Was ans Licht kommt (eBook)

Kriminalroman | Platz 1 der Krimibestenliste
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
496 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00623-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was ans Licht kommt -  Christoffer Carlsson
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Im Februar 1986 erhält die Polizei einen Anruf von einem Mann, der behauptet, eine Frau außerhalb der Kleinstadt Tiarp vergewaltigt zu haben. Ich werde es wieder tun, sagt er, bevor die Leitung unterbrochen wird. Schweden steht nach dem Mord an Ministerpräsident Olof Palme in der gleichen Nacht unter Schock. Für den Polizisten Sven Jörgensson und seinen Sohn Vidar wird dies eine entscheidende Zeit in ihrem Leben sein. Während Vidar versucht, seinen Weg durch die Pubertät und in den Beruf seines Vaters zu finden, ist Sven von dem Fall besessen, der ihn für den Rest seiner Karriere verfolgen wird. Zwei weitere junge Frauen fallen dem Tiarp-Mann zum Opfer, ohne dass die Polizei ihn aufhalten kann. Dann wird Sven krank und stirbt, der Fall bleibt ungelöst. Jahrzehnte später taucht die Geschichte über die brutalen Morde unerwartet wieder auf, als dem ehemaligen Polizisten Vidar Jörgensson zugeschrieben wird, den Fall des gefürchteten Tiarp-Mannes endlich aufgeklärt zu haben. Doch bald wird klar, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Es braucht den unerbittlichen Verstand eines heimgekehrten Schriftstellers, um die komplizierten Familienbande zurückzuverfolgen, die Teile des Puzzles zusammenzusetzen. Dabei deckt er langsam Schichten der Wahrheit über ein Verbrechen auf, auf das es keine einfachen Antworten gibt. «Was ans Licht kommt» ist ein elegant konstruierter Kriminalroman über Schuld und Verantwortlichkeit, in dem eine Besessenheit vom Vater an den Sohn weitergegeben wird. Der meisterhafte Stilist und angesehene schwedische Kriminologe Christoffer Carlsson spielt mit dem Genre, als wäre der Roman ein fiktionalisiertes True-Crime-Drama, das seinem namenlosen Autor erlaubt, die Ereignisse der Vergangenheit neu zu erfinden. Die Jagd nach der Wahrheit dient als Motor in dieser umfangreichen und komplexen Erzählung über Verzweiflung und Selbstbetrug und letztlich den Willen, in einer Welt voller Dunkelheit nach Licht zu suchen.

Christoffer Carlsson, geboren 1986, wuchs außerhalb von Marbäck an der Westküste Schwedens auf. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm und wurde 2012 mit dem Young Criminologist Award der European Society of Criminology ausgezeichnet. Für seinen Debütroman «Der Turm der toten Seelen» erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis. Die Reihe um den Polizisten Leo Junker erscheint in 20 Ländern und wird verfilmt. Sein Roman «Unter dem Sturm» wurde bislang in zehn Länder verkauft und war 2019 für den Schwedischen Krimipreis nominiert.

Christoffer Carlsson, geboren 1986, wuchs außerhalb von Marbäck an der Westküste Schwedens auf. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm und wurde 2012 mit dem Young Criminologist Award der European Society of Criminology ausgezeichnet. Für seinen Debütroman «Der Turm der toten Seelen» erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis. Die Reihe um den Polizisten Leo Junker erscheint in 20 Ländern und wird verfilmt. Sein Roman «Unter dem Sturm» wurde bislang in zehn Länder verkauft und war 2019 für den Schwedischen Krimipreis nominiert. Ulla Ackermann, geboren 1978, studierte Skandinavistik und Germanistik in Münster/Westfalen und Lund. Nach dem Studium lebte sie mehrere Jahre in Stockholm. Seit 2015 arbeitet sie als freie Übersetzerin in Kiel und übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christoffer Carlsson, Maria Turtschaninoff und dem Autorenduo Pascal Engman & Johannes Selåker.

2.


