Der Mord in der Rose Street (eBook)
416 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46329-1 (ISBN)
Alex Reeve hat schon in vielen verschiedenen Jobs gearbeitet, unter anderem in einem Pub und als Englischlehrer in Paris. Heute ist er Universitätsdozent und lebt in Buckinghamshire. »Das Haus in der Half Moon Street« ist sein Debütroman und wurde in der britischen Presse hochgelobt. Es ist der Auftakt einer neuen historischen Krimireihe um Ermittler Leo Stanhope.
Alex Reeve hat schon in vielen verschiedenen Jobs gearbeitet, unter anderem in einem Pub und als Englischlehrer in Paris. Heute ist er Universitätsdozent und lebt in Buckinghamshire. »Das Haus in der Half Moon Street« ist sein Debütroman und wurde in der britischen Presse hochgelobt. Es ist der Auftakt einer neuen historischen Krimireihe um Ermittler Leo Stanhope.
1
Ich bin Dora Hannigan nur ein einziges Mal begegnet, an einem Samstagnachmittag im März, an dem der Regen draußen so heftig herunterprasselte, dass ich kaum die gegenüberliegende Straßenseite sehen konnte. Sie stieß die Tür der Apotheke auf und kam herein, wobei sie zwei bis auf die Haut durchnässte und fröstelnde Kinder vor sich herscheuchte. Beiden klebten die Kleider am Leib. Der Knabe ging sofort vor dem Kaminfeuer auf die Knie, die Jackenärmel wie die Falten eines Akkordeons an den Armen hinaufgeschoben, und seine jüngere Schwester tat es ihm nach, hielt die Hände in die Wärme und wackelte mit den Fingern.
Ich wandte mich wieder meinem Buch zu, ohne ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken – ich ging davon aus, dass sie einfach Schutz vor dem Wetter suchten. Aber nach einer Weile stellte ich fest, dass die Mutter mir verstohlene Blicke zuwarf. Sie holte einen Handspiegel aus der Tasche, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und rückte ihren Hut zurecht, aber ich sah ihr Gesicht im Spiegel, was bedeutete, dass sie mich ebenso sehen konnte.
»Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen helfen kann«, sagte ich.
»Das werde ich«, antwortete sie mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte.
Das kleine Mädchen begann sich inzwischen zu langweilen und kletterte auf den Zahnarztstuhl, zupfte mit den Fingernägeln an dem Lederpolster herum und sah sich in der Apotheke um wie eine Königin, die zu jung auf den Thron gekommen war.
»Wozu ist der gut?«, wollte sie wissen.
Sie konnte nicht älter als sieben Jahre sein, aber sie war ungewöhnlich selbstsicher – so sehr, dass sie Auskünfte von einem erwachsenen Mann verlangte, den sie nicht einmal kannte.
Ich legte mein Buch weg und kam hinter dem Kassentisch hervor. Der Blick der Mutter folgte mir.
»Siehst du das da?« Ich ging in die Hocke und zeigte ihr den Pumpmechanismus. »Es sorgt dafür, dass der Bohrer sich pausenlos dreht. Und dann kann man damit die Zähne der Leute in Ordnung bringen.«
Das kleine Mädchen grinste und zeigte mir dabei ihr eigenes Gebiss, milchweiß und mit ein paar Lücken vorn. Sie rutschte wieder von dem Stuhl herunter, setzte die Pumpe mit dem Fußpedal in Gang und kicherte, als der Bohrer in seiner Halterung zu tanzen und zu rattern begann. Ich hatte jedes Verständnis für ihre Wissbegier – in ihrem Alter hätte ich es genauso gemacht –, aber Alfie würde sich nicht bei mir bedanken, wenn er nach Hause kam und feststellte, dass sein kostbarer Stuhl Schaden genommen hatte. Und so manövrierte ich sie wieder zu ihrem Bruder hinüber.
»Mach keine Schwierigkeiten«, zischte er ihr zu, den Mund zu einer harten Linie verzogen.
Er hatte das gleiche dicke, lockige schwarze Haar wie seine Schwester und die gleichen dunklen Augen, nicht aber ihr fröhliches Wesen. Das kleine Mädchen schnitt eine Grimasse, rückte dichter an den Kamin heran und blies in die warme Asche, sodass die Kohlenreste aufglühten und knisterten.
