Ingólfur (eBook)
328 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7504-4914-5 (ISBN)
Jochen Windheuser wurde 1946 im Ruhrgebiet geboren. Nach einem Studium der Psychologie und praktischer Tätigkeit im Bereich Erziehungsberatung und Psychiatrie war er als Hochschullehrer in der Ausbildung von Sozialarbeitern tätig. Neben Fachartikeln und Projektberichten schrieb er gelegentlich Kurzgeschichten und Gedichte. Erst jetzt wagte er sich an einen Roman. Thematisch ließ er sich von der einmaligen Landschaft Islands, die er erst im Ruhestand kennenlernte, von der Geschichte dieses Landes sowie ihrer reichhaltigen Literatur anregen. Jochen Windheuser ist verheiratet und lebt in Bremen.
1 Die Elfenstadt1
Genau so stellte er sich die Krone vor, wenn Großmutter vom König im fernen Land erzählte. Breit, eckig, voller Kanten, verwittert, uralt, und wie eine Last, die es zu tragen gilt. Nicht wie diese leichten runden Dinger, die die kleine Gudný als ihr Königsspielzeug bastelte, wenn sie wieder ein Stückchen Eisenblechabfall beim gutmütigen Schmied erbettelt hatte.
Da stand sie in der Landschaft, die graubraune Krone, wie emporgehoben von zerfurchten grünbraunen, von weißen und gelben Blumen gesprenkelten Wiesen, wie hochgewuchtet von einem schräg aufsteigenden wilden Flechtwerk von Gräsern, Kräutern, eingelagerten Felsbrocken und geduckten Büschen.
Der so gekrönte grüne Hügel hielt vornehmen Abstand vom Schwanenfjord und vom glitzernden Fluss, der selbst beim stärksten Hochwasser nie an ihm nagen konnte. Auch mit den Bergen, die Fjord und Tal umfassten, wollte er nichts zu tun haben – dunkle Riesen im Sommer, schwebende schneeweiße Wolken im Winter.
Wenn die Männer in die Berge aufbrachen, um mit den Erzeugnissen des Tals in den reichen Nordfjorden zu handeln, oder um im Herbst die Schafe herabzutreiben und im großen Pferch am Fluss zu sammeln, dann durfte er, Ingólfur, zweiter Sohn des Großbauern und Goden Thórvaldur Árnarsson, mit seinen acht Jahren noch nicht mit. Wohl sein älterer Bruder Árnar, obwohl auch der erst elf war. Aber der war ja ohnehin Vaters Liebling, der immer alles richtig machte.
Dafür hielt er sich an diesem Hügel, den alle die „Elfenstadt“ nannten, unschädlich. Seit er vom Hof wegdurfte, um allein zu spielen, ist er auf ihm herumgeklettert, hat alle Scharten und Spitzen erkundet, und hat auch die beiden kleinen Höhlen entdeckt. Von ihnen erzählte Großmutter: ein Urahn hatte seine Ziegen dort in Schutz gebracht, als ein wütender Schneesturm die Berge heruntertobte, und nach diesen ‚Geißenhöhlen‘ hat er seinen Hof benannt, den er dann etwas oberhalb im Tal gründete. Ihr Geithellar, ihr Zuhause.
Irgendwann merkte Ingólfur, wie gut es ihm ging, wenn er auf dem Hügel herumstreifte. Wie duftete im Sommer das Gras! Besonders von niedrigen Pflänzchen mit kleinen rotvioletten Blüten stieg ihm der Duft über die Nase mitten ins Herz. Blutfelsen2, sagte ihm Großmutter, ein wunderbares Kraut. Wenn es blüht, blutet der Fels. Und sie zählte die Krankheiten auf, bei denen diese Pflanze hilft: Atembeschwerden, Bauchschmerzen und Durchfall, saurer Atem, Kater. Einmal hat Großmutter einen versoffenen Knecht gezwungen, tagelang immer wieder einen Sud vom Blutfelsen zu trinken, und er ließ tatsächlich die Finger vom Bier. Wenigstens eine Zeitlang.
