Mehr als ein Leben (eBook)
560 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9493-2 (ISBN)
Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 emigrierte sie nach Santa Fe und lebt heute in San Francisco. Bei Kein & Aber erschienen bisher 'Das schöne Leben der Toten' (2019) und 'Land der Söhne' (2020).
1975
1.
Es war heute. Heute war der Tag, das wusste Helen gleich. Sie war aufgewacht, weil sie den Wecker gehört hatte, im Zimmer ihrer Mutter auf der anderen Seite des Flurs. Sie hörte ein einziges Klingeln und ein dumpfes Geräusch und dann nichts mehr. Ihre Mutter hatte den Wecker gehört und ausgeschaltet. Aber sie war nicht aufgestanden.
Helen wartete, warten konnte sie gut. Sie wartete darauf, dass ihre Mutter aufwachte. Sie wartete darauf, dass Mama Frühstück machte. Sie wartete auf Papa, der versprochen hatte, sie abzuholen und mit ihr in den Zoo zu fahren, wo es echte Löwen gab und Elefanten. Sie wartete auf die Gutenachtgeschichte im Fernsehen, die einzige Sendung, die sie sehen durfte. Sie wartete, bis die großen Jungen den Spielplatz freigaben. Sie wartete darauf, dass sie einschlief. Sie wartete.
Es machte ihr nichts aus. Helen hatte ein Haus in ihrem Kopf. Das Haus war voller Türen und hinter jeder befand sich ein Zimmer, immer ein anderes und immer eine Überraschung. Manche waren voller Bilderbücher, andere voller Süßigkeiten. In einem schwebten alle Möbel an der Decke, in einem anderen stand ein Pferd auf einem Teppich aus Gras.
Am Anfang hatte sie immer nur das Haus gesehen, in dem sie früher gewohnt hatte, bevor sie mit ihrer Mutter in diese Siedlung gezogen war. Sie sah das rote Samtsofa gleich hinter der Eingangstür, das Wohnzimmer mit dem flauschigen weißen Teppich und dem alten Ledersessel, in dem ihr Vater immer saß und die Zeitung las und rauchte. Der Sessel erinnerte Helen an einen Elefanten, seine graue zerknitterte Haut, die sie im Zoo einmal von ganz nahe gesehen hatte. Helen lag auf dem Bauch auf dem flauschigen Teppich, die Wollflusen bewegten sich wie Grashalme und kitzelten sie. Dann war sie in der Küche und half ihrer Mutter, frische Apfelschnitze auf dem Kuchenteig anzurichten, immer rund und rund im Kreis herum wie ein Schneckenhaus. Sie sah ihr Zimmer. Es hatte schräge Wände, die ihre Mutter mit dünnem Vorhangstoff bespannt hatte. Wenn man das Fenster öffnete, bauschte sich der Stoff im Wind. Manchmal stellte Helen sich vor, sie sei auf einem Schiff. Ihr altes Zimmer war größer gewesen als das hier in der Siedlung, sie hatte nicht all ihre Sachen mitnehmen können. Aber vor allem war ihr Vater nicht mitgekommen.
Ihre Eltern waren getrennt. Getrennt, das war, wenn sauer gewordene Milch im Kaffee flockte und in schmutzigen Wolken auf der Tasse schwamm, statt zu dem perfekten Hellbraun zu verschmelzen, das Mama so liebte. Helen wusste nicht, wie man Kaffee kochte, aber sie konnte die Milch dazugießen und umrühren, sie wusste genau, wie der Kaffee aussehen musste, damit ihre Mutter ihn gerne trank. Milch, die sich vom Kaffee trennte, war etwas Widerwärtiges. Getrennte Eltern auch. Man durfte nicht darüber reden, das Wort nicht mal aussprechen. Sie presste immer die Lippen zusammen, wenn die anderen Mütter danach fragten: »Wo ist denn dein Vater, Helen? Kommt er bald wieder vorbei? Sind deine Eltern getrennt?«
Wenn Mama so etwas hörte, antwortete sie scharf: »Wir sind nicht wirklich geschieden! Nur auf dem Papier.«
Wenn Helen nur wüsste, wo dieses Papier war. Dann könnte sie es einfach mit der Schere zerschneiden und alles wäre wieder gut. Schere, Stein, Papier!
Ihre Eltern hatten immer schon viel gestritten. Oder laut geredet. Das sagte Mama jeweils, um sie zu trösten: »Wir reden nur laut.« Und Vera hatte immer schon »Launen« gehabt. »Deine Mutter und ihre Launen«, sagte Luc immer. Mit einem Seufzen in der Stimme, als rede er über das Wetter, über etwas, das man einfach hinnehmen musste. Man konnte nie wissen, ob sie lachen oder weinen würde, wenn sich ihr Mund verzog. Helen studierte die Mundwinkel ihrer Mutter, wie sie zitterten und zuckten, nach unten zeigten oder manchmal auch nach oben, wie sich ihre Lippen kräuselten oder streckten. Sie kannte jede ihrer Regungen. Und konnte sie doch nie richtig einschätzen. Schon ganz früher, vor der Trennung, im alten Haus, war Veras Stimmung manchmal ganz plötzlich umgeschlagen. Ohne die geringste Vorwarnung. Eben noch hatte sie liebevoll den Tisch gedeckt, ein von Helen bemaltes und mit einem Strauß Gänseblümchen aus dem Garten bestücktes Joghurtglas in die Mitte gestellt. Doch plötzlich sackte sie in sich zusammen, als hätte ihr jemand die Luft abgelassen, wie bei einem Ballon. Dann setzte Vera sich auf den Boden und weinte, während das Essen im Ofen verbrannte und die Küche sich mit Rauch füllte. Manchmal hielt sie mitten im Putzen inne, schaltete den Staubsauger aus und legte stattdessen eine Schallplatte auf. Dann wirbelte sie mit Helen durchs Wohnzimmer, hielt sie an den Händen und schwang sie hoch, hoch, hoch bis unter die Zimmerdecke. Helen konnte nie wissen, was als nächstes passieren würde. Sie hielt deshalb immer ein wenig den Atem an.
Später wurde ihre Mutter immer öfter wütend, sie warf Gläser an die Wand, Teller, Tassen. Einmal hatte sie Papas Anzüge im Kamin verbrannt, das ganze Haus hatte tagelang nach verkohltem Plastik gestunken. Ein andermal hatte sie seine Bücher aus dem Fenster geworfen. Doch dann hatte es zu regnen begonnen. Barfuß war sie hinausgerannt, um die Bücher zu retten, aber es war zu spät, sie waren ruiniert. Als Papa schließlich eines Abends mit zwei Koffern im Flur stand, fiel Mama laut schluchzend auf die Knie und klammerte sich an seine Beine. Er musste ganz komische, steife Schritte machen wie ein Storch. Helen war damals erst vier, aber sie wusste, dass es kein Spiel war. Ihr Vater meinte es ernst. »Papa!«, rief Helen und warf sich neben Mama auf den Boden, klammerte sich an sein anderes Hosenbein. Und da blieb er stehen. Er ging in die Knie und hob Helen vom Boden auf, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sagte: »Du nicht, Prinzessin, du nicht!«
Zu Vera sagte er: »Wie tief kannst du noch sinken?« Er schüttelte sie beide ab, stieg mit einem großen Schritt über sie hinweg und zur Tür hinaus. Sie hörten seinen VW Käfer husten und knattern und schließlich davonfahren. Mama heulte auf wie ein Tier, kroch auf allen Vieren zur Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Helen wusste nicht mehr, wie es weitergegangen war, irgendwie war es weitergegangen.
Helen lauschte. Beide Zimmertüren standen offen. Sie konnte nachts nicht schlafen ohne das helle Flurlicht, das schräg in ihr Zimmer fiel. Mama machte ihre Tür manchmal nachts zu. Dann schlich sich Helen aus dem Bett und öffnete sie wieder, ganz leise. War ihre Mutter einmal eingeschlafen, konnte man sie kaum aufwecken. Häufig schnaufte sie dabei laut, trotzdem fühlte Helen sich besser, wenn ihre Zimmertür offenstand.
Es war so still, meist konnte sie die Nachbarn durch die dünnen Wände hören, ihren Fernseher, das Radio, ihre Stimmen. Frau Hofstetter auf der anderen Seite schrie immer ihren Mann an. Ihre Mutter sagte, das sei, weil er nicht mehr gut hörte. Er schrie nie zurück.
Helen stand auf. Auf dem Bettrand lagen ihre Kleider ausgebreitet wie die einer Papierpuppe. Neben dem Bett standen die neuen Pantoffeln, die sie mitbringen musste, und die kleine Tasche aus rotem Leder, die sie mit einem Fix-und-Foxi-Aufkleber verziert hatte. Er saß ein wenig schief.
Vor einem Jahr hätte Helen schon den Kindergarten besuchen sollen, zusammen mit ihrer Freundin Susanne, die damals an derselben Straße wohnte. Doch Mama hatte sie zurückbehalten. Helen hatte sich das Wort gemerkt. Mama hatte sie zurückbehalten, bei sich behalten. Weil Papa nicht mehr da war und sie tagsüber nicht allein sein wollte. Aber vielleicht war es auch, weil sie jetzt morgens immer sehr lange schlief. Sie holte immer mehr Weinflaschen aus dem Keller und trank sie ganz allein aus. Früher hatte Papa ihr dabei geholfen. Doch seit Papa weg war, war alles anders. Mama war jetzt immer müde, lachte nicht mehr und tanzte nicht mehr. Sie nannte Helen nicht mehr »mein Mädchen«. Sie kochte nicht mehr, bügelte nicht mehr, fegte den Küchenboden nicht mehr. Helen versuchte verzweifelt, die Handreichungen, die sie so oft beobachtet hatte, aus dem Gedächtnis nachzuahmen. Sie hatte Mama doch immer geholfen, sie war ihr durchs Haus gefolgt wie ein Hündchen, von oben nach unten, von einem Zimmer zum nächsten. Sie wusste genau, was Mama jeden Tag getan hatte: lüften, Betten machen, abstauben, staubsaugen … Aber wenn sie es allein versuchte, konnte sie es nicht.
Und dann sagte Papa, sie könnten das Haus nicht länger halten. Das war Mamas Beruf, das Haus zu halten. Das sagte sie doch immer. Wie sehr sie es liebte, das Haus zu halten, und dass es nichts gäbe, was sie lieber tun würde. Aber offenbar nur, wenn Papa auch in dem Haus war. Helen allein war nicht genug.
Statt einem Haus, das sie nicht halten konnten, hatten sie nun zwei Wohnungen, eine in der Siedlung und eine in der Nähe von Papas Arbeit. Das war kein guter Tausch, fand Helen. Papa hatte beim Umzug geholfen. Er hatte an den Türen geklingelt und sich den Nachbarinnen vorgestellt. Alle mochten ihn. Sie kannten ihn vom Fernsehen und waren ganz aufgeregt, ihn persönlich kennenzulernen. Auch deshalb ging Helen nicht gern in den Hof hinunter zum Spielen oder zu den anderen Kindern nach Hause. Wegen der Mütter. Ständig fragten sie nach ihrem Papa. Wie es ihm ginge und wann er wiederkäme. Vielleicht war das auch der Grund, warum Mama nur noch selten die Wohnung verließ.
Papa kam oft vorbei, aber immer nur kurz und nie dann, wenn er es versprochen hatte. Er hatte die Lampen in der Küche montiert und den Bücherschrank an die Wand geschoben. Er öffnete die Briefe von der Bank und vom Steueramt, er legte die Rechnungen in ordentlichen Stapeln auf den Küchentisch und half Mama, die Einzahlungsscheine auszufüllen. Manchmal ließ...
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alkoholismus • Au-pair • Erwachsenwerden • Gesellschaft • Identität • Liebesgeschichte • Literatur • Persönlichkeit • San Francisco • Sorgerecht • Zürich |
ISBN-10 | 3-0369-9493-9 / 3036994939 |
ISBN-13 | 978-3-0369-9493-2 / 9783036994932 |
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