Die Kunst der Freude (eBook)
880 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2936-6 (ISBN)
'Warum nur reden wir nicht dauernd und seit Jahren über Goliarda Sapienza?' Antonia Baum
Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Perspektive einer außergewöhnlichen Frau: Modesta ist eine Sizilianerin, die nach Leben dürstet und für ihre Unabhängigkeit kämpft. Sie erlebt das zwanzigste Jahrhundert auf der Suche nach persönlichem Glück und Erfüllung - gegen alle Widerstände. Als großzügige Freundin, liebende Mutter und leidenschaftliche Liebhaberin begegnet sie dem Leben mit der inneren Größe, die den Heldinnen und Helden der Weltliteratur eigen ist.
»Mehr noch als ein literarisches Ereignis ist dieser Roman ein existenzielles Ereignis.« Le Nouvel Observateur
»Goliarda Sapienzas Waisenkind Modesta ist die ultimative Heldin des zwanzigsten Jahrhunderts.« Chris Kraus
*** Dieses Buch ist bereits unter dem Titel »Die Unvorhersehbarkeit der Liebe« erschienen. ***
Goliarda Sapienza (1924-1996), geboren in Catania, ist die Tochter zweier berühmter Vorkämpfer der sozialistischen Bewegung in Italien. Sehr freigeistig erzogen, geht sie sechzehnjährig nach Rom an die Schauspielschule, wird, wie ihre Eltern, von den Faschisten verfolgt, kämpft im Widerstand. Nach dem Krieg wird sie als Theaterschauspielerin gefeiert und spielt in Filmen wie Luchino Viscontis 'Senso' mit. 1950 beginnt sie zu schreiben. Von 1967 bis 1976 arbeitet sie an ihrem großen Roman 'Die Kunst der Freude', versetzt dabei Bilder, Möbel, Schmuck und begeht sogar einen Diebstahl, weil sie nicht anders kann, als zu schreiben, bis der Roman fertig ist, der erst nach ihrem Tod veröffentlicht wird und zum Welterfolg wird.
Das zwanzigste Jahrhundert auslachen
Über Goliarda Sapienzas Superheldin Modesta
Wahrscheinlich müsste ich ein bisschen mehr sein wie die unglaubliche Modesta, ja, vielleicht müsste ich es wirklich ein bisschen mehr so machen wie sie, die Protagonistin jenes lange unbeachteten italienischen Romans mit der unglaublichen Publikationsgeschichte, den seine – ebenfalls unglaubliche – Autorin Goliarda Sapienza nach fast zehn Jahren Arbeit 1976 beendete, der aber erst zwanzig Jahre danach, nämlich nach dem Tod von Sapienza, im Selbstverlag veröffentlicht wurde und wiederum fast ein Jahrzehnt später in Frankreich erschien und dort ein Erfolg wurde. Ich müsste mehr sein wie Modesta, also wie jene literarische Figur, die am 1. Januar 1900 in Süditalien geboren wird, um mit ihren Leserinnen – die sie immer wieder direkt anspricht: »Ich will euch alles so erzählen, wie es gewesen ist …« – ihre Forschungsergebnisse zu ihren Versuchen über die Freude und die Lust am Leben zu teilen, wobei hier ganz dezidiert ihre Versuche das Thema sind: Wie kann einer Frau zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein freies, schönes, sicheres Leben gelingen? Was braucht man dafür, wie ist das zu schaffen?
