Die Jagd (eBook)
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61267-7 (ISBN)
Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ?Die Jagd? war ein ?Spiegel?-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.
Der Hauptsatz ist ein wichtiges Element der Exposition. Er bildet die Grundlage des folgenden Konflikts und der weiteren Entwicklung. Und während die Familie Slawin auf dem Sonnendeck liegt, trägt uns die Melodie in die Zukunft, wo wir erstmals das Motiv der Jagd hören.
Als die Grube fertig ausgehoben ist, lässt der Bagger den Pfahl hinab. In das frische Grab ergießt sich der Nebel wie Milch in eine Tasse. Ringsum Stille. Keine Häuser, keine Stromleitungen. Lakonische Unendlichkeit: dunkler Wald und graue Wolken.
Folgende Regeln: immer maximal zwei Hunde auf einmal. Der Bär ist mit einer Hinterpfote am Pfahl fixiert. Die Krallen sind ungeschliffen, die Eckzähne auch. Die Meute hat gewonnen, wenn Meister Petz auf dem Rücken liegt oder erwartungsgemäß verreckt.
»Blenden wir ihn doch wenigstens! Bei so viel Schonung zerfetzt uns der alle Hunde!«
»Nein!«
Der Chef ist dagegen. Regeln sind Regeln. Thermosflaschen in unseren Händen, in den beschlagenen Jeeps die Hunde. Zeit anzufangen.
Sie lassen das erste Paar los. Der Besitzer bleckt die Zähne, reibt sich die Hände, denkt, der Bär sei am Ende. Kretin. Er hat keine Ahnung, wozu ein gehetztes Tier fähig ist. Dabei hätte er es wissen können, denn der Gast ist Ermittler in besonders wichtigen Fällen. Mit Verhören kennt er sich wahrscheinlich besser aus.
Die Stille reißt ab. Die Hunde bellen, stürzen sich auf den Bären und weichen gleich wieder zurück. Krümmen die Rücken und knurren. Ihr Fell sträubt sich. Wir haben Gänsehaut. Nicht, dass wir das noch nie gesehen hätten, aber die ersten Minuten sind immer so. Überwältigend grausig. Das gefesselte Tier brüllt dumpf. Es stellt sich auf die Hinterbeine, kann aber nicht angreifen. Alles, was es heute tun kann, ist langsam und qualvoll zu sterben. Der Chef grinst.
Der Fleischwolf fängt an, sich zu drehen. Der Kampf nimmt Schwung auf. Die erste entzweigerissene Hündin jault auf. Blut spritzt, Gedärme quellen heraus. Die Eingeweide sind rosa, viel heller als das Blut. Wir lächeln, weil es so ein guter Teddy ist. Wir mögen dieses Tier – schade nur, dass es bald sterben wird. Vor den Mastiffs bitten wir sogar um seine Begnadigung, doch der Chef erlaubt es nicht …
Meister Petz wird gegen Mittag verscharrt. Für Präparatoren gibt es hier nichts mehr zu tun. Der Bär ist zerfetzt bis auf die Knochen. Irgendwie schade um ihn … War ein gutes Tier, eine Kämpfernatur …
Wir steigen wieder ins Auto, schalten das Radio ein. Lew Leschtschenko singt:
Langsam werden alle Tribünen leer,
Die Zeit der Wunder verhallt,
Lebe wohl, unser lieber Teddybär,
Kehr zurück in den Märchenwald.
Weine nicht, einmal lächle uns noch zu,
Denk an uns, wenn die Tage vergehen,
Dann werden auch unsere Träume wahr,
wünsch uns allen ein Wiedersehen.
In diesem Abschnitt lernen wir Mark Smyslow kennen, einen berühmten Cellisten, der uns dieses Musikstück vorspielt.
Über dem Bahnhof in der Stadt der Mode spannt sich eine dreihundertfünfzig Meter hohe Kuppel. Ein Machtsymbol des Mussolini-Regimes, das mit der Zeit eine an Schönheit grenzende Patina angenommen hat. Wir laufen den Bahnsteig entlang. Der Zug wird gleich losfahren. Ich mit Cello und Buch, Fjodor mit Koffer und einer Fünfliterflasche Wein, die sie hier Bambino nennen. Gott allein weiß, wofür er die braucht.
Der Freund hält kaum Schritt mit mir – schon auf dem Konservatorium hatte Fedja den Spitznamen Zentner. Schließlich rennt Fedja in mich hinein. Die Flasche fällt auf den Bahnsteig, und Rotwein ergießt sich über den Beton.
– Mark, ich kann nicht mehr! Ich fall gleich tot um! Ich bitte dich – gönn uns eine Pause!
– Ich hätte ja nichts dagegen – aber der Zug …
Mailand–Lugano. Nur eine Stunde Fahrt. Stichprobenartige Passkontrollen, ein Stückchen Comer See vor dem Fenster. Eine Herausforderung für das Gleichgewichtsorgan, wenn die Waggons sich auf Schweizer Territorium in den Kurven neigen.
Zentner plappert irgendetwas, ich schweige. Der Freund versucht vergeblich, ein Gespräch anzufangen. Keine Lust zu reden. Ich muss wieder daran denken, was mir mein Bruder erzählt hat, und reiche Fedja mein iPad. Fünf aufgerufene Seiten, fünf niederschmetternde Berichte. Ich lasse meinen letzten Auftritt in Lugano Revue passieren. Einen Monat ist es her, seit man mich die größte Enttäuschung des Jahres genannt hat. Die Kritiker fanden, ich sei überbewertet, Bach tue ihnen leid. Alle stimmten überein, die Sonate sei zu langsam, zu bedeutungsschwer und absolut planlos gespielt worden. Stimmt alles, nur ahnten die Kritiker wohl kaum, was sich an jenem Tag ereignet hatte.
Einige Takte, die uns an die Côte d’Azur zurückbringen.
Beim Sonnenbaden auf der Jacht denkt Alexander an Sébastien, einen jungen Angestellten des Chagall-Museums in Nizza. Sascha spürt, er ist verliebt. Vorige Woche hatte er im Wunsch, sich zu öffnen und das Objekt seiner Begierde zu beeindrucken, Sébastien in das Landhaus seiner Familie nahe Juan-les-Pins eingeladen. Er nahm seinen Gast an der Hand und zeigte ihm ein Bild von Chagall. Selbstverständlich das Original.
»Woher habt ihr den?«
»Hat Papa angeschleppt.«
»Ist dein Vater Sammler?«
»Nicht ganz – er war mit einem berühmten Politiker in der gleichen Klasse.«
»Ist das ein Beruf?«
»In Russland schon.«
»Und er kann sich solchen Luxus leisten?«
»Offiziell gehört das Bild Mama.«
»Was ist die von Beruf?«
Sascha spürte, dass die Wahrheit über seine Familie ihm wohl kaum Bonuspunkte verschaffen würde. Doch der Wunsch nach Ehrlichkeit gegenüber dem jungen Mann, der alle seine Matches besuchte, durchkreuzte alle weiteren Ausflüchte.
»Stell dir einen Urwald vor. Darin steht seit Sowjetzeiten ein Pflegeheim. Das Grundstück ist viel wert, aber die Alten kriegt man nicht so leicht weg. Man kann natürlich einen Brand vortäuschen, aber … Jedenfalls, da gibt es einen – übrigens wohnt er zwei Villen von uns entfernt –, der schickt sein treues Gefolge los, und die finden in dem Heim die Pest oder die Vogelgrippe. Die Institution, die ein halbes Jahrhundert bestanden hat, wird geschlossen. Die Alten und Invaliden müssen umziehen, das Gebäude wird abgerissen, der quasi infizierte Wald abgeholzt. An der Stelle des Hauses wird eine gewaltige Baugrube ausgehoben. Darin vergraben sie einen Riesenberg Müll – in unserem Land ist das Problem der Abfallentsorgung bis dato nicht gelöst. Dann wird die Erde nivelliert, und wo früher das Pflegeheim stand, auf der Müllhalde, werden Wohnhäuser für die Elite gebaut – der Wald steht übrigens unter Naturschutz. Meine Mama verdient bei jeder Etappe mit. Das ist eine ihrer vielen Einkommensquellen. Papa hat als Staatsbediensteter nicht das Recht, auf diese Art Geld zu machen. Jetzt weißt du, woher wir den Chagall haben.«
Sébastien, Mitglied der kommunistischen Partei Nizzas, reagiert nicht mehr auf Saschas Anrufe. Drei Tage schon. Sascha betrachtet die Wolken und denkt, mit der Wahrheit hätte er warten sollen. Die Wahrheit will nie jemand wissen, höchstens Menschen mit Gewissen, die keine Ahnung haben, wie man damit lebt. Die Wahrheit bringt nur Kummer. Sascha spürt, dass die Wahrheit immer zu viel ist.
Bei Sonnenuntergang kommen sie zu Hause an. Im Garten vibrieren Insekten. Wie der Behang einer Vogelscheuche klingeln Mutters goldene Armreifen im Wind. Lisa jammert, sie wolle nach Paris, Pawel steht vor dem Spiegel und stellt den Kragen mal auf, mal legt er ihn wieder um. Tolja hat den obersten Boss gekillt und steigt ins nächste Level auf. Sascha will nach Nizza, aber aus der ersehnten Aussprache mit dem Freund wird nichts – der Vater ruft an. Die Mutter hört ihm eine Minute lang zu, dann rollt über ihre bronzene Wange eine Träne.
»Sascha, lass unsere Sachen packen. Wir fahren nach Moskau, Vater möchte uns präsentieren.«
»Ich fahre aber nicht – ich hab ein Spiel!«
»Du fährst mit – Vater hat gesagt, er organisiert einen Transfer für dich …«
Der Moment, in dem erstmals in der Sonate die Stimme von Anton Quint erklingt, Journalist und frischgebackener Vater.
Anton betritt sein Arbeitszimmer, setzt sich an den Schreibtisch. Computer, Hefte, Figürchen von Dalí und Picasso, die er aus San Sebastián mitgebracht hat – alles kommt ihm neu und seltsam vor. Erst jetzt bemerkt er, dass er noch immer die Überzieher aus dem Geburtshaus an den Schuhen trägt. Anton schüttelt den Kopf über seine eigene Zerstreutheit. Er klappt den Laptop auf und tippt:
Das ist mein erster Text, den ich...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2022 |
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Übersetzer | Ruth Altenhofer |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Trawlja |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Bären • Beichte • Belarus • Cellist • Doppelmoral • Fake News • Fußballer • Geheimdienst • Hetzjagd • Integrität • Journalist • Kindstod • Korruption • Machtmissbrauch • Moskau • Oligarch • Opposition • Paranoia • Politische Satire • Regime • Repression • Rufmord • Russische Literatur • Skrupellosigkeit • Thriller • Verzweiflung • Wahnsinn • Zensur • Zynismus |
ISBN-10 | 3-257-61267-2 / 3257612672 |
ISBN-13 | 978-3-257-61267-7 / 9783257612677 |
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