Kalt wie dein Herz (eBook)
512 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61282-0 (ISBN)
Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, hat bisher 14 Romane veröffentlicht, vier davon wurden verfilmt, darunter die Weltbestseller ?Shutter Island? und ?Mystic River?. Lehane unterrichtete Kreatives Schreiben unter anderem an der Harvard University und ist erfolgreicher Produzent und Drehbuchautor, zuletzt für die Apple-TV+-Serie ?In with the Devil?. Dennis Lehane lebt in Südkalifornien.
Als ich Karen Nichols das erste Mal begegnete, kam sie mir vor wie eine Frau, die sogar ihre Socken bügelt.
Sie war blond und zierlich und stieg aus einem neuen irischgrünen VW Beetle, als Bubba und ich gerade mit unseren Morgenkaffees in der Hand die Straße zur St. Bartholomew’s Church überquerten. Es war Februar, doch in diesem Jahr hatte der Winter seinen Einsatz verpasst. Bis auf einen kräftigen Schneeeinbruch und ein paar Tage mit eisigen Temperaturen war es fast mild gewesen. Heute waren es über fünf Grad Celsius, und das am Vormittag. Man kann ja über die Erderwärmung sagen, was man will, aber solange ich nicht Schnee schippen muss, habe ich nichts dagegen.
Karen Nichols beschirmte sich die Augen gegen die Morgensonne und lächelte mich unsicher an.
»Mr. Kenzie?«
Ich schenkte ihr mein allerbravstes »Ich habe den Teller leer gegessen und liebe meine Ma«-Lächeln und hielt ihr die Hand hin. »Miss Nichols?«
Aus einem unerfindlichen Grund lachte sie. »Karen. Ich bin früh dran.«
Sie nahm meine Hand. Ihre fühlte sich so geschmeidig und weich an, als würde sie in einem Seidenhandschuh stecken. »Ich bin Patrick. Das ist Mr. Rogowski.«
Bubba brummte und trank von seinem Kaffee.
Karen Nichols ließ schnell meine Hand los. Wahrscheinlich hatte sie Angst, sie auch Bubba geben zu müssen. Und sie möglicherweise nicht wiederzubekommen.
Sie trug eine braune Wildlederjacke, die ihr bis zum Oberschenkel reichte, darunter einen dunkelgrauen Strickpulli, makellose Bluejeans und strahlend weiße Reeboks. Alles an ihrer Aufmachung machte den Eindruck, als gäbe es in der Welt keine Falten, Flecken oder Staubflusen.
Sie legte sich ihre zarten Finger an den glatten Hals.
»Zwei echte Privatdetektive. Wow.« Wieder lachte sie. Ihre Stupsnase kräuselte sich, und Lachfältchen bildeten sich um ihre sanften blauen Augen.
»Ich bin der Privatdetektiv«, entgegnete ich. »Er hängt hier nur mit mir rum.«
Bubba brummte wieder und verpasste mir einen Tritt in den Hintern.
»Sitz, Junge«, befahl ich. »Bei Fuß.«
Bubba trank seinen Kaffee.
Karen Nichols machte ein Gesicht, als würde sie es bereuen, hergekommen zu sein. Ich entschied, sie nicht mit in mein Büro im Glockenturm zu nehmen. Wenn jemand unsicher war, mich anzuheuern, dann war der Glockenturm erfahrungsgemäß nicht gerade die beste PR.
Es war Samstag, keine Schule, also gingen Karen Nichols, Bubba und ich zu einer Bank auf dem Schulhof hinüber.
Ich setzte mich. Karen Nichols benutzte ein blütenweißes Taschentuch, um die Bank abzuwischen, und setzte sich dazu.
Stirnrunzelnd betrachtete Bubba erst die Bank, sah mich dann an, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden vor uns und schaute erwartungsvoll hoch.
»Braver Hund«, sagte ich.
Bubba warf mir einen Blick zu, der deutlich verriet, dass ich dafür bezahlen würde, sobald wir nicht mehr in feiner Gesellschaft waren.
