So sternklar war die Nacht (eBook)
481 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2536-8 (ISBN)
Ein Autounfall auf einsamer nächtlicher Straße im Tegeler Forst. Der Fahrer wird tot geborgen. Sein 21-jähriger Sohn ist spurlos verschwunden. Kurz darauf wird die Ehefrau des toten Fahrers ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Der Berliner Kommissar Joris Eichendorf steht vor einem Rätsel. Was ist mit dieser bis dahin unauffälligen Familie passiert?
Privat hat Eichendorf ebenfalls einige Herausforderungen zu bewältigen. Noch immer verheimlicht er seine Transsexualität vor seinen Kolleginnen und Kollegen. Die Angst, dass er künftig in seiner Polizeiarbeit nicht mehr anerkannt und gemobbt wird, ist zu groß. Doch die Last des Doppellebens belastet Eichendorf schwer. Plötzlich steht dann auch noch seine 12-jährige Tochter Stella überraschend bei ihm vor der Tür. Als sie ihn bei seinen Ermittlungen im Tegeler Forst begleitet, verschwindet Stella spurlos. Eichendorfs Ermittlungen werden nun zu einem sehr persönlichen Fall ...
Jordan T.A. Wegberg studierte Germanistik und Anglistik sowie Literaturvermittlung und Medienpraxis. Sieben Romane und über zwanzig Kurzgeschichten erschienen in verschiedenen Verlagen und Literaturzeitschriften. Sie wurden unter anderem mit dem Brandenburgischen Literaturpreis und der Goldenen Leslie des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet. Wegberg unterrichtet literarisches Schreiben und begleitet Autor*innen in Einzelcoachings auf dem Weg zur Veröffentlichung. Mit seinem Hund James wandert der leidenschaftliche Fotograf über 2500 Kilometer im Jahr. Er hört am liebsten Techno oder Vogelgesang, interessiert sich für Botanik und Psychologie, mag keine Schokolade und träumt häufig auf Englisch.
2
»Hat’s Ihnen geschmeckt? Darf ich Ihnen noch was bringen?«
»Ähm … ich nehm noch so einen hier.«
»Noch einen Sauvignon? Sehr gern.«
Tatjana sah dem Kellner hinterher. Seine Rückansicht war sogar noch überzeugender als sein sonnengebräuntes Gesicht. Sie malte sich aus, wie er gleich mit zwei Gläsern zurückkehren würde: einem für sie und einem für sich. Er würde sich zu ihr setzen, sein Glas mit einem optimistischen Klingen gegen ihres neigen und ihr einen intensiven, aufmerksamen Blick schenken. »Wer auch immer dich versetzt hat, meine Kleine, er ist ein Versager.«
Seit sie erwachsen war, hatte man sie nur ein einziges Mal »meine Kleine« genannt. Ein Straßenkünstler auf dem Alexanderplatz war das gewesen, ein junger Jongleur mit Dreadlocks und nacktem Oberkörper unter einer bestickten Hippieweste, der nach seiner Vorführung mit einem Pappbecher Spenden eingesammelt hatte. Sie hatte nur einen Zehner im Portemonnaie gefunden – übertrieben viel für ein paar Minuten Keulenwerfen –, doch es war ihr peinlich gewesen, nichts zu geben, also ließ sie den Geldschein in seinen Becher fallen, und er strich ihr mit der freien Hand zärtlich über die Wange und sagte: »Danke dir, meine Kleine.« Sie war vollkommen verblüfft gewesen und zugleich so berührt von dieser seltsam intimen Geste, dass ihr die Tränen in die Augen gestiegen waren.
Tatjana stieß ein leises, resigniertes Schnauben aus. Es war erbärmlich, sich mit Fantasien über in Liebe entflammtes Bedienpersonal bei Laune halten zu müssen. Aber ebenso erbärmlich war es, an einem milden Sommerfreitagabend ganz allein in einem Biergarten zu sitzen, der ansonsten nur von Paaren oder fröhlichen Radfahrergruppen besucht war, fünf Gläser Wein zu trinken und sich vor der Einsamkeit des Wochenendes zu fürchten. Sie war nicht versetzt worden. Es gab nicht mal jemanden, der sie versetzen konnte.
Wahrscheinlich würde sie an den kommenden beiden Tagen wieder auf all den Partnerschafts-Plattformen herumstöbern, bei denen sie angemeldet war. Aber die ernüchternde Wahrheit war, dass sie alle infrage kommenden Männer – und sie hatte ihre Auswahlkriterien sehr großzügig ausgelegt – bereits kontaktiert hatte.
