In einer stillen Bucht (eBook)
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61280-6 (ISBN)
Luca Ventura ist ein Pseudonym. Der Autor lebt am Golf von Neapel, wo er derzeit am nächsten Fall der Capri-Serie um den Inselpolizisten Enrico Rizzi und dessen norditalienische Kollegin Antonia Cirillo schreibt.
Die Orgel war zu hören. Der Klangteppich kam aus dem offenen Kirchenportal gerollt, hinaus auf die Piazzetta mit ihren Sonnenschirmen und Markisen und dem Mäuerchen, wo Enrico Rizzi seine Vespa parkte. Strenggenommen war die Stelle kein Parkplatz, und Rizzi selbst verteilte gerade hier immer wieder Strafzettel an Leute, die sich nicht daran hielten, es waren immer dieselben, und bezahlt wurden diese Strafzettel nie.
Er verstaute den Helm im Sattel, eilte die Stufen hinauf und betrat die Kirche Santo Stefano. Padre Ivano setzte gerade dazu an, das Kreuz zu schlagen, und wie er da stand mit den ausgebreiteten Armen, in seinem Gewand mit den goldenen Stickereien und dem kleinen Kopf obendrauf, erinnerte er an eine Fledermaus – wenn auch an eine sehr prächtige. Rizzi nahm seine Sonnenbrille ab, bekreuzigte sich und setzte sich in die hinterste Bank neben seinen besten Freund Alberto, der bereitwillig ein Stück zur Seite rückte.
Die alte Beatrice – nun hatte sie es also geschafft. Der Herrgott hatte sie heimgeholt, wie Padre Ivano über Mikrofon in einer Lautstärke verkündete, die auch jene wachrüttelte, die hier im Dämmerlicht gerne mal ein Schläfchen hielten. Die meisten Anwesenden dachten in diesem Moment wohl auch an die Zwillingsschwester von Beatrice, die alte Clarissa, die schon vor zwei Jahren gestorben war. Man konnte nur hoffen, dass die beiden Schwestern, die zu Lebzeiten unzertrennlich gewesen waren, nun im Tode wiedervereint sein würden.
»Kommst du heute Abend zur Probe?«, fragte Alberto halblaut.
»Heute Abend?« Rizzi streckte seine Beine aus, so weit es möglich war, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mal schauen. Ich versuch’s.«
»Was ist los mit dir?«, wollte Alberto wissen.
Rizzi sah seine Eltern in der dritten Reihe sitzen, die schwarze Haarpracht seiner Mutter, die an eine Mütze erinnerte, und den eisgrauen Schopf seines Vaters. Ein Hund stromerte geschäftig durch den Mittelgang und drehte am Altar schnüffelnd nach rechts ab.
»Ich muss mich heute auf jeden Fall noch um die Elektrik kümmern«, sagte Rizzi. »Mit dem Scheibenwischer stimmt etwas nicht. Einmal wischen – und er bleibt stehen, wie eingefroren.«
Alberto seufzte. »Mach, was du willst, aber wir sind auf dich angewiesen. Ohne deine Trompete wird es ein bisschen dünn – zumal Giuseppe schon gesagt hat, dass er mit seiner Alten ausgerechnet am zwanzigsten nach Syrakus fährt. Stell dir das mal vor: Giuseppe mit seiner Alten in Syrakus.«
»Keine Sorge«, sagte Rizzi, »bis zu Edoardos Geburtstag haben wir noch zehnmal geprobt.«
»Denk dran, es ist sein Siebzigster.«
Padre Ivano stimmte das Lodato sia il mio Signore an, die Gemeinde fiel schleppend ein, und Rizzi ließ, während er aus voller Kehle sang, seinen Blick schweifen. Beatrice auf dem Foto neben ihrem Sarg sah genauso aus, wie man sie die meiste Zeit gekannt hatte und in Erinnerung behalten würde: weise und voller Güte. Die unangenehmen Charaktereigenschaften, das Bösartige und dass sie Leute beschimpfte, die es nur gut mit ihr meinten, waren erst in den letzten beiden Jahren hervorgetreten, genauer gesagt, nach dem Tod ihrer Schwester. Rizzi wünschte, er hätte sie vergangene Woche nicht so eilig abgefertigt. Aber wer konnte schon ahnen, dass sie nie wieder auf die Wache getippelt kommen würde mit der Namensliste all jener, die ihr angeblich Schmuck und Bargeld geklaut hatten?
Aber Padre Ivano fand wie gewohnt viele schöne Worte für die alte Nervensäge, und das war auch gut so. Strich vor allem Beatrices Gottesfürchtigkeit heraus und die Zuverlässigkeit und Sorgfalt, mit der sie sich um die Gesangsbücher in der Kirche gekümmert hatte, die immer ordentlich und in ausreichender Zahl bereitlagen, und viele, vor allem die Älteren in der Kirche, nickten zustimmend.
Aber woran wohl die meisten dachten und worüber Padre Ivano natürlich kein Wort verlor, war die Frage, was nun, nach Beatrices Tod, aus dem Haus der Benzoni-Schwestern in der Via Madre Serafina werden würde. Die Frauen hatten keine Geschwister, keine Kinder, keinen Mann, und das Haus, das ihr Großvater noch mit eigenen Händen gebaut hatte, war inzwischen, wie alle Häuser an der Straße, aufgrund der Lage Millionen wert. Man musste allerdings kein Hellseher sein, um zu erraten, was mit dem Haus passieren würde. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn die Schwestern ihr Haus nicht der Kirche vermacht hätten und darin eine Anerkennung sahen für alles, was Padre Ivano in all den Jahren für sie und ganz Capri getan hatte.
Und war er nicht tatsächlich immer zur Stelle gewesen, hatte mit ihnen regelmäßig gegessen und sie in vielen, nicht bloß den finanziellen Dingen beraten? Da war es nur gerecht, wenn die Kirche das Haus künftig nutzte und – wer weiß? – Padre Ivano sich dort seinen Alterssitz einrichtete und den freien Blick aufs Meer genoss, den man vom Wohnzimmer aus hatte.
Padre Ivano breitete die Arme aus für den Segen, und alle standen von ihren Bänken auf. Salvatore liefen die Tränen über die Wangen, als der Sarg angehoben wurde. Dem Straßenkehrer würden die Benzoni-Schwestern wohl wirklich fehlen – wie sie eingehakt, in kleinen Schritten, über die Piazzetta liefen und alle paar Meter anhielten, um auch mit ihm einen Schwatz zu halten, der über das übliche »Wie geht’s, alles gut?« hinausging. Und plötzlich fühlte auch Rizzi, dass die Benzoni-Schwestern eine Lücke hinterließen und dass Capri wieder um eine Farbe ärmer geworden war.
Man reichte einander die Hände, gedachte dabei der Verstorbenen und folgte dem Sarg aus der Kirche. Die Sonne blendete, und die Lilien auf dem Sarg nickten bei jedem Schritt, wie auch Beatrice zeit ihres Lebens immerfort genickt hatte.
Rizzi trat auf die Seite, um Platz für die Leute zu machen, den Trauerzug, der sich Richtung Friedhof in Bewegung setzte. Fortunata Parisi schluchzte, und Rizzi nahm sie in den Arm, während Giuseppe Ruffini tröstend bemerkte, der Abgang der alten Beatrice sei doch genau so, wie man ihn sich auch für sich selbst wünschte: abends in die Klappe gehen, einschlafen und morgens nicht mehr aufwachen.
Auf dem Weg zur Vespa schaltete Rizzi sein Telefon ein, sah in den Augenwinkeln die Tauben aufflattern und eine schlanke Gestalt in Uniform, die sich von der Via Roma näherte. Antonia Cirillo winkte.
»Ich weiß, du hast heute deinen freien Tag«, rief seine Kollegin schon von Weitem. »Aber eben ist ein Notruf eingegangen.«
Rizzi schaute hinauf zum Uhrenturm, wo in diesem Moment der große Zeiger zum kleinen auf die Zwölf rückte, ohne dass die Glocken zu bimmeln begannen, ein technischer Defekt. »Was ist passiert?«, fragte er, klappte den Sattel hoch und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
»Die Guardia Costiera weiß schon Bescheid und wartet in Marina Grande.« Cirillo trat näher. »Der Anrufer war ziemlich außer sich. Er behauptet« – sie dämpfte ihre Stimme –, »in Cala del fico liege ein Koffer und es sehe so aus, als ob sich darin ein Mensch befinde.«
»Ein Mensch?«, wiederholte Rizzi ungläubig.
»Er sagt, ein Bein wäre zu erkennen.«
Auf der Fahrt mit dem Motorroller nach Marina Grande klammerte Cirillo sich hinten an Rizzi fest und schrie ihm ins Ohr, was sie wusste. Der Anrufer, ein gewisser Marcello Perasole, sei ganz außer sich gewesen und habe immer wieder gefragt, was er tun solle, er habe das Boot voller Leute. Sie habe zuerst überhaupt nicht verstanden, wovon er sprach, und auch nicht, wo genau er sich befand. »Cala del fico!«, habe er immer wieder gebrüllt, aber sie kannte die Bucht nicht.
Sie legte sich im Kreisverkehr mit Rizzi in die Kurve und rief in den Fahrtwind, sie habe den Mann nicht beruhigen können und ihm schließlich nur noch eingeschärft, er solle sich bis zum Eintreffen der Polizei nicht von der Stelle rühren. Als sie dann Ispettore Lombardi bei seinem Termin auf dem Festland nicht erreichen konnte und auch Rizzis Telefon ausgeschaltet war, sei sie heilfroh gewesen, als Teresa Villa einfiel, er sei höchstwahrscheinlich auf der Beerdigung der alten Beatrice.
Rizzi beschleunigte auf dem letzten Stück und fuhr mit siebzig Sachen die abschüssige Via Marina Grande hinunter.
Was Cirillo nicht wissen konnte und Teresa Villa ihr in der Eile wohl nicht erklärt hatte: Der Anrufer, Marcello Perasole, war der Sohn des mittlerweile auch schon verstorbenen Fischers Vittorio Perasole und hatte den Kutter seines Vaters so umgebaut, dass er damit nicht mehr zum Fischfang rausfuhr, sondern Inselumrundungen für Touristen machte, womit er wahrscheinlich in einem Sommer hundertmal mehr verdiente als der Vater seinerzeit mit dem Fischfang über das ganze Jahr. Marcello Perasole gehörte mit den anderen Männern seiner Zunft zu den Menschen, die den Blick von außen auf die Insel hatten und denen dadurch fast schon so eine Art Wächterfunktion zukam. Sie meldeten regelmäßig, wenn sie etwas an der Küste und den Steilhängen sahen, das da nicht hingehörte. Das war in erster Linie Müll, den manche Leute über die Klippen entsorgten.
Rizzi hupte, und die Leute auf der Piazza Vittoria, die zwischen Mole, Ticketschaltern, funicolare und den Bars kreuzten, sprangen zur Seite. Auf der Via Cristoforo Colombo gab er noch einmal Gas und hielt an der Mole, wo das Polizeischiff lag und Giorgio Schifino mit laufendem Motor wartete. Kaum hatte Rizzi die Helme verstaut und war mit Cirillo an Bord gegangen, holte der Kollege die Brücke ein.
»Wetten«, sagte Schifino, als Rizzi sich...
Erscheint lt. Verlag | 23.3.2022 |
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Reihe/Serie | Der Capri-Krimi | Der Capri-Krimi |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alternativmedizin • Capri • Capri-Krimi • Cosy Crime • Dolce Vita • Enrico Rizzi und Antonia Cirillo • Garten • Golf von Neapel • Harfe • Italien • Italienische Küche • Kriminalroman • Meer • Musik • Musiktherapie • Stradivari |
ISBN-10 | 3-257-61280-X / 325761280X |
ISBN-13 | 978-3-257-61280-6 / 9783257612806 |
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