Als Kind sah ich Sven Jörgensson mehrmals in der Woche. Wenn man in einem Ort wie Tofta aufwächst, ergibt sich das von selbst. Man erfährt so einiges über alle und jeden, ohne großartige Anstrengungen unternehmen zu müssen.

Ich, mein Bruder Rasmus und unsere Eltern wohnten in der Nähe des Toftasjön an der Landstraße in Richtung Simlångsdalen. Ab meinem zehnten Geburtstag, im Jahr 1986, fuhr ich mit dem Schulbus in die Snöstorpsskolan. Jeden Morgen stellte ich mich unten an die Straße vor die Briefkästen und wartete darauf, dass der alte orange-weiße Bus in der Kurve nach Skedala auftauchte. Der Name des Busfahrers fällt mir nicht mehr ein, aber es war immer derselbe schütterhaarige und schweigsame Mann. Er kam mit dem Bus aus dem Stadtzentrum angefahren, hielt bei uns an und setzte seinen Weg dann Richtung Marbäck fort, bis er an Toftas Hofatelier wendete, die Landstraße in entgegengesetzter Richtung zurückfuhr und die Abzweigung nach Snöstorp nahm.

Mein Bruder ist drei Jahre jünger als ich, und nach seiner Einschulung warteten wir zu zweit vor den Briefkästen unten an der Straße. Nie habe ich mich so erwachsen gefühlt, wie wenn ich frühmorgens neben ihm stand, die Straße im Auge behielt und aufpasste, dass er nicht zu weit auf die Fahrbahn hinaustrat, dass an dunklen Herbst- und Wintermorgen die reflektierenden Streifen an seinem Anorak zu sehen waren und dass er alle Schulsachen eingepackt hatte. Bei kleinen Siebenjährigen konnte man schließlich nie wissen.

Bei diesen Gelegenheiten sahen wir Sven Jörgensson. Er kam mit dem Auto oben aus Marbäck, in Uniform und ein müdes Gesicht gekleidet, eine Zigarette im Mundwinkel und das Seitenfenster ein Stück heruntergekurbelt, dem Morgen entgegenblinzelnd, als stünde ihm eine harte Prüfung bevor, von der wir Kinder noch nichts wussten. Manchmal saß er in einem Streifenwagen, aber meistens fuhr er sein eigenes Auto, einen roten Volvo-Kombi. Dann war es schwieriger, ihn von weitem zu erkennen, aber es ging.

Eines Morgens, als Svens Volvo an uns vorüberfuhr, schnappten wir nach Luft. Eine klebrige rote Masse war vom Autodach geflossen, an Scheiben und Kotflügel hinuntergetropft, und erstarrt. Mein Bruder und ich gerieten vor Aufregung völlig aus dem Häuschen. Den ganzen Schulweg über rätselten wir, was vorgefallen sein könnte, wisperten uns Geschehnisse ins Ohr und diskutierten Szenarien, eines abenteuerlicher als das andere. Vielleicht hatte Sven einen Dieb geschnappt und ihn verwundet. Oder ihn erschossen. Wir wussten, dass Sven eine Pistole trug, das taten alle Polizisten. Oder er hatte auf dem Autodach mit jemandem gekämpft, der ganz offensichtlich verloren hatte, vielleicht einem Dieb, der versucht hatte, mit der wertvollen Beute zu fliehen. Möglicherweise hatte Sven den Kerl mit seinem Schlagstock halb totgeprügelt.

Als wir abends unserem Vater davon erzählten, der schon damals ein Mann mit Humor war, reagierte er genauso elektrisiert wie wir.

«Ein Kriminalfall, in unserer Nähe! Vielleicht war es das, was ich heute Nacht gehört habe. Den Schuss also.»

«Schuss?» Ich sah meinen Bruder an. «Welchen Schuss?»

«Ich bin heute Nacht so gegen drei Uhr aufgewacht. Ihr wisst doch, dass man manchmal träumt und Traum und Wirklichkeit sich vermischen?»

«Ja», sagte mein Bruder mit kugelrunden Augen.