Sie führte keine Statistik, schätzte aber, dass vierzig Prozent überhaupt nicht antworteten. Von den anderen war ein Teil wie durch ein Wunder inzwischen vergeben (komischerweise blieben sie trotzdem weiter angemeldet), und ein Teil formulierte die Antwort in so schlichtem oder gar fehlerhaftem Deutsch, dass sie von einer weiteren Korrespondenz absah. Am Ende blieb nur eine traurige Handvoll, mit denen es zu einer persönlichen Begegnung kam.
Seit Beginn des Jahres hatte sie gerade mal drei Dates gehabt. Das erste war recht nett gewesen, immerhin hatten Frank und sie ein paar gemeinsame Interessen. Erst beim Verlassen des Lokals war deutlich geworden, dass Tatjana den Mann um mehrere Zentimeter überragte, und da hatte sie bereits geahnt, was sich schließlich bestätigen sollte: Er meldete sich nie mehr.
Der Zweite hatte es geschafft, anderthalb Stunden lang ausschließlich von sich zu sprechen: von seiner Tätigkeit als Versicherungsmakler, von seinen haarsträubend ahnungslosen Kunden und ihren fürchterlichen Wohnungseinrichtungen, Kindern, Hunden oder Körpergerüchen, von seinen Reisen an aufregende Orte wie Tegernsee, Tirol oder Teneriffa und von der Schlampe, mit der er vier Jahre lang verheiratet gewesen war und die ihn nun ausnahm wie – nun, natürlich wie eine Weihnachtsgans, was sonst.
Das Date mit dem Senatsangestellten war das einzige gewesen, von dem es eine Zweit- und eine Drittauflage gegeben hatte, vielleicht weil sie beide die ganze Zeit darauf gehofft hatten, dass es zwischen ihnen funken würde.
Die Voraussetzungen waren da. Stefan konnte zuhören, war gebildet und hatte Interessen, die sich zwar nicht mit ihren deckten, für die sie sich aber sicherlich hätte erwärmen können. Opern zum Beispiel, oder alte Schreibmaschinen. Doch der erhoffte Funke war nicht übergesprungen, vielleicht hatte es gar keinen gegeben, und nun hatten sie schon seit über sechs Wochen nicht mehr miteinander telefoniert, ohne dass einer von beiden die Sache explizit beendet hätte.
Tatjana überlegte, ob sie ihn morgen anrufen sollte. Vielleicht hatte er am Wochenende Zeit. Sie würde mit ihm in eine Opernaufführung gehen, wenn er das wollte. Sie würde auch mit ihm ins Bett gehen. Nichts an ihm war aufregend, weder der sorgfältig gepflegte ergrauende Bart noch die randlose Brille. Sie fand seine Handrücken zu haarig und sein Rasierwasser zu holzig. Aber er hatte eine angenehme Stimme. Und sie konnte ja beim Sex die Augen zumachen.
Der Kellner stellte ihr das Weinglas hin, ohne sie dabei auch nur anzusehen, und sein »Zum Wohl!« war von ernüchternder Geschäftsmäßigkeit. Tatjana schämte sich für ihre Gedanken, als hätte sie sie laut ausgesprochen. Sie ließ ihren Blick umherwandern in der Hoffnung, dass es inzwischen noch weitere Gäste gab, die wie sie allein unter den großen weißen Sonnenschirmen an ihren Tischen saßen, doch das Gegenteil war der Fall. Eine gackernde Schar aus mindestens zehn Frauen strömte in den Biergarten, alle aufgebrezelt und so überdreht, als hätten sie bereits auf dem Weg hierher eine Kiste Sekt geleert, und absorbierte die gesamte Aufmerksamkeit der anwesenden Männer.
Für sich genommen war keine der Frauen übermäßig attraktiv, und die meisten hatten ihren Zenit schon überschritten, aber der Cheerleader-Effekt und ihre schiere Lautstärke machten das mehr als wett. Die erste wurde bereits von einem Mann angeflirtet, der etwas zur Seite rücken musste, damit sie sich zu ihrem Tisch durchschlängeln konnte, und als der Kellner die Bestellungen der Damen aufnahm, schallte ihr frivoles Gelächter bis tief in den Tegeler Forst.
