortete Heinrich, »werdet nicht unwillig über meinen langen Schlaf, den Ihr sonst nicht an mir gewohnt seid. Ich schlief erst spät ein, und habe viele unruhige Träume gehabt, bis zuletzt ein anmutiger Traum mir erschien, [15]den ich lange nicht vergessen werde, und von dem mich dünkt, als sei es mehr als bloßer Traum gewesen.« »Lieber Heinrich«, sprach die Mutter, »du hast dich gewiss auf den Rücken gelegt, oder beim Abendsegen fremde Gedanken gehabt. Du siehst auch noch ganz wunderlich aus. Iss und trink, dass du munter wirst.«

Die Mutter ging hinaus, der Vater arbeitete emsig fort und sagte: »Träume sind Schäume, mögen auch die hochgelahrten Herren davon denken, was sie wollen, und du tust wohl, wenn du dein Gemüt von dergleichen unnützen und schädlichen Betrachtungen abwendest. Die Zeiten sind nicht mehr, wo zu den Träumen göttliche Gesichte sich gesellten, und wir können und werden es nicht begreifen, wie es jenen auserwählten Männern, von denen die Bibel erzählt, zumute gewesen ist. Damals muss es eine andere Beschaffenheit mit den Träumen gehabt haben, so wie mit den menschlichen Dingen.

In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt. Die alten Geschichten und Schriften sind jetzt die einzigen Quellen, durch die uns eine Kenntnis von der überirdischen Welt, soweit wir sie nötig haben, zuteilwird; und statt jener ausdrücklichen Offenbarungen redet jetzt der heilige Geist mittelbar durch den Verstand kluger und wohlgesinnter Männer und durch die Lebensweise und die Schicksale frommer Menschen zu uns. Unsre heutigen Wunderbilder haben mich nie sonderlich erbaut, und ich habe nie jene großen Taten geglaubt, die unsre Geistlichen davon erzählen. Indes mag sich daran erbauen, wer will, und ich hüte mich wohl jemanden in seinem Vertrauen irrezumachen.« – »Aber, lieber Vater, aus welchem Grunde seid Ihr so den [16]Träumen entgegen, deren seltsame Verwandlungen und leichte zarte Natur doch unser Nachdenken gewisslich rege machen müssen? Ist nicht jeder, auch der verworrenste Traum, eine sonderliche Erscheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung dabei zu denken, ein bedeutsamer Riss in den geheimnisvollen Vorhang ist, der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt? In den weisesten Büchern findet man unzählige Traumgeschichten von glaubhaften Menschen, und erinnert Euch nur noch des Traums, den uns neulich der ehrwürdige Hofkaplan erzählte, und der Euch selbst so merkwürdig vorkam.

Aber, auch ohne diese Geschichten, wenn Ihr zuerst in Eurem Leben einen Traum hättet, wie würdet Ihr nicht erstaunen, und Euch die Wunderbarkeit dieser uns nur alltäglich gewordenen Begebenheit gewiss nicht abstreiten lassen! Mich dünkt der Traum eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freie Erholung der gebundenen Phantasie, wo sie alle Bilder des Lebens durcheinanderwirft,...

Erscheint lt. Verlag 11.2.2021
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
Nachwort Mario Zanucchi
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutsch • Deutsch-Unterricht • Erzählung Blaue Blume • gelb • gelbe bücher • Klassenlektüre • Lektüre • Literatur Epoche Romantik • Literatur Klassiker • Novalis Bildungsroman • Novalis Blaue Blume • Novalis Erzählung Novalis Text • Novalis Fernweh • Novalis Geschichte • Novalis Liebesgeschichte • Novalis Roman • Novalis Sehnsucht • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Roman Blaue Blume • Schullektüre • Weltliteratur
ISBN-10 3-15-961969-9 / 3159619699
ISBN-13 978-3-15-961969-9 / 9783159619699
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