Europäische Integration (eBook)

Geschichte und Gegenwart
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
128 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-78497-2 (ISBN)

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Europäische Integration -  Kiran Klaus Patel
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Europäische Integration hat viele Ursprünge und reicht weniger weit zurück, als man oft meint. Kiran Klaus Patel führt in ihre Geschichte und Gegenwart ein. Dabei zeigt er, wie die europäischen Staaten sich nach 1945 immer enger vernetzten und wie EG und EU zu den Institutionen wurden, die diesen Prozess bündelten und befeuerten.

Kiran Klaus Patel lehrt als Professor für Europäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: "Projekt Europa. Eine kritische Geschichte" (2018).

I. 2500 Jahre und fünf Minuten

1. Europa ohne Europa

Die europäische Integration hat viele Ursprünge und reicht weniger weit zurück, als man oft meint. Europa spielte als Begriff und Idee im Leben der meisten Menschen bis ins 20. Jahrhundert hinein keine große Rolle. Das mag überraschen, geht der Begriff selbst doch bis in die Antike zurück. In der griechischen Mythologie bezieht er sich auf eine phönizische Königstochter, die Zeus als Stier verwandelt nach Kreta entführt. Zugleich hatte das Wort eine geographische Bedeutungsebene: Wenn beispielsweise der griechische Schriftsteller Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus von Europa sprach, meinte er den Kontinent, auf dem er selbst lebte. Er unterstrich damit den zivilisatorischen Unterschied zu den Persern, dem übermächtigen Feind des damaligen Griechenlands. Herodot hielt Europa für größer als Asien und Afrika, die beiden anderen ihm bekannten Kontinente, wiewohl er nur in Bezug auf Griechenland und das südliche Italien über konkrete geographische Kenntnisse verfügte. In der römischen Antike blieb der Europa-Begriff nachrangig, und Ähnliches gilt für die Zeit bis zum Spätmittelalter.

Erst seit dem 12. und 13. Jahrhundert tauchte das Wort Europa in verschiedenen europäischen Sprachen vermehrt auf. Gehäuft findet man es in Phasen der Krise, etwa den Kreuzzügen oder angesichts der osmanischen Expansion. Seitdem schrieb man gelegentlich über Frieden durch Föderation in Europa. Häufig wird das Spätmittelalter als der ideengeschichtliche Ausgangspunkt europäischer Einigung gesehen, und tatsächlich ließe sich eine ehrwürdige Ahnengalerie entsprechender Vordenker wie Dante Alighieri, dem Herzog von Sully oder Immanuel Kant präsentieren. Nur: Die längste Zeit blieben diese und ähnliche Vorstellungen randständig und wurden lediglich im erlesenen Kreis gesellschaftlicher Eliten diskutiert. Manche der entscheidenden Texte gerieten außerdem für längere Phasen in Vergessenheit. William Penns Europaplan von 1693 zum Beispiel zirkulierte ursprünglich nur in kleinen Auflagen und sammelte dann für fast 200 Jahre Staub in den hinteren Bücherregalen weniger Bibliotheken, bevor er im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. Als Reflex auf die Entstehung der Nationalstaaten und ihrer Kriege diskutierten Intellektuelle in jener Zeit vermehrt die Idee, wie die Staaten des Kontinents friedlich koexistieren könnten und sich eventuell sogar gleichberechtigt zusammenschließen ließen. Denker wie Victor Hugo sowie Freiheitskämpfer wie der Italiener Giuseppe Mazzini und sein ungarischer Weggefährte Lajos Kossuth gaben dem Begriff Europa neuen Glanz. Für das Gros der Menschen blieben diese Debatten jedoch selbst im 19. Jahrhundert nachrangig.

Zugleich kannte die Geschichte des Kontinents schon immer grenzübergreifenden Austausch von Ideen, Gütern und Menschen. Das, was wir heute Europa nennen, bildet zumindest seit dem Mittelalter einen Raum besonderer Verdichtung, vereint durch Kooperation und Konkurrenz – durch die Suche nach Selbstständigkeit, aber auch durch gewaltsame und friedliche Einigungsversuche. Dieser Raum hatte keine klaren Grenzen. Zum Beispiel ist die scheinbar so harte, geographische Uralgrenze gen Osten eine Konvention aus dem 18. Jahrhundert. Mit ihr untermauerte Russland seinen Anspruch, zu den europäischen Großmächten zu gehören. Europas Ränder blieben stets unscharf. Und, ebenso wichtig: Ansätze zur Einigung umfassten immer nur gewisse Gebiete, nicht den ganzen Kontinent. Zugleich führte besonders der Kolonialismus dazu, dass Teile Europas engere Verbindungen zu außereuropäischen Gesellschaften hatten als zu anderen Gegenden des eigenen Kontinents. Europa ist deswegen kein vorgefundener Ort, sondern von Menschen gemacht – wobei die meisten Europäerinnen und Europäer die längste Zeit mit Europa nichts im Sinn hatten.