Betriebsausflug, diagnostizierte Tatjana, konnte sich allerdings nicht zwischen Friseurinnen, Kosmetikerinnen und Supermarktkassiererinnen entscheiden. Sie dachte an ihre eigenen Kollegen. Obwohl sie schon seit neun Jahren bei Aventa Pharma arbeitete, duzte sie nur zwei, und die hatten beide als Auszubildende in ihrer Abteilung angefangen und sprachen sie ihrerseits brav mit »Frau Dr. Kuphal« an, so wie jeder andere in dieser Firma. Gemeinsame Freizeitgestaltung war unvorstellbar. In einem der ersten Jahre hatte sie mal an einer Weihnachtsfeier teilgenommen, ein so deprimierendes Erlebnis, dass sie es nie hatte wiederholen wollen.
Trotzdem war dies der Weg, den sie bewusst gewählt hatte. Natürlich hätte sie mit ihrem Medizinstudium auch Ärztin an einem Krankenhaus bleiben oder sogar eine eigene Praxis eröffnen können. Doch der Gedanke daran hatte sie schon im ersten Semester verstört. Dass wildfremde Personen ihr ihre Verdauungsprobleme schilderten oder sich sogar vor ihr auszogen, entsprach einfach nicht ihren Karriereplänen.
Sie wollte heilen, etwas bewirken, Gutes tun – aber möglichst ohne direkten Kontakt zu den Kranken. Und das tat sie ja nun auch, indem sie als klinische Forschungsärztin Medikamentenstudien plante und entwickelte. Wahrscheinlich half sie damit mehr Menschen als zehn Chirurgen zusammengenommen. Und niemand konnte ihr unter der Hand wegsterben.
Dafür lernte sie allerdings nicht viele Männer kennen. Und konnte nach der Arbeit nicht mit einem erlebnishungrigen Kolleginnenrudel um die Häuser ziehen. Sie beschloss, dass sich vor allem das Letztere gut verschmerzen ließ, und bestellte sich noch ein weiteres Glas von dem ausgezeichneten Steinwiege.
Das entfesselte Gekreische der Kosmetikstudiobelegschaft dominierte inzwischen die Geräuschkulisse. Eine der Damen stelzte soeben mit unter den Arm geklemmter Clutch in Richtung Toiletten. Ihr knallrotes Stretchröckchen reichte nur bis knapp zum Knie, der Kies knirschte gequält unter ihren zentimeterhohen Absätzen. Alle Männer glotzten ihr hinterher, viele mit einer seltsamen Mischung aus Lüsternheit und Amüsement.
Es war fast 22 Uhr, als Tatjana ihr Glas geleert hatte, und immer noch heller als an manchem verregneten Novembervormittag. Über dem Wald leuchtete der Himmel in einem unwirklichen, durchsichtigen Türkisblau, ein erster Stern sandte seine Signale aus. In der warmen Nachtluft schwebte der Duft von Verheißung, der dieser Jahreszeit eigen war. Tatjana winkte dem Kellner und spürte wider alle Vernunft plötzlich die Zuversicht, dass ihr etwas Wunderbares bevorstand. Vielleicht nicht mehr heute, aber … bald. In diesem Sommer. Warum nicht? Sie war an der Reihe.
»Sechzig«, sagte sie und reichte dem braungebrannten Kellner ihre Kreditkarte. Das waren deutlich mehr als zehn Prozent Trinkgeld, aber schließlich war er fleißig und freundlich und hielt seinen Körper gut in Schuss, besonders seinen knackigen Hintern, das konnte man ruhig mal honorieren.
»Vielen Dank.« Es klang aufrichtig, fast ein bisschen überrascht. Auf ihrem Weg zum Ausgang rief er ihr »Schönen Abend noch!« hinterher.
Sie schwankte nur ganz leicht, was wahrscheinlich hauptsächlich an den Schuhen lag, die sie wegen dieser blöden Trichterabsätze selten trug, und natürlich auch an den schlechten Lichtverhältnissen bei den Parkplätzen, die sich ja beinahe schon im Wald befanden. Nun gut, sie hatte etwas zu viel getrunken, fühlte sich aber von einer angenehmen Beschwingtheit abgesehen vollkommen nüchtern und unter allen Umständen in der Lage, ihren Heimweg zu meistern.
Als sie den Citroën gestartet hatte, wollte sie automatisch zur Karolinenstraße zurück – und dann wie gewohnt auf die A111 fahren, aber jetzt schien es ihr doch...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2022 |
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Reihe/Serie | Kommissar Eichendorf ermittelt | Kommissar Eichendorf ermittelt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Ben Kryst Tomasson • Berlin • Berlin Krimi • Gisa Pauly • Katharina Peters • Klaus-Peter Wolf • Kommissar • Kriminalfall • Kriminalroman • Regionalkrimi • Spannung • Trasgender |
ISBN-10 | 3-8412-2536-5 / 3841225365 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2536-8 / 9783841225368 |
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