Und so kam es, dass die Elfenstadt Ingólfurs Fluchtort wurde. Wenn Árnar es mal wieder besser konnte beim Helfen im Stall oder in der Scheune, wenn die Mädchen, Gudný und die Zwillinge der Sklavin, mal wieder kicherten, weil er ihre Neckereien nicht frech parierte, oder wenn er es nicht aushielt, im Herbst nach dem Schafabtrieb beim Schlachten der Lämmer zuzuschauen, dann rannte er zum Hügel und warf sich ins Gras oder zwängte sich in eine Felsspalte oben in der Krone. Und dann wurde der Schmerz im Bauch weicher, der Druck im Hals floss ab, er atmete freier, und er hing Bildern nach, wie ein alter würdiger König ihn zu sich rief und ihm vor allen Hofleuten freundlich zusprach.
***
Heute ist er wieder zur Elfenstadt gerannt. Was war geschehen?
Gaefa, eine der Kühe, hat vor einer Woche gekalbt. Es ist ein männliches Kalb. „Es ist zu spät im Jahr“, hat der Vater beim Essen gesagt. „Wir hatten schon Nachtfrost. Wir können das Bullenkalb nicht durch den Winter bringen.“ Die Knechte murmelten zustimmend. Die Mutter hat kräftig im Kessel gerührt und genickt: „Wir brauchen bald wieder Gaefas Milch.“ „Und später das Heu für die Schafe, da bleibt nichts für das Kalb!“, rief Árnar dazwischen. „Klug gedacht, Árnar“.
Ingólfur fühlte noch jetzt den Stich im Herzen. Nicht nur, weil Vater dem Árnar mal wieder Recht gegeben hat. Wie hatte Gaefa das Kalb liebkost! Ingólfur hat alles genau beobachtet. Gaefa hat die Haut rundum abgeleckt, hat das Kalb immer wieder gestupst, dass es auf seine staksigen Beine stieg und wackelnd ein paar Schritte machte. Und dann hat Gaefa mit dem Kopf dagegengehalten, dass das Kalb nicht umfiel! Und immer wieder mit der Zunge dem Kalb vorsichtig ins Gesicht. So liebevoll hat Gaefa geguckt! Ein Blick, der Ingólfur einmal sogar einen Schauer über den Rücken jagte. Habe ich nicht ein hübsches Kalb, hat der Blick gesagt.
Tag für Tag ist Ingólfur auf die Wiese gelaufen, hat sich auf ein Grasbüschel gehockt und den beiden zugesehen. Schau mal, das Kalb guckt auch die Mutter so liebevoll an! Hat es nicht eben versucht, Gaefa mit der Zunge über das Maul zu fahren? Und Ingólfur fühlte sich ganz zufrieden mit der Welt. So soll es sein, so ist es gut. Und er war sich sicher, dass Gaefa ganz genau so fühlte. Und das Kalb auch.
Und dann dieses Gespräch gestern am Herdfeuer. Tränen sind ihm hochgestiegen. „Was ist los, Ingi, was kneifst du die Augen so?“ „Der Qualm vom Feuer, Mama, nichts Besonderes.“
Und heute früh ist das Kalb geschlachtet worden. Steinar, ein Knecht, hat es gemacht. Gaefa hat laut und lange gemuht, es klang ganz anders als sonst. Ingólfur hat sich nicht in ihre Nähe getraut, schon gar nicht auf die Hofwiese, wo geschlachtet wurde. Er hat sich hinten durch das Törchen verdrückt und ist hinter den Birkenbüschen hierher zum Hügel gelaufen. Jetzt saß er da, lehnte mit dem Rücken am Felsen, die Beine im Gestrüpp, und heulte Rotz und Wasser. Kein Gedanke konnte sich setzen, es gab keinen Halt, alles schwemmte der trotzige, traurige Zorn aus ihm heraus.