Erst angesichts der Erschütterungen des Ersten Weltkriegs begann die Idee europäischer Einigung langsam für breitere Kreise an Bedeutung zu gewinnen. Ins Zentrum rückten dabei Kooperationsideen, die sich auf Politik und Wirtschaft bezogen. Stärker als je zuvor vernetzten sich diejenigen, die für nichthegemoniale Vorstellungen europäischer Zusammenarbeit eintraten, nunmehr über Grenzen hinweg. Die Mobilisierungspotentiale und Partizipationschancen wiesen jedoch weiterhin enge Grenzen auf: Europa blieb ein Projekt der Eliten. Das gilt etwa für die Paneuropa-Union des Grafen Richard von Coudenhove-Kalergi. Seine Organisation arbeitete in den 1920er Jahren einerseits mit modernen, massentauglichen Symbolen und trat mit dem Anspruch auf, breit zu mobilisieren. Tatsächlich aber interessierte sich der Graf in erster Linie für Kontakte zu den Eliten aus Adel, Politik und Wirtschaft, und die Zahl der Mitglieder seiner Organisation belief sich international lediglich auf wenige tausend Menschen. Auf Europa setzte weiterhin nur eine kleine Minderheit.

Auch die Bemühungen auf politischer Spitzenebene kamen in der Zwischenkriegszeit nicht sehr weit. Am 5. September 1929 schlug der französische Außenminister Aristide Briand eine Vereinigung Europas vor, mit einer Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland als Kern. In Berlin wollte man davon wenig wissen – Außenminister Julius Curtius bemerkte zynisch, man werde Briands Vorschlag «ein Begräbnis erster Klasse» bescheren. Dabei war Curtius beileibe nicht der schlimmste Nationalist, den Deutschland damals zu bieten hatte. Im vergifteten politischen Klima der späten 1920er Jahre hatte der französische Vorstoß keine Chance, und das galt umso mehr, als wenige Wochen nach Briands Rede die Weltwirtschaftskrise ausbrach. Ökonomische Autarkie und aggressiver Nationalismus bestimmten fortan die internationale Politik Europas.

Das vorhandene proeuropäische Engagement, das auf Frieden und Versöhnung zielte, geriet so immer mehr an den Rand. Dagegen gelang es autoritären und rechtsextremen Bewegungen und Regimen, breite Bevölkerungsschichten zu mobilisieren. In manchen Ländern bedienten sie sich des Europabegriffs, wenngleich sie zumeist ihre eigene Nation über alles stellten. Sogar die Nationalsozialisten argumentierten phasenweise mit Europa – etwa wenn Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop im November 1941 die «Schicksalsverbundenheit» Deutschlands und seiner Verbündeten im Kampf gegen die Sowjetunion als «ein leuchtendes Beispiel der bereits vorhandenen und ständig wachsenden sittlichen Einheit Europas» pries. Mit gleichberechtigter Kooperation hatte dies nichts zu tun. Es handelte sich vielmehr um ein recht durchschaubares Werben um Verbündete, das noch an Bedeutung gewann, als Deutschland im Kriegsverlauf immer mehr die Felle davonschwammen. Hitler selbst hielt davon wenig. Das Regime setzte letztlich auf eine Politik, die Antisemitismus und Rassismus, Überlegenheitsdenken und Krieg in den Vordergrund stellte, und die NS-Europapropaganda blieb erfolglos. Zugleich erklärt sie, warum proeuropäische Floskeln nach 1945, gerade wenn sie aus Deutschland kamen, in anderen Ländern manchmal böse Erinnerungen weckten.

Im Zweiten Weltkrieg wurden gleichwohl auch ganz andere Stimmen laut. Für manche, wie den Schriftsteller Stefan Zweig, war Europa ein nostalgischer Sehnsuchtsort. Die «eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren», hielt er 1942 fest, zerstört durch die beiden Weltkriege. Zeitgleich formten sich innerhalb des Widerstands gegen Nationalsozialismus und Faschismus Gruppen, die über eine europäische Zukunft nachdachten. Für sie bildete Europa die Antwort auf die Krisen der zurückliegenden Jahrzehnte, in denen sich die bestehenden politischen Modelle delegitimiert hatten. Aktivisten wie der italienische Kommunist Altiero Spinelli hofften, die tabula rasa bei Kriegsende direkt für den Aufbau eines föderalen Europas jenseits der Nationalstaaten nutzen zu können. Europa blieb bis 1945 eine mögliche Zukunft – aber eine äußerst unwahrscheinliche.

2. Versuch und Irrtum

Am Anfang war also der Zweite Weltkrieg. Ohne ihn – ohne seine Zerstörungen, die Delegitimation übersteigerter Formen des Nationalismus, den Niedergang der europäischen Vormachtstellung in der Welt sowie die Furcht vor einer erneuten, von deutschem Boden ausgehenden Aggression – wäre europäischer Zusammenschluss nicht vom Reich des Denkbaren ins Reich des politisch Möglichen gewandert.

Und trotzdem blieb dieser Weg steinig. Die Hoffnungen von Föderalisten wie Spinelli, direkt nach Kriegsende zu einem vereinten, föderal aufgebauten Europa zu gelangen, blieben unerfüllt. Der Wiederaufbau der Nationalstaaten dominierte die politische Agenda, denn die...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2022
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Beck'sche Reihe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte 20. Jahrhundert • Außenpolitik • EG • Einführung • EU • Europa • Europäische Union • Geschichte • Integration • Politik • Sachbuch
ISBN-10 3-406-78497-6 / 3406784976
ISBN-13 978-3-406-78497-2 / 9783406784972
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