Ihre Mutter beobachtete die beiden in nachdenklicher Stille. Ein Tropfen Regenwasser fiel vom Saum ihres Ärmels auf den Fußboden. Sie schüttelte sich – eine schnelle, ungeduldige Bewegung – und wandte sich dann an mich.
»Ich hätte gern etwas Kaliumbromid, wenn Sie es führen«, sagte sie. »Aber ich kann mir nur Sixpence leisten. Wie viel bekomme ich dafür?«
Ich suchte das Regalbrett ab, bis ich ein halb volles Glas von dem Zeug gefunden hatte: Kalium bromatum. Ich war kein Experte. In meinen Augen sah es aus wie Salz.
»Eine Unze.«
Ich war noch am Abwiegen, als sie wieder sprach. »Wenn ich vier Unzen bekommen könnte oder auch fünf, würde ich morgen mit dem Geld zurückkommen.«
»Dürfen Sie anschreiben lassen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Derzeit noch nicht.«
»Ich fürchte, in diesem Fall kann ich mich nicht darauf einlassen. Sie müssten später noch mal zurückkommen und mit dem Besitzer sprechen.«
Ich war lediglich als Vertretung da und auch das nur, um Alfie einen Gefallen zu tun. Mein Zimmerwirt, der Eigentümer der Apotheke, war ausgegangen. In Gesellschaft einer Freundin, wie er Mrs Gower nannte. Er hatte gesagt, er würde gleich nach dem Mittagessen zurückkommen, aber mittlerweile hatte die Uhr drei geschlagen, und von Alfie war nichts zu sehen. Es störte mich nicht weiter – ich hatte nichts Besseres zu tun, und seiner zwölfjährigen Tochter Constance fiel jedes Mal ein, dass sie andernorts Wichtiges zu erledigen hatte, wenn ihr Vater etwas Zeit in Gesellschaft von Mrs Gower verbringen wollte.
»Wenn Sie bereit wären, mir auf eigene Verantwortung den Kredit zu gewähren, würde ich Ihnen morgen den doppelten Betrag zurückzahlen. Das wäre ein Gewinn von zwei Shilling und Sixpence. Natürlich würde Ihnen das auch die Möglichkeit geben, das Geld selbst zu behalten.«
Ich muss gestehen, ich war überrascht und in nicht unerheblichem Maß indigniert. Glaubte sie wirklich, ich würde so ohne Weiteres Alfies Vertrauen missbrauchen?
»Nein, das kann ich nicht tun. Wollen Sie die eine Unze trotzdem haben?«
Ihre Augen wurden schmal. »Ja, bitte.«
Ich legte ihr Sixpencestück in die Geldschublade und schob ihr das Bromidpäckchen in die Hand. Sie nahm es mit einem Nicken entgegen, das ich nicht erwiderte.
Als sie im Begriff waren zu gehen, sah sie sich um und mir direkt in die Augen. »Sie sind ein ehrlicher Mensch«, sagte sie.
Ich war mir nicht sicher, ob dies als Kompliment gemeint war oder nicht.
In den nächsten Tagen dachte ich nicht mehr an die Familie. Jeden Morgen ging ich zur Arbeit – ich war Pedell am St Thomas’s Hospital –, und jeden Abend kam ich nach Hause. Ein Mal die Woche spielte ich Schach. Manch einer hätte dies vorhersehbar oder sogar eintönig genannt, aber ich war zufrieden. Ich hatte meine Erfahrungen mit einem aufregenden Leben gemacht und legte auf weitere davon keinen Wert.
Aus diesem Grund war ich einigermaßen verstört, als ich am darauffolgenden Donnerstag von der Arbeit nach Hause kam und dort Constable Pallett antraf, der an der Tür der Apotheke auf mich wartete. Er war jünger als ich, aber in allen drei Dimensionen größer, und er hatte ein weiches, sanftes Gesicht und Fäuste wie die großen eisernen Klampen der Docks.
»Mr Stanhope«, grüßte er mich mit seiner unerschütterlichen Höflichkeit, etwa wie ein Bankangestellter unmittelbar bevor er den Kredit kündigt.
»Was kann ich für Sie tun, Constable?«
Ich sorgte dafür, dass mein Tonfall fest blieb, aber er war mir immer im Bewusstsein, der eine Gedanke: Haben sie die Wahrheit über mich herausgefunden? Ist dies jetzt der Moment?
Ich schloss die Tür auf, und er folgte mir in die Apotheke, wobei er den Helm abnahm, der andernfalls die Decke zerkratzt hätte.
»Es ist eine heikle Angelegenheit, Sir. Wir würden Sie gern um Ihre Unterstützung bitten.«
»Bei was?«
Ich beobachtete ihn aufmerksam. Seine Stiefel waren schlammverkrustet, und sein Uniformrock war fleckig, als hätte er seine schmierigen Hände daran abgewischt. Aber er wirkte vollkommen unbefangen, als er da stand und Alfies neue Waage mit dem Zeigefinger zum Wippen brachte.
»Es ist eine merkwürdige Sache, das steht mal fest.« Ich hatte den Eindruck, dass er jemanden zitierte. »Detective Inspector Hooper hat das Sagen.«
»Ihn kenne ich nicht. Ist er ein guter Mann?«
»Er hofft, Sie könnten uns im Zusammenhang mit einem Vorfall weiterhelfen.«
Ich stellte fest, dass er meine Frage nicht beantwortet hatte. Und ein »Vorfall«, das konnte so gut wie alles bedeuten – ein gesunkenes Schiff, ein ermordeter Angehöriger, eine Kneipenschlägerei, ein geliehenes und nicht zurückgegebenes Paar Handschuhe.
»Was ist passiert?«
»Er hat mich angewiesen, die Einzelheiten nicht zu erwähnen, Sir. Er hat gesagt, er möchte Ihre natürliche Reaktion sehen, ohne vorherige Unterrichtung, gewissermaßen. Er hat sich da sehr deutlich ausgedrückt.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Er sah überrascht aus. »Es wurde ein Verbrechen verübt. Es ist am besten, wenn Sie mitkommen.«
Wir gingen in nördlicher Richtung durch Soho, wobei Pallett entschiedenen Schritts die Gehsteige entlangmarschierte und sich an den Helm tippte, wenn wir anderen Passanten begegneten. Ich stellte fest, dass sie mich beäugten und sich vermutlich fragten, warum ich hinter einem Polizisten herhastete. War ich Opfer oder Verdächtiger? Ich hätte ihnen die Frage nicht beantworten können. Ich verspürte das Bedürfnis, langsamer zu werden, in eine Nebenstraße abzubiegen und loszurennen – etwas, das ich bei früheren Gelegenheiten durchaus schon getan hatte.
»Wohin gehen wir?«
»Rose Street.«
Die Rose Street war mir ein Begriff, des Pubs wegen, der auf beiden Seiten und über der Straße errichtet worden war, sodass eine Durchfahrt durch das Gebäude selbst entstanden war. Alfie besuchte das Lokal oft, und einmal hatte er mich überredet, mitzukommen und seine alten Kameraden aus dem Regiment kennenzulernen. Sie hatten mich herzlich aufgenommen und sich geweigert, mich eine Runde ausgeben zu lassen. Wir saßen so dicht beisammen, dass unsere Schultern sich berührten, und sie erzählten abwechselnd Geschichten von ihren Einsätzen im Ausland, die sie unverkennbar alle auswendig kannten. Dann lachten sie und schütteten ihr Ale hinunter.
Ich war früh gegangen. Ich wollte keine neuen Freunde.
Pallett und ich erreichten die Rose Street und zogen instinktiv die Köpfe ein,...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2022 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Leo Stanhope | Ein Fall für Leo Stanhope |
Übersetzer | Christine Gaspard |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Alex Reeve • Alibi • besonderer Ermittler • Brandstiftung • britische Krimis • Das Haus in der Half Moon Street • Der Mord in der Rose Street • Ein Fall für Leo Stanhope • englische Krimis • Erpressung • Familie • Historische Kriminalromane • Historische Krimis • historische Krimis England • historische Romane 19. Jahrhundert • historische Romane England • historische Romane London • historische Romane Serien • historische Romane viktorianische Zeit • historische thriller • Industrialisierung • Kinder • Krimi Großbritannien • Krimi historisch • krimi london • Kriminalromane Serien • krimi reihen • Krimis aus England • Krimis und Thriller • Leo Stanhope • London • Mord • Mordfall • Queen Victoria • Rosie Flowers • Sabotage • Spinnerei • Viktorianischer Krimi • viktorianisches England |
ISBN-10 | 3-426-46329-6 / 3426463296 |
ISBN-13 | 978-3-426-46329-1 / 9783426463291 |
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