Morgen kann kommen (eBook)
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01166-3 (ISBN)
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Bücher sind Nummer-1-Bestseller, wurden mehr als sieben Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ildikó von Kürthy ist Gastgeberin des Podcasts «Frauenstimmen», sie berichtet auf Facebook und Instagram über Wichtiges und Nichtiges und schreibt einen regelmäßigen Newsletter. Neuigkeiten und aktuelle Tourdaten auf: www.ildikovonkuerthy.de
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Bücher sind Nummer-1-Bestseller, wurden mehr als sieben Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ildikó von Kürthy ist Gastgeberin des Podcasts «Frauenstimmen», sie berichtet auf Facebook und Instagram über Wichtiges und Nichtiges und schreibt einen regelmäßigen Newsletter. Neuigkeiten und aktuelle Tourdaten auf: www.ildikovonkuerthy.de
Ruth
Ich stehe im Drogeriemarkt zwischen den Fotoecken, den Handseifen und den Haarfärbeprodukten mit einhundertprozentiger Grauabdeckung und strahlender Farbintensität, als ich beschließe, wieder glücklich zu werden. Oder wenigstens glücklicher. Ich sehe mich um, beschwingt von meiner Entscheidung und von der Banalität meiner Umgebung, die in angenehmem Kontrast zu meiner gloriosen inneren Verfassung steht.
Ich hatte mir seit Wochen leidgetan, mit meinem unglücklichen Los gehadert und mich vor diesem Tag gefürchtet. Mein einundfünfzigster Geburtstag und mein fünfzehnter Hochzeitstag. Meine Angst vor diesem schwarzen Doppeljubiläum war so groß gewesen, ich hatte so viele Nächte wach gelegen, so viele Stunden geweint, dass ich heute Morgen beim Aufwachen lieber sofort liegen geblieben war. Ich hatte vor, den Tag reglos unter meiner Decke zu verbringen, zu versuchen, ihn zu ignorieren, und darauf zu hoffen, dass er mich ebenfalls einfach übersehen würde. Erst gegen Mittag hatte ich erstaunt festgestellt, dass alle Angst aufgebraucht und für das Ereignis selbst keine mehr übrig geblieben war.
Es war wie bei meinem Bio-Referat über den Zitronensäurezyklus in der zehnten Klasse. Ich hatte mich von dem Tag an davor gefürchtet, als mich unsere Biologielehrerin Frau Opitz mit strengem Blick dafür ausgewählt hatte. Ich wollte die Schule wechseln, ausreißen oder wahlweise sterben. Und als ich endlich, schlotternd, von wochenlanger Furcht gezeichnet und einem Nervenzusammenbruch nahe, vor die Klasse trat, sagte ich: «Der Citratzyklus ist ein Teil der Atmungskette von Pflanzen und Tieren, bei der Energie durch den Abbau von organischen Substanzen bereitgestellt wird.» Und nichts geschah. Die Erde tat sich nicht auf, um mich zu verschlucken, meine Mitschüler lachten mich nicht aus, da sie sich für meinen Vortrag nicht interessierten, und Frau Opitz war an dem Tag krank, und der Vertretungslehrer, der normalerweise Kunst und Pädagogik unterrichtete, gab mir, wohl eher aus Unkenntnis als aus Wertschätzung, eine Eins.
Damals lernte ich, dass Vorfurcht die schlimmste Furcht ist. Ihr helles Pendant ist die Vorfreude, die ebenfalls oft größer ist und länger dauert als das freudige Ereignis selbst. Was ich leider nicht lernte, war, wie es gelingen kann, sich die Angst für den Moment aufzusparen, wo man sie zu Recht hat. «Wir überqueren die Brücke dann, wenn wir sie erreichen», hatte mein Vater oft gesagt, wenn es mir bereits im Herbst vor den Bundesjugendspielen im Sommer gruselte. Er hoffte, mich dadurch zu beruhigen. Das misslang zuverlässig.
Den Buchtitel Sorge dich nicht – lebe! habe ich stets als Verhöhnung meines komplexen Charakters empfunden, da die Sorgen für mich zum Leben gehören wie Wolken am Himmel, Krümel im Bett oder Kopfweh nach einigen Wodka Lemon. Und ich kenne eigentlich keine Frau, die sich durch die beschämende Schlichtheit von Songs wie Don’t Worry, Be Happy nicht in ihrer vielfältigen Weiblichkeit abgewertet fühlt.