«Ich weiß noch, dass ich von einer Tür geträumt habe, die mit einem lauten Knall zuschlug.» Vater zwinkerte und senkte die Stimme. «Vielleicht war das Türknallen in Wirklichkeit Sven, der auf den Dieb geschossen hat.»

Gebannt hingen wir an Vaters Lippen, bis unsere Mutter demonstrativ den Kopf zur Seite neigte und müde lächelte. Da lachte er auf, und mit einer Stimme, in der plötzlich kein bisschen Phantasterei und Sensationslust mehr mitschwang, sondern der schnöden väterlichen Realität Platz machte, sagte er, ja, es sei natürlich nicht ausgeschlossen, dass Sven einen Dieb gefasst habe, dass auf dem Autodach ein Handgemenge aus dem Ruder gelaufen sei oder ein anderes unserer Szenarien zutreffe. Aber, fuhr er fort, Sven sei früher Jäger gewesen. Heute jage er nicht mehr, er hatte seine Waffen und seine Ausrüstung abgegeben, aber er hielt noch immer Kontakt zu Lennart Börjesson, Göran Lundgren und anderen Jägern oben im Dorf. Manchmal half er ihnen mit erlegten Tieren. Vor zwei Tagen hatten sie einen Elch geschossen, und Sven hatte das tote Tier auf seinem Autodach transportiert, weil es auf keinen anderen Wagen gepasst hatte, und die Plane, in die sie den Elch eingehüllt hatten, war undicht gewesen.

Natürlich waren wir enttäuscht. Aber es wäre, wenn man es recht bedenkt, vollkommen untypisch für Sven gewesen, auf einen Menschen zu schießen oder ihn auch nur zu schlagen, selbst dann, wenn dieser Mensch ein Dieb war. Sven war schließlich Sven. Wir winkten ihm immer zu, sobald er morgens angefahren kam. Manchmal winkte er zurück. Dann konnte man ein Lächeln um seine Lippen spielen sehen, kein breites, dann hätte er seine Zigarette verloren, aber unverkennbar ein Lächeln.

Im Umkreis von Marbäck und Tofta gab es damals zwei Kfz-Mechaniker. Der eine war Peter Nyqvist im Svanådvägen, oben im Dorf, der andere mein Vater. Er arbeitete bei Rejmes in Halmstad, hinter Sannarp direkt gegenüber der Feuerwache. Ging ein Wagen in der Umgebung kaputt, wandte man sich an ihn oder Peter, um eine erste Einschätzung vom Ernst der Lage zu erhalten, besonders im Sommer und am Wochenende. Das Auto in eine Werkstatt zu bringen, war ein Unterfangen für sich, da war es gescheiter – und billiger –, mein Vater oder Peter begutachteten den Schaden zuerst. Ich weiß nicht, wie oft ich frühmorgens aufwachte, weil das Telefon schellte, Vater aufstand und mit schlaftrunkener Stimme sagte Hallo, Göran und Oh, verdammt, das klingt übel und Ja, ich bin zu Hause, kein Problem, kannst du den Wagen herbringen?

Wir gewöhnten uns daran, dass in unserer Einfahrt Autos standen, die nicht uns gehörten, aufgebockt und mit geöffneter Motorhaube, unser Vater rücklings auf einer abgenutzten Schaumgummiplatte, die ursprünglich einmal gelb gewesen war, mittlerweile aber eine dunkelbraune Patina aus Öl und Dreck angenommen hatte. Zweimal, erinnere ich mich, gehörte das Auto Sven Jörgensson. Ich weiß nicht mehr, wie das Wetter an jenen Tagen war, was an dem Auto kaputt war, ob mein Vater es reparieren konnte oder ob er Kenneths Abschleppdienst rufen musste. Das, was mir in Erinnerung geblieben ist, ist Sven.