»Miss Nichols«, sagte ich, »wie haben Sie von mir erfahren?«
Sie löste den Blick von Bubba und sah mich mit großen Augen völlig verwirrt an. Ihre Frisur erinnerte mich an Bilder aus dem Berlin der Zwanziger. Das kurze blonde Haar lag glatt am Kopf an und war hinter dem linken Ohr mit einer schwarzen Spange mit einem aufgemalten Skarabäus fixiert, dabei würde es sich nicht mal hinter einem Flugzeugtriebwerk bewegen.
Dann klärte sich ihr Blick, und sie gab wieder dieses kurze nervöse Lachen von sich. »Von meinem Freund.«
»Und der heißt …«, fragte ich und tippte auf Tad, Ty oder Hunter.
»David Wetterau.«
So viel zu meinen hellseherischen Fähigkeiten. »Tut mir leid, der Name sagt mir nichts.«
»Er hat jemanden getroffen, der mal mit Ihnen zusammengearbeitet hat. Eine Frau?«
Bubba hob den Kopf und sah mich wütend an. Er gab mir allein die Schuld dafür, dass Angie unsere Partnerschaft aufgekündigt hatte, dass sie weggezogen war, sich einen Honda gekauft hatte, Hosenanzüge von Anne Klein trug und mit uns nichts mehr zu tun haben wollte.
»Angela Gennaro?«, fragte ich Karen Nichols.
»Ja.« Sie lächelte. »So heißt sie.«
Bubba brummte erneut. Nicht mehr lange, und er würde den Mond anheulen.
»Und wozu brauchen Sie einen Privatdetektiv, Miss Nichols?«
»Karen, bitte.« Sie drehte sich zu mir um und strich sich eine imaginäre Haarsträhne hinters Ohr.
»Karen. Wozu brauchen Sie einen Detektiv?«
Sie lächelte traurig und senkte kurz den Blick zu Boden. »Es gibt da einen Mann in meinem Fitnessstudio …«
Ich nickte.
Sie schluckte. Sie hatte wohl gehofft, dass ich alles Weitere aus dem einen Satz ableiten würde. Mit Sicherheit würde sie mir gleich etwas Unangenehmes erzählen. Mit noch größerer Sicherheit war sie bislang eher selten mit unangenehmen Dingen konfrontiert worden.
»Er hat sich an mich rangemacht und ist mir bis auf den Parkplatz gefolgt. Zu Anfang war das einfach nur … na ja, unangenehm.« Sie hob den Kopf und sah mich verständnisheischend an. »Doch dann wurde es immer schlimmer. Er fing an, mich zu Hause anzurufen. Im Fitnessstudio ging ich ihm möglichst aus dem Weg, trotzdem habe ich ihn ein paarmal in seinem Auto vor meinem Haus gesehen. Schließlich hatte David genug davon, er ist rausgegangen und hat ihn zur Rede gestellt. Doch der Mann hat alles abgestritten und David bedroht.« Sie blinzelte und rang die Hände. »David macht körperlich nicht gerade viel her.«
Ich nickte.
»Cody – so heißt er, Cody Falk – hat David nur ausgelacht und mich am selben Abend schon wieder angerufen.«
Cody. Ich hasste ihn schon aus Prinzip.
»Er rief an und sagte, er wisse doch, wie sehr ich es wolle und dass ich wahrscheinlich noch nie so richtig gut, gut …«
»Gefickt«, sagte Bubba.
Sie zuckte zusammen, warf ihm einen Blick zu und sah dann schnell wieder mich an. »Ja. Noch nie im Leben richtig … na ja. Und er wisse, dass ich es mir heimlich wünschen würde. Ich habe ihm folgende Notiz hinter den Scheibenwischer geklemmt. Ich weiß, das war dumm von mir, aber … Ich habe es eben getan.«
Sie griff in ihre Handtasche und zog ein verknittertes Stück violettes Papier heraus. Mit makelloser Handschrift hatte sie geschrieben:
Mr. Falk,
lassen Sie mich bitte in Frieden.
Karen Nichols
»Als ich das nächste Mal im Fitnessstudio war«, fuhr sie fort, »kam ich zum Auto zurück, und er hatte mir den Zettel genau so hinter den Scheibenwischer geklemmt wie ich bei ihm. Wenn Sie ihn umdrehen, Mr. Kenzie, dann sehen Sie, was er geschrieben hat.« Sie deutete auf das Stück Papier in meiner Hand.
Ich drehte ihn um. Cody Falk hatte auf die Rückseite ein einziges Wort geschrieben:
Nein.
So langsam wurde mir dieser Mistkerl richtig unsympathisch.
»Und gestern«, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie schluckte ein paarmal, und ich sah den Puls an ihrem weichen weißen Hals zittern.
Ich legte meine Hand auf ihre, und sie griff danach.
»Was hat er getan?«, fragte ich.
Sie atmete vernehmlich ein. »Er hat mutwillig mein Auto beschädigt.«
Bubba und ich schauten uns den glänzend grünen Beetle am Schulhoftor zweimal an. Er sah aus wie frisch vom Autohändler und roch innendrin wahrscheinlich wie neu.
»Den Wagen da?«, fragte ich.
»Was?« Sie folgte meinem Blick. »Oh, nein, nein. Das ist Davids Auto.«
»Ein Kerl?«, fragte Bubba. »Ein Kerl fährt so ein Auto?«
Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf.
Bubba schaute finster, sah auf seine Kampfstiefel und zog sie sich auf die Knie.
Karen schüttelte den Kopf, als wolle sie sich sammeln. »Ich fahre einen Corolla. Ich wollte gern einen Camry, aber den konnten wir uns nicht leisten. David hat eine neue Firma gegründet und wir beide müssen noch unsere Studiendarlehen abzahlen, deshalb bekam ich einen Corolla. Doch der ist jetzt hin. Er hat Säure darübergekippt. Er hat den Kühler durchlöchert. Und die Autowerkstatt meint, er habe Sirup in den Motor geschüttet.«
»Haben Sie es der Polizei gemeldet?«
Sie nickte und zitterte am ganzen Leib. »Es gibt keinen Beweis dafür, dass er es war. Er hat der Polizei gesagt, er sei in der Nacht im Kino gewesen, und es gibt Zeugen, die ihn dort gesehen haben. Er …« Ihr Gesicht fiel in sich zusammen, und sie wurde rot. »Sie können ihm nichts nachweisen, und die Versicherung kommt für den Schaden nicht auf.«
Bubba hob den Kopf, legte ihn schräg und sah mich an.
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Weil sie meine letzte Zahlung nicht erhalten haben. Dabei habe ich … ich habe sie beglichen. Vor über drei Wochen. Sie sagen, sie hätten eine Mahnung geschickt, aber die habe ich nie erhalten. Und, und …« Sie ließ den Kopf sinken, und Tränen fielen ihr auf die Knie.
Ich war mir ziemlich sicher, dass sie einen Haufen Stofftiere daheim hatte. An ihrem kaputten Corolla klebte entweder ein Smiley oder ein Jesus-Fisch. Sie las die Romane von John Grisham, hörte sich Soft-Rock an, liebte Brautpartys und hatte noch nie einen Film von Spike Lee gesehen.
Und sie hatte ganz gewiss nicht damit gerechnet, dass ihr jemals so etwas zustoßen würde.
»Karen«, fragte ich leise, »wo sind Sie denn versichert?«
Sie hob den Kopf und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort. »State...
Erscheint lt. Verlag | 25.5.2022 |
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Reihe/Serie | Kenzie & Gennaro | Kenzie & Gennaro |
Übersetzer | Peter Torberg |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Prayers For Rain |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Boston • Detektiv • Gennaro • Kenzie • Mord • Mystic River • Noir • Prostitution • Psychothriller • Serie • Shutter Island • Spannung • Stalking • Thriller |
ISBN-10 | 3-257-61282-6 / 3257612826 |
ISBN-13 | 978-3-257-61282-0 / 9783257612820 |
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