Der Sommer der Puppen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2928-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Sommer der Puppen -  Monika Held
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»In diesem Haus wohnen alte Geschichten.« 

Frankfurt, 1984: Pias Mutter liegt im Krankenhaus. Sie soll sich um die Pension an der Nordsee kümmern, doch zu schwierig ist das Verhältnis zur Mutter, geprägt von jahrelangem Schweigen. Schließlich fährt Pia doch und trifft auf eine Schar Sommergäste - und eine rätselhafte Sammlung kaputter Puppen. Was hat es mit dem Tick der Mutter auf sich, alles Versehrte bei sich aufzunehmen? Und wer war ihre Mutter, bevor sie zu dieser unnahbaren Frau wurde? Warum verschweigt sie der Tochter ihr Leben? Hätte Pia fragen müssen? Aber wonach fragen, wenn nicht gesprochen wird? 

Eine feinsinnig erzählte Geschichte über den außergewöhnlichen Lebensweg einer Frau in den Zeiten des Wirtschaftswunders und über eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Beziehung.



Monika Held wuchs in Hamburg und Cuxhaven auf. Sie ist Journalistin und Autorin und hat für verschiedene Rundfunkanstalten und Zeitschriften gearbeitet. Ihre Reportagen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie schreibt Romane und lebt in Hamburg und Nordfriesland.

Gehen Sie über den Hof, sagt der Pförtner, am Ententeich vorbei, Haus 2A, im zweiten Stock liegen die Schlaganfälle. Der Name? Er sah nach: Zimmer 8.

Das Krankenhaus steht außerhalb der Kreisstadt in einem Park mit alten Bäumen. Kleine Fenster zwischen roten Backsteinen, eine Mischung aus Knast, Kaserne und Psychiatrie. Kein anheimelnder Bau. Aber innen ist alles frisch und freundlich und weiß gestrichen. Auf den Fluren liegt hellgraues Linoleum mit weißen Punkten, wie frisch gefallene Schneeflocken. Ich gehe gerne über die langen Flure, lese die Schilder an den Türen, stelle mir zu den Namen Menschen vor, die betreut werden, in ihren Betten liegen oder sitzen, mit Schläuchen, aus denen Flüssigkeit in die Venen tropft, die Schmerzen lindert, Entzündungen heilt, Hunger stillt oder Durst löscht. Windpocken, Blinddarm, Tuberkulose – ich habe oft und lange in Krankenhäusern gelegen. Ich liebe den Geruch in den Gängen. Vielleicht eine alte Erfahrung: Wo es nach Desinfektionsmittel und Scheuerpulver riecht, ist es sauber, und wo es sauber ist, wird alles wieder gut.

Über die Flure schlurfen Menschen in Bademänteln und Pantoffeln. Alle, so sieht es aus, auf dem Wege der Genesung. Schwestern, Pfleger und Ärzte gehen eilig an mir vorüber, verschwinden in den Krankenzimmern, die Gesichter ernst und konzentriert. Ihre weißen Kittel versprechen Wissen und Kompetenz. Ich hätte Medizin studieren sollen, statt zu lernen, wie man Bücher bestellt, auspackt, in die Regale stellt und verkauft. Obwohl: Ich habe schon vor der Ausbildung begonnen, wie besessen zu lesen. Ich war süchtig nach Büchern. Dazu kam, dass dem Vater meiner Freundin das »Gloria« gehörte, ein Kino mit Plüschsesseln. Weich und weinrot. Schon als Kinder gingen wir in jeden Film, der dort lief. Krimi, Western, Liebesschnulze – egal. Hauptsache Kino. Wir bezahlten nichts, bekamen Eis spendiert, und Gilas Vater war es egal, ob wir Horror, Mord und Totschlag verkrafteten. Irgendwann, wie von selbst, wuchsen beide Leidenschaften zusammen, und ich interessierte mich für Bücher, aus denen Filme wurden. Ich war zehn, als ich »Das doppelte Lottchen« las. In die Verfilmung gingen wir mit sechzehn. Nicht aus Neugier auf einen zehn Jahre alten Kinderfilm, sondern weil wir Wiederholungs- und Allesgucker waren. Manchmal gingen wir so oft in denselben Film, bis wir die Dialoge auswendig konnten.

Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich wusste, was ich werden wollte. Im »Gloria« ging das Licht aus. Der schwere Samtvorgang teilte sich, ein tiefer Gong ertönte, und als wir den langen Vorspann überstanden hatten, erschien auf der Leinwand ein Mann mit schwarzer Brille. Er schaute eine Weile in ein Buch, hob den Kopf, nahm die Brille ab und sagte mit sonorer Stimme:

Die Geschichte, um die es sich handelt, beginnt im Gebirge. In Seebühl. Kennen Sie eigentlich Seebühl? Am Bühler See?