Würde ich so weit gehen zu behaupten, dass ich mir gerne Sorgen mache? Darüber muss ich nachdenken, aber für ausgeschlossen halte ich es nicht. Was wäre ich ohne meine Sorgen? Eine öde Geschichte, ein Kardiogramm ohne Ausschläge, ein Jahr ohne Jahreszeiten. Jedenfalls würde mich ein Buch mit dem Titel Sorge dich – lebe! wesentlich mehr ansprechen.
Manchmal beneide ich natürlich jene stoischen Gemüter, die sich nur die Sorgen machen, die sich zu machen lohnen, und nur die Gefühle fühlen, für die es einen entsprechenden und zeitnahen Anlass gibt. Aber ich hätte völlig umsonst mehrere Tausend Euro in ein jahrelanges Coaching investiert, wenn ich immer noch glauben würde, in mir verberge sich eine Frau, die die Brücke erst dann überquert, wenn sie sie erreicht.
Ich hatte dem heutigen Schreckensdatum also mit entsprechendem Schrecken entgegengesehen, dann aber bis zum Nachmittag einen geradezu leidenschaftlichen Tatendrang und das dringende Bedürfnis entwickelt, meine Haare umzufärben, meinen ganzheitlich orientierten Personal-Life-Coach Carlos Weber-Stemmle um einen Notfalltermin zu bitten und mein Leben und meinen Mann zurückzuerobern. In genau dieser Reihenfolge. Ich würde nicht zulassen, dass dieses Datum ein Datum des für immer konservierten Grauens und dass die kommenden Monate verlorene werden würden. Ich würde mir meine kostbare Zeit nicht vom Schicksal stehlen lassen. Und auch nicht von sonst jemandem.
«Ruth Westphal geht mutig ihren eigenen Weg.» Ich hatte gelesen, dass man sich mit vollem Namen ansprechen soll, wenn man von sich selbst ernst genommen werden möchte.
Vom Hochgefühl der kommenden Veränderung beflügelt, schwebe ich eilig durch den warmen Mairegen zum nächstgelegenen Drogeriemarkt. Ich würde die Weichen für meine Zukunft stellen und mich über die neuesten Trends auf dem Haarfarbenmarkt informieren. Das letzte Jahr hatte mich diesbezüglich gezeichnet, und der Grauschleier, der sich über mein Leben gelegt hatte, hatte auch vor meinem Haaransatz nicht haltgemacht. Ein halbes Jahrhundert lang war ich honigblond und von schlanker Gestalt gewesen. Beides war zugegebenermaßen vom Schöpfungsplan her ursprünglich anders vorgesehen, denn ich war ein moppeliges Kind mit einem tristen Naturton gewesen. Aber dank Farbe und Ernährungsdisziplin musste ich mich mit meinem eigentlichen Selbst nie anfreunden.
Dem global anerkannten Leitsatz «Liebe dich so, wie du bist!» hätte ich nicht zu widersprechen gewagt, ihm still jedoch einige Fußnoten hinzugefügt. Ja, ich liebe mich so, wie ich bin. Es sei denn, ich fühle mich gerade mal wieder durch eine Nichtigkeit nachhaltig gekränkt. Oder ich will mich in großer Runde über die populistischen Thesen der AFD ereifern und nenne sie versehentlich PDF. Oder ich gerate in Panik, statt einen kühlen Kopf zu bewahren, und verschlimmere meine Situation dadurch noch. Oder ich breche meine Meditation nach wenigen Minuten ab, weil mir in meinem Gedankenkarussell schwindelig wird. Oder ich esse ein zweites und ein drittes Stück Kuchen. Oder ich entdecke am Haaransatz erste Anzeichen der Person, die ich eigentlich wäre, wenn ich mich nicht vor Urzeiten für eine blonde Version von mir entschieden hätte. Meine Selbstliebe ist – das gebe ich zu, natürlich nicht öffentlich oder in meiner Meditationsgruppe – an gewisse Bedingungen geknüpft. Die Zusammenrottungen grauer Haare auf meinem Kopf empfinde ich als inakzeptabel, und ich werde mich ihnen mit putinhafter Null-Toleranz und einer Packung Brond-Blond entgegenstellen. Ich werde in die Schlacht ziehen und will dabei nicht aussehen wie ein Schlachtfeld. Heute ist mein einundfünfzigster Geburtstag, und das Letzte, was ich in meinem fragilen Zustand will, ist, so alt auszusehen, wie ich bin und wie ich mich fühle.