Svens Kinn war kantig und breit wie ein Schaufellader. Er hatte Hände so groß wie Vorschlaghämmer, muskulöse Schultern und schütteres Haar, und von der unausgewogenen Ernährung im Dienst und dem Bier, das er abends gerne trank, wölbte sich sein Bauch leicht über den Hosenbund. Von seiner äußeren Erscheinung glich er eher einem Bauern als einem Polizisten. Aber alle wussten, dass er Polizist war. Das machte ihn aus. Mein Bruder und ich standen am Fenster oder hockten auf der Vordertreppe und beobachteten genau, wie er sich bewegte, wie er redete, wie er in einer Hand eine Zigarette hielt und die andere auf dem Gürtel seiner Jeans ruhen ließ, als vermisse er das Holster, das dort sitzen musste, damit alles an Ort und Stelle war. Während Vater das Auto in Augenschein nahm, redeten sie über ihre Häuser, anstehende und abgeschlossene Renovierungen, über Autos, Urlaubsreisen, Fußball, Breared gegen Snöstorp, die Partie war 1:2 ausgegangen, was es in Marbäck Neues gab und in Tofta, und über uns. Die Kinder.

Sven und seine Frau Bibbi hatten einen Sohn, Vidar. Vidar war genau wie sein Vater, groß und kräftig und hilfsbereit. Er ging aufs Gymnasium, spielte als Stürmer beim FC Breared, hackte Holz, als sei er schon ein ganzer Kerl, und war bei allen beliebt. Wir sahen ihn manchmal im Dorf und hörten die Leute oft von ihm reden. Der konnte nicht mal Vidar Jörgensson beikommen, weißt du, wir mussten eine Firma aus der Stadt beauftragen, sagte Bauer Andersson und nickte mit dem Kopf in Richtung einer außergewöhnlich großen Fichte, die am Rand seiner Kuhweide lag. Teufel noch eins, seht ihr, jetzt seid ihr in der Nähe von Vidar Jörgenssons altem Rekord, platzte es aus unserem Sportlehrer heraus, als er beim Hochsprung die Latte andächtig auf die schwindelerregende Höhe von einem Meter und sechsundsiebzig Zentimeter legte. Vidar half gelegentlich bei den Bauern aus, einfach weil die Arbeit ihm Spaß machte. Schon damals, erinnere ich mich, schien er mit sich im Einklang zu sein, mit seinem Platz in der Welt und seinen Träumen, wie auch immer sie ausgesehen haben mochten.

Sagt Bescheid, wenn ihr etwas braucht oder ich sonst wie helfen kann, pflegte Sven zu sagen, und wenn er mich mit seinen klaren grünen Augen ansah, mir eine große, schwere Hand auf die Schulter legte und Pass auf dich auf, Junge, und hör auf deine Eltern sagte, waren es Worte, die sich mir einprägten und die ich sehr ernst nahm, gerade weil sie von ihm kamen. Er nannte mich Junge, behandelte mich aber fast, als wäre ich erwachsen.

Es war nicht so, dass wir wie Sven sein wollten. Es war die Welt, die in seiner Nähe spürbar wurde, die Illusion, die in den Bereich des Möglichen rückte, über uns, über Marbäck und Tofta, die Menschen und das Leben, die so starke Anziehungskraft auf uns ausübte. Dass die Welt ein verlässlicher und sicherer Ort war, an dem auch unsere kleinen Schritte von Sinn und Bedeutung erfüllt waren, dass wir einen Unterschied bewirkten und darauf vertrauen konnten, nie...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2022
Reihe/Serie Die Halland-Krimis
Die Halland-Krimis
Übersetzer Ulla Ackermann
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Dorfgemeinschaft • Ermittler • Ermittler-Krimi • Gesellschafsroman • Kriminalroman • Krimineuerscheinungen 2021 • Krimineuerscheinungen 2022 • Kriminologie • Marbäck • Mord • Olof Palme • Polizist • Scandinoir • Schuld • Schweden • Schwedenkrimi • schwedischer Bestseller • Schwedischer Kriminalroman • Skandinavische Krimis • spannende Bücher • Südschweden • True Crime • True Crime Drama • Unter dem Sturm • Wahrheit
ISBN-10 3-644-00623-7 / 3644006237
ISBN-13 978-3-644-00623-2 / 9783644006232
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