Natürlich geht das eigentlich nicht, nicht, wenn man wie Modesta unter einfachsten Bedingungen quasi in einem Stall auf Sizilien geboren wird, ohne Vater, als Tochter einer Mutter mit Haaren »voller Fliegen«, die entweder schreit oder schweigt, nicht, wenn es eigentlich niemanden interessiert, was aus einem wird und schon gar nicht, wenn man dem Auftrag folgt, der in dem Namen »Modesta« liegt: bescheiden zu sein. Und in genau diesem Verhältnis zwischen Protagonistin und ihrem Namen liegt ein zentraler Trick sowohl von Modesta als auch des Romans, der von ihr erzählt, aber dazu später mehr – jedenfalls ist Modesta natürlich das komplette Gegenteil von bescheiden, genügsam. Alles, was sie tut, folgt ihrem Willen, sich Platz zu verschaffen, frei zu werden, dort hinzukommen, wo sie ihr Leben nach ihren Vorstellungen leben und genießen kann. Zu diesem Zweck lässt sie ihre Mutter und ihre Schwester verbrennen, bringt sie eine Nonne um, die sie zuvor bei sich aufgenommen hat, und ermordet einige Seiten später eine Fürstin, der sie ebenfalls viel zu verdanken hat. Das klingt jetzt alles sehr schrecklich und vielleicht sogar unsympathisch, aber weil der Roman ohnehin fortwährend mit Übertreibungen, mit slapstickhaften, opernartigen, komischen, manchmal sehr lustigen Situationen arbeitet, die – entschuldigen Sie diese lahme, aber eben doch treffende Analogie – genauso überladen, schön und zu viel sind, wie der Ballarò-Markt in Palermo an einem heißen Tag, sind Modestas Morde vor allem als symbolische Handlungen zu verstehen. Sie macht den Weg frei, für sich, das privileg- und rechtlose Mädchen, sie schafft es, zu einer materiell abgesicherten, gebildeten Frau zu werden, die den eigenen Wünschen Rechnung trägt, und das bedeutet in ihrem Fall, in einer lesbischen Beziehung zu leben und gleichzeitig andere, männliche Geliebte zu haben, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Süditalien.
Modesta schafft es, zu einer Frau werden, der es gut geht, ganz einfach. Und in genau diesem Punkt scheint es dem Roman und seiner Autorin dann doch wieder sehr ernst zu sein: die Sorge dafür tragen zu können, dass es einem (das heißt natürlich: einer) gut geht, ist nicht einfach. Dazu in der Lage zu sein, hat nicht nur Bildung in einem klassischen Sinn zur Voraussetzung – um die sich Modesta intensiv kümmert, der Roman ist immer wieder auch ein Lektüreprotokoll –, die Fähigkeit, für sich selbst sorgen zu können, beginnt genauso mit dem Studium der eigenen Gefühle, mit präziser Selbstbeobachtung. »Und ich beschloss, von diesem Tag an nichts mehr zu vergessen – weder das Gute noch das Schlechte – um immer die ganze Vergangenheit vor Augen zu haben …«
Modesta vergisst nichts, und sie versteckt nichts, gar nichts vor sich und ihren Lesern, nicht ihre Lust, nicht mal die Lust an den Schmerzen anderer (etwa die ihrer geistig behinderten Schwester), sie studiert ihren Hass, ihre Wut, ihre Ängste, all das muss benannt werden, und man merkt hier deutlich den Einfluss der Psychoanalyse sowohl auf Sapienza als auch auf den Text. »Das war der richtige Weg: So wie man die Grammatik und die Musik studierte, musste man auch die Gefühle untersuchen …«. Denn sich mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen auszukennen, in der Lage zu sein, sie zu unterscheiden von den Wünschen und Bedürfnissen der anderen, ist die Bedingung dafür, dass man sie ernst nimmt und sich erlaubt, etwas zu wollen.
Hier so hingeschrieben klingt das nicht besonders kompliziert, es klingt banal. Dabei stimmt natürlich das Gegenteil, wer über sich Bescheid weiß, weiß viel, und Die Kunst der Freude ist das Dokument jener Suchbewegungen, die einem solchen Wissen immer zugrunde liegen – eine Art Bildungsroman, in dessen Zentrum Modestas Suche steht, die allein der Frage folgt: was will ich, was brauche ich, und man könnte all das eine große, ausschweifende Feier des Egoismus auf vielen, vielen Seiten nennen. Oder man sagt: Hier wird die kompromisslose Selbstfürsorge zum Prinzip erhoben, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts und bei einer mittellosen Frau wie Modesta vielleicht überhaupt nicht anders ausfallen kann als komplett übersteuert.
Ob ihre Schöpferin, nämlich die 1924 in Catania geborene Goliarda Sapienza, auch so kompromisslos war, weiß ich nicht. Aber das Bild, das in der noch nicht sehr umfangreichen Sapienza-Rezeption regelmäßig von der Autorin gezeichnet und betont wird, ist ebenfalls das der unangepassten, freien, willensstarken Frau, die gerade, da Feminismus ein wichtiges Thema ist, natürlich Konjunktur hat: Man liest, dass Sapienza in einem feministischen, anti-klerikalen Milieu als Tochter unverheirateter sizilianischer Sozialisten aufwuchs, die Antonio Gramsci, Lenin und noch viele andere kannten. Um faschistische Einflüsse zu vermeiden, sorgte Sapienzas Vater dafür, dass sie mit vierzehn Jahren die Schule verließ, später soll sie mit ihm gemeinsam als Partisanin gekämpft haben. Dann wurde sie Schauspielerin, avancierte in intellektuellen Kreisen der römischen Nachkriegsgesellschaft zu einer wichtigen Figur und unterhielt Beziehungen zu wichtigen Regisseuren (Luchino Visconti, Francesco Maselli), in deren Filmen sie außerdem mitspielte. Ab den späten fünfziger Jahren dann nahmen Depressionen, Selbstmordversuch, die Psychoanalyse und insbesondere das Schreiben einen immer zentraleren Platz in ihrem Leben ein. Nach der Veröffentlichung zweier mittel-erfolgreichen Erinnerungsbücher an ihre Kindheit und ihre Analyse beschloss sie, sich nur noch dem Schreiben und insbesondere der Arbeit an Die Kunst der Freude zu widmen, was sie auf sehr radikale Weise tat, nämlich, indem sie sich zunehmend isolierte und immer ärmer wurde (irgendwann war sie so arm, dass sie einer Freundin Schmuck stahl, weswegen sie für einige Monate im Gefängnis landete, in dem römischen Frauengefängnis Rebibbia, worüber sie auch schrieb, aber das war alles nach der Fertigstellung von Die Kunst der Freude). Außerdem heiratete sie mit Mitte fünfzig kinderlos einen zwanzig Jahre jüngeren Mann (in Italien!) – in einem Interview1 sieht man sie, zwei Jahre vor ihrem Tod, über all das erzählen, alt, schön, mit vielen Falten und tiefer Stimme, traurig und sehr heiter, wach und sehr, sehr müde, lebensklug und ja, komisches Wort, irgendwie schelmisch.
Und man kann also, wenn man will, natürlich zu dem Ergebnis kommen, dass auch Sapienza »unangepasst« war, dass sie in mancher Hinsicht vielleicht fast so radikale Dinge tat wie die von ihr erschaffene, 24 Jahre ältere Modesta, die Sapienza in ihrem Roman allerdings fröhlicher, stabiler, selbstbestimmter und mächtiger erscheinen lässt, was natürlich daran liegt, dass Modesta als Traum, als Utopie, als eine Art Superheldin angelegt ist. Leid gibt es in ihrem Leben vor allem für die Geschichte und damit sie sich ihm mit Entschlossenheit und dramatischer Geste entgegenstellen kann, auch ihr ungeheurer Bildungs- und Selbstfindungsweg (vom Stall zu Freud, Marx, Libertinage etc.) folgt einem Ideal der sozialismusbegeisterten Sapienza, der wegen seiner Unwahrscheinlichkeit wirkt wie ein Streich, eine List, ein Witz, erzählt von Sapienza, um die Klassengesellschaft, das Patriarchiat und das ganze...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2022 |
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Übersetzer | Esther Hansen, Constanze Neumann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | L’arte della gioia |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Ätna • Catania • Faschismus • Feminismus • Frauenportrait • Freiheit • Goliarda Sapienza • Italien • L'Arte della Gioia • Liebe • Modesta • Mussolini • Rebellin • Resistenza • Roman • Sapienza • Sizilien • Zwanzigstes Jahrhundert |
ISBN-10 | 3-8412-2936-0 / 3841229360 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2936-6 / 9783841229366 |
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