Er sah mir direkt in die Augen. Er meinte mich. Ich schüttelte den Kopf.

Nein? Nicht?

Wieder hatte ich das Bedürfnis, ihm zu antworten. Er sagte:

Sonderbar, höchst sonderbar. Keiner, den man fragt, kennt Seebühl!

Der Schwarz-Weiß-Film war altmodisch und ziemlich kitschig, dennoch packten mich die Worte Erich Kästners, der als Erzähler durch die Handlung führte: Es ist Nacht, alle Kinder schlafen. Es war die Stimme, die für die Atmosphäre im Film sorgte, die Melodie. Sie versprach ein Geheimnis. Der Erzähler beschrieb das Ferienheim für kleine Mädchen, den Trubel am Tag, die Stille der Nacht: Freilich abends, da setzt sich zuweilen der graue Zwerg Heimweh an die Betten im Schlafsaal, zieht sein graues Rechenheft und den grauen Bleistift aus der Tasche und zählt ernsten Gesichts die Kindertränen ringsum zusammen, die geweinten und die ungeweinten.

Nach neunzig Minuten im dunklen Saal verließen wir das Kino mit einem Satz, der in unserer Freundschaft nun für alles im Leben stand, was wir nicht verstanden: Sonderbar, höchst sonderbar. Keiner, den man fragt, kennt Seebühl. Und ich verließ das Kino mit einer Passion: Ich wollte hinter den Bildern die Machart erkennen, das Handwerk der Bücher und der Filme. Herausfinden, was das Buch vom Film unterscheidet und den Film vom Buch.

Die schönsten Sätze meines Studiums habe ich mir über den Schreibtisch gehängt: Das Drehbuch ist die Partitur des Films. Ich wollte Partituren schreiben. Und: Die besten Filme verdanken wir den besten Drehbüchern. Ich wollte beste Drehbücher schreiben.

Ich habe eine Drehbuchidee und einen Arbeitsplan. Irgendwann ist auch im turbulentesten Pensionsbetrieb Feierabend. Und wenn dann ein Kurgast nach einem Bier und ein anderer nach einer Flasche Wein fragt und ein dritter von seinem schönen Tag am Meer erzählen möchte? Dann stört mich das gar nicht, Mama.

Ich öffne leise die Tür zum Zimmer 8. Ihr Bett steht am Fenster, sie teilt das Zimmer mit zwei Frauen, die mich so herzlich anlächeln, als hätte ich den Pensionsbetrieb bereits gerettet. Meine Mutter versucht ein Lächeln, was ihrem Gesicht mit dem leicht schräg hängenden Mund etwas Verächtliches gibt.

Mama, was machst du für Sachen!

Sie sieht elend aus. Bleich, mit tiefen Ringen unter den Augen. Sie hebt die Hände. Kein Mitleid! Jetzt bloß kein Mitleid! Meine Mutter ist zweiundsechzig Jahre alt. In den Sommermonaten, wenn das Geschäft gut läuft, wenn sie braun gebrannt ist und in Bewegung, schmal und zäh, sieht sie aus, als wäre sie noch nicht einmal fünfzig. Sie hat kurze, braune Haare, die ihrem Gesicht, jetzt, da die Haare vom Kopf abstehen, einen aufsässigen Ausdruck verleihen.

Die Schwestern Gewiese hatten in ihrem Schrecken nur schnell den Notarzt gerufen, ein Nachthemd auf die Trage geworfen, die Handtasche meiner Mutter und ihren Bademantel. Ich verspreche, zu bringen, was sie braucht, noch heute, so schnell wie möglich.

Und bring die Elfi mit!

Natürlich bringe ich Elfi mit.

Ihre Hilflosigkeit und die Gewissheit, dass kein Trost sie beruhigt, ist schwer zu ertragen. Meine tüchtige, spröde Mutter kann weder um Hilfe bitten noch Danke sagen, aber sie hält meine Hände fest, streichelt sie vorsichtig und drückt sie dann kräftig, wütend über diesen verdammten Schwächeanfall.

Mama, ich bin da. Alles wird gut.

Sie schluckt und nickt. Ihre Durchhalteparole, mit der sie den Krieg überlebt hatte, hieß: Es ist, wie es ist – Augen auf und durch. Nun ist es wieder einmal, wie es ist, und sie erteilt mir langsam, mit verschwommener Stimme, die erste von vielen Lektionen in dieser Saison: Wer sein Geld mit Dienstleistung verdient, mein Kind, ist ein Dienender. Lerne Demut, übe sie, sie erspart dir Ärger, Frust und Müh.

Seit wann bist du demütig?

Sprich mit dem Arzt!

Mach ich.

Frag, wann ich rauskann!

Mach ich.

Sie weiß genau, wie sie aussieