Tao (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
190 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77225-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tao -  Yannic Han Biao Federer
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Über Herkunft und Zugehörigkeit, Liebe und Verlust

Dass Tobi eigentlich Tao heißt, wissen die wenigsten. Nur Miriam nennt ihn, wenn sie zu zweit sind, bei seinem chinesischen Namen. Als sie ihn verlässt, reist Tao mit dem Auto quer durch Europa, um der Trauer über die Trennung zu entkommen. Doch die Erinnerung an die gemeinsamen Jahre verfolgt ihn, und auch der Tod des Vaters lässt ihn nicht los: Vor Jahren verschwand der in Hongkong - auf der Suche nach dem Geburtsort des eigenen Vaters. Nun ist es Tao, der sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt und zu schreiben beginnt, um die eigene Geschichte zu ordnen und die seiner Familie, die von China über Indonesien bis nach Deutschland reicht.

Yannic Han Biao Federer erzählt von einer Spurensuche entlang biographischer Brüche und historischer Verwerfungen, in der deutschen Provinz wie im zerrissenen Hongkong von heute. Sein Roman Tao stellt die Frage, wie gemeinsame Erinnerung erzählt werden kann, wem sie gehört - und was sie verspricht.



Yannic Han Biao Federer lebt und arbeitet als freier Autor in Köln. Er schreibt Romane und Erzählungen, Essays und Rezensionen, u. a. für Deutschlandfunk, WDR und SWR. Er ist Mitglied des PEN Berlin sowie des Jungen Kollegs in der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Er erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt den Bayern 2-Wortspiele-Literaturpreis und den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2022.

1


Als der Vater meines Vaters starb, sagte man ihm, sein Vater sitze nun hoch oben, auf der felsigen Kante des Mondes, sehe zu ihm herunter, wache über ihn, und wenn er einmal allein sei und verzweifelt, solle er nur warten, bis es dämmerte, bis der milchig leuchtende Stein über den Palmen und Stromleitungen stehe, dann könne er sicher sein, dass die väterlichen Augen auf ihm ruhten, erwartungsvoll. Ich stelle mir vor, wie mein Vater, ein Kind in weißer Trauerkleidung, aus dem Fenster sah, zum Nachthimmel, der zuverlässig wolkenlos blieb, zumindest in der Trockenzeit, ein Rest von Mond fast immer sichtbar. Aber hier ist es bewölkt. Es nieselt. Mir ist kalt. Ich bin betrunken. Der teure Wein, den ich vor Jahren geschenkt bekommen habe, den ich aufgehoben habe für eine besondere Gelegenheit – ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn einmal aus der Flasche trinken würde. Vor mir der Rhein eine schwarze Fläche, gleichgültig, unbeschienen, rechts und links Gestrüpp, hinter mir quietschen die Güterzüge, es riecht streng, vermutlich eine Kläranlage.

Unter der Nase des Hausverwalters ein gelber Halbkreis, dort, wo ihm die Zigaretten in den grauen Bart dampfen, seine Hand ist breit und kräftig und warm, er mustert mich neugierig. Na, dann kommen Sie mal hoch, sagt er, obwohl wir stehen bleiben müssen und ein Dutzend Mädchen passieren lassen, eine Frau und ihren Trolley, hinter ihm beschleunigen Autos, ein Lastwagen, die Müllabfuhr, endlich können wir vom äußeren Rand des Gehwegs zur Häuserfront, zwischen dm und Pizza-Döner-Center Kalk schließt der Hausverwalter eine Tür auf, daneben Klingelschilder und Briefkästen, in Plastik eingeschweißte Werbezeitungen lugen aus ihren Mäulern. Das Treppenhaus ist minzgrün gekachelt, die Treppenstufen auch, im ersten Geschoss ein Fenster, man blickt hinaus auf ein bekiestes Flachdach, dahinter ein Parkplatz. Da können Sie einkaufen, sagt der Mann, erst jetzt erkenne ich, dass es ein Aldi ist, der sich zur Parallelstraße hin öffnet. Im einzigen Raum der Wohnung riecht es nach Kunststoff, er ist nicht klein, aber auch nicht geräumig, viele Halogenleuchten in der niedrigen Decke, ein ehemaliges Büro, Linoleum in dunkler Parkettoptik, ich öffne ein Fenster, über dem Motorenlärm die gläserne Fassade eines alten Kaufhofs, dahinter Arbeiter, die Pressspanplatten und Gerät transportieren. Ist halb so wild, sagt der Verwalter und legt sein Klemmbrett ab. Wird nur entkernt, kommt ein Kaufland rein, da können Sie dann auch einkaufen. Ich nicke. Zur fensterlosen Küche ein Durchgang ohne Tür, ich betätige den Lichtschalter, aber nichts tut sich. Ach so, ja, sagt der Verwalter und reibt sich den Bauch. Der Strom ist weg, der Vormieter hat nicht gezahlt, na ja, die Küche können Sie übrigens haben, die geb ich Ihnen so, er zeigt auf Schränke, die einmal weiß waren, an der Wand lehnt die Dunstabzugshaube, ein Jägermeisterkühlschrank mit Glastür steht in der Ecke, am Herd fehlen Knöpfe, der Ofen hat keine Klappe, fassungslos und einäugig starrt er mich an.

Miriam versucht jetzt, möglichst selten in der Wohnung zu sein. Wenn ich nach Hause komme, liegen die Zimmer verlassen da, an einem hingeworfenen Küchenhandtuch, an einer neuen Schicht alter Wäsche im Wäschekorb, an ab- und zunehmenden Kühlschrankbeständen erkenne ich, dass sie da gewesen sein muss. Nachts höre ich manchmal die Wohnungstür, die knarrenden Dielen, die Toilettenspülung. Morgens ist sie dann schon wieder fort. Auf ihrem Schreibtisch zwischen losen Notizzetteln und geöffneten Briefen und Büchern eine laptopförmige Leerstelle, sie arbeitet in der Bibliothek, nehme ich an, obwohl sie das immer gehasst hat, die aufgekratzten Erstsemester, die flüsternd Probeklausuren diskutieren und glauben, es höre sie keiner, abseits die Pensionäre, die ihr Zeitungsabonnement nicht mehr zahlen wollen oder können und sich nun morgens bei den Zeitschriften um den Stadtanzeiger streiten oder um die Rundschau, die immer laut atmen und jede Seite geräuschvoll wenden und glattstreichen und wieder aufschütteln, die gealterten Langzeitpromovenden, die halbglatzig den Masterstudentinnen nachstellen.

Leer klingen die Räume unter meinen Schritten, dabei fehlt erst ein Regal. Am Ende schmerzen die Arme, die Kleider kleben mir am Leib, ich atme schwer, lehne am geöffneten Wagen, eine Zimmerlampe überragt Kartons, ihr Schirm steht schief. In Kalk bin ich zu müde, um noch auszuladen, ich nehme meinen Rucksack vom Beifahrersitz, öffne die Hecktür und ziehe Schlafsack und Isomatte zwischen Stuhlbeinen hervor, etwas kommt ins Rutschen und kracht gegen das Holz der Innenverkleidung. Meine Kleider in blauen Müllsäcken, ich bekomme ein T-Shirt und Boxershorts zu fassen, dann schließe ich den Wagen ab. Männer sitzen auf einer Mauer, sie trinken Schnaps und sehen mir zu, wie ich vor ihnen über den Aldiparkplatz laufe. In der Wohnung riecht es immer noch nach Kunststoff, dumpf fällt das Licht der Straßenlaternen in den Raum, ich öffne ein Fenster, höre den Stimmen auf der Straße zu, Amir, ruft einer, Amir, ruft er wieder, aber Amir will nicht hören, stoisch läuft er die Straße hinunter, an seinem Gang meine ich den Streit zu erkennen, dem er eben den Rücken gekehrt haben muss. Ich schaue auf mein Telefon, vier Anrufe in Abwesenheit, außerdem warten Nachrichten in verschiedenen Messengerdiensten, die ich nicht lesen möchte, vielleicht hat Miriam begonnen, es unseren Leuten zu sagen, und jetzt sind sie alle sehr besorgt, sie haben Angst, dass ich schon überm falschen Parkett baumele, ich schalte das Gerät aus, das Licht des Displays versiegt, der Raum wie geschwärzt, erst nach und nach gewöhnen sich die Augen wieder an das Halbdunkel, in dem die Wände enger wirken als am Tag. Ich rauche und frage mich, wann ich Strom haben werde. Amir, ruft es draußen wieder, diesmal eine Frauenstimme, ich sehe hinaus, Amir ist verschwunden.

Micha schreibt: Hey, ist alles okay?

Ich schreibe: Miriam hat sich von mir getrennt

Micha schreibt: Fuck

Micha schreibt: Tobi, das tut mir sehr leid

Micha schreibt: Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ruf mich an

Ich schreibe: Sitze gerade im Bus. Idee für Bandname: The Crying in Public. Erstes Album: Trying not to

Micha schreibt: Haha

Es regnet, im Zug sehe ich aus dem Fenster, betrachte Wolken, die tief über dem Boden treiben, kleine Finger zur Landschaft strecken, wie um sich festzuhalten, darunter bunte Regenjacken mit vorgespanntem Hund, manchmal ein einsames Auto, das sich durch die Dämmerung tastet. Im Sitz vor mir steckt eine Zeitschrift, auf der Rückseite die Anzeige einer Hotelkette, Pool und Pavillons zwischen Bambus und Bananenstauden, blumengeschmückte Steinskulpturen, ein seltsam gewundener Stamm, riesige Blätter, Lianen, darüber eine stilisierte Schreibschrift: Endless Exploitation, ich wundere mich, aber ich habe mich verlesen, eigentlich steht dort: Endless Exploration. Hinter Mannheim hebt sich ein Gebirge aus der Erde.

Wandern im Schwarzwald. Mutter und Onkel Winfried unterhalten sich, sie reden von Krankheiten und Tod. Onkel Winfried hat das Hemd offen und viel Gewicht verloren, hager und bleich stapft er durchs Gras. Das graue Haar fällt ihm auf die Schultern, er isst vom Wegesrand, Brennnesselsamen und Brombeeren und winzige Walderdbeeren, nur an die Pilze traut er sich nicht. Von oben sehen wir hinunter, überblicken die Täler. Dort ist der Opa gestorben, sagt Mutter irgendwann, zeigt auf einen Hang, den Krater kann man heute nicht mehr sehen. Zugewuchert, sagt Onkel Winfried noch, dann geht er weiter, pflückt etwas aus einem Baum.

Micha schickt mir einen neuen Text, ich lese ihn auf dem Handy. Es geht um einen, der Tomi heißt und Autor werden will, er ist Halbchinese, aber die meisten sehen ihm das nicht an, und manchmal vergisst er es auch selbst. Ich schreibe Micha: Also dieser Tomi bin schon ich, oder? Micha schreibt: Nee. Micha schreibt: Okay, vielleicht ein bisschen. Micha schreibt, aber keine Nachricht kommt, nur das Pulsieren der grauen Punkte, sie scheinen auf, verschwinden wieder, scheinen wieder auf, ich schalte das Display aus, trete hinaus auf den Balkon, es ist noch kühl, hinter den Bergen tagt es, zaghafte Konturen in der Ebene, da vibriert es wieder. Bist du jetzt böse?

Ich höre, wie Mutter hinter mir aus dem Schlafzimmer tritt und stehen bleibt, dann die Badezimmertür, dann...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Asiatisch • Asien • Asienkrise • Ausbeutung • Baden-Württemberg • Bandung • Bayern 2-WORTSPIELE-Preis 2022 • Biografie • Bonn • China • Chinesisch • Demokratie • Demokratiebewegung • Demonstration • Deutschland • Diskriminierung • Erinnerung • Familie • Flucht • Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2022 • Freundschaft • Grenze • Grenzgebiet • Großvater • Hautfarbe • Heimat • Herkunft • Hongkong • Identität • Indonesien • Köln • Kolonialismus • Krankheit • Krebs • Liebe • Marseille • Menschenhandel • Migration • Minderheit • Mitglied im Jungen Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste 2022 • Mitteleuropa • Mutter • Muttermal • neues Buch • Nordrhein-Westfalen • Nordwestdeutschland • Ostasien • Ostasien Ferner Osten • Planstadt • Pogrom • Protest • Rassismus • Reise • Sekte • Sohn • Sonderverwaltungszone • Spiritualität • Südostasien • Südwestdeutschland • Suharto • Tod • Trauer • Trauma • Trennung • Unterdrückung • Vater • Verlust • Vertreibung
ISBN-10 3-518-77225-2 / 3518772252
ISBN-13 978-3-518-77225-6 / 9783518772256
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