Schon mein Fünfzigster war nicht meinen Vorstellungen entsprechend verlaufen. Ich hatte mit meinem Mann und meiner Schwiegermutter feiern müssen. Ein Candle-Light-Dinner in ihrem Pflegeheim. Schonkost. Von 17 Uhr 30 bis 19 Uhr 30, um den Betrieb nicht durcheinanderzubringen. Mein Mann hatte darauf bestanden mit dem Hinweis, dass es womöglich der letzte meiner Geburtstage sein könnte, den ich mit seiner Mutter würde feiern können.
«Rechnest du im nächsten Jahr mit meinem Ableben?», hatte ich mit fröhlichem Sarkasmus gefragt, aber der Scherz war auf taube Ohren gestoßen. Mein Mann liebt seine eigenen Witze und seine Mutter über alles, und ich möchte weiß Gott nicht hartherzig klingen, aber den Satz «Vielleicht ist es das letzte Mal» habe ich in zwanzig Jahren an jedem Geburtstag, jedem Weihnachten und meist auch an Ostern und Silvester gehört, es sei denn, wir waren im Skiurlaub.
Irgendwann hatte ich die Hoffnung aufgegeben, in diesem Leben noch mal ein Fest ohne meine zänkische Schwiegermutter zu feiern, der ich für ihren Sohn nicht gut genug war und die keine Gelegenheit ausließ, mich darauf hinzuweisen. Obwohl sie ständig krank und unleidlich war, hatte sie sich als außerordentlich zähe Kreatur erwiesen. Dass meine Schwiegermutter dann ausgerechnet am Abend meines fünfzigsten Geburtstags mit fünfundneunzig Jahren sanft entschlafen war, hatte irgendwie ein ungünstiges Licht auf mich und mein rundes Jubiläum geworfen. Mein Mann hatte sich von diesem Schicksalsschlag nicht richtig erholt, und ich werde den heutigen Geburtstag nicht nur ohne Schwiegermutter, sondern auch ohne Mann feiern. Er befindet sich in einer Auszeit, angeblich, um sich selbst zu finden. Was aber, wenn er eigentlich etwas ganz anderes sucht? Diesen Gedanken schiebe ich energisch beiseite. Dieser 15. Mai wird unvergesslich werden.
Ich hatte ja keine Ahnung, wie recht ich behalten sollte.
Eine mollige Frau drängt sich an mir vorbei, streift mich mit ihrem Einkaufskorb und murmelt eine Entschuldigung. Ich blicke nicht auf. «Brond-Blond», so entnehme ich dem Herstellerhinweis auf der Packung, «ist die neue Trendfarbe, die durch Jessica Alba, Giselle Bündchen und Jennifer Aniston an Bedeutung gewonnen hat. Es handelt sich um einen hypnotisierenden Look, eine Mischung aus Wagnis und Dezenz. Brond-Blond schmeichelt jedem Hauttyp und macht aus seiner Trägerin eine Frau von Format.»
Das spricht mich total an, denn als Frau von Format würde ich mich schon gern sehen, auch wenn mir für ein echtes Giselle Bündchen ungefähr anderthalb Meter Körpergröße fehlen. Ich straffe die Schultern und erinnere mich daran, dass ich ja beschlossen hatte, ab heute eine glückliche und in sich selbst ruhende Frau zu sein. Ein wenig...
Erscheint lt. Verlag | 12.4.2022 |
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Illustrationen | Peter Pichler |
Zusatzinfo | Zahlr. 4-farb. Ill. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Beziehungen • Es wird Zeit • Frauenfreundschaft • Frauenroman • Frauenstimmen • Freundschaft • glennon doyle • Ildikó von Kürthy • Liebesroman • Mondscheintarif • Muttertagsgeschenk • Problemzonen • Schwesternschaft • Selbstbehauptung • Spiegel-Bestsellerautorin • toxische Beziehung • Verlust |
ISBN-10 | 3-644-01166-4 / 3644011664 |
ISBN-13 | 978-3-644-01166-3 / 9783644011663 |
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