Allmählich jedoch verlor der Strom an Kraft. Schnappatmig wurde die Wut, die Nase zog Rotz und frische Luft. Auf einmal blinzelte die Sonne hinter trägen Wolken hervor. Ein Schwall Wärme umfasste ihn, wehte seine Lider zu. Und es war, als gehe ein Streicheln über seine Lider hin.
„Schau dir an, wie wir das machen“, ertönt eine warme weibliche Stimme. Sie gehört einer kleinen, auffällig gekleideten jungen Frau, die vor ihm steht. Über einem weißen Unterkleid trägt sie ein Kleid in strahlendem Rot, geschnürt mit einer goldschimmernden Kordel, darüber einen Umhang in einer Farbe, die der Fjord im sonnigen Frühjahr zeigt, wenn er sich mit Schmelzwasser aus den Bergen vollsaugt und das Atmen befreit. „Komm mit mir, ich zeige es dir. Es kann auch anders sein.“ Und sie nimmt ihn bei der Hand und führt ihn in die Elfenstadt hinein, über eine sattgrüne Wiese. Drei rotbunte Kühe grasen dort, zusammen mit ihren Kälbern. Eines säugt gerade bei ihrer Mutter. „Wir lassen sie zusammen, bis die Mutter das Kalb nicht mehr bei sich haben will,“ sagt die Frau. „Und im Winter?“ „Wir machen genug Heu. Wir fangen früh damit an.“
Eine andere Frau kommt auf sie zu. Auch sie ist eher klein, sie wirkt älter. Gekleidet ist sie ähnlich fein wie Ingólfurs Begleiterin, nur dass ihr Kleid ins Violette geht und der Umhang ins Rötlich-Gelbe, was gut zusammenpasst, findet Ingólfur. Klar und ernst blicken ihre dunklen, ins Grünliche schimmernden Augen auf die beiden, und sie fragt: „Wieso bringst du ein Menschenkind hierher? Du weißt doch, dass das nicht erlaubt ist!“ „Die Königin selbst hat es mir aufgetragen. Sie sagt, es ist jetzt Zeit. Es ist eine Enkelin von Ingibjörg, der Seherin.“ Und sie erklärt der anderen Frau, die immer freundlicher blickt, dass dieses Kind gerade jetzt Trost braucht. Und sie erzählt von Gaefa und dem Kalb.
Aber Ingólfur hört schon gar nicht mehr zu. Das Wort „Enkelin“ hat ihm einen Stich versetzt. Ich bin doch ein Junge! Und trotzdem: Keine Wut regt sich. Frieden lebt in seinem Bauch. Hier ist alles gut und richtig, die Kälber, die freundlichen Frauen. Auch die „Enkelin“.
„Ingiiiii!“ Der Ruf ließ ihn aufschrecken. „Ingiiiii!“ Das war Gudný. „Ja, was ist?“ „Du sollst zum Essen kommen!“ Ingólfur rappelte sich hoch, stürmte und stolperte den Hang hinunter und fiel Gudný fast vor die Füße. Er packte sie, hob sie hoch und strahlte sie an. „Was ist denn los?“ „Ach, mir geht’s gut.“ Und gemeinsam liefen sie auf den Hof zu. Unterwegs plapperte Gudný vom Vormittag. Was Mutter und die Mägde alles aus dem Kalb gemacht haben. Und dass es heute zur Grütze schon was davon gibt, obwohl gar nicht Sonntag ist. Und dass Oma dazu viele Kräuter gehackt hat, und die Pfannkuchen sind auch schon fertig.
Und tatsächlich, im Grütztopf versteckte sich ein würziges Allerlei vom Kalb, alle langten kräftig zu und luden sich den Eintopf auf die knusprigen Fladen, zuerst die Familie, dann die Knechte und Mägde, dann die Sklavinnen und Sklaven und...
Erscheint lt. Verlag | 26.2.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
ISBN-10 | 3-7504-4914-7 / 3750449147 |
ISBN-13 | 978-3-7504-4914-5 / 9783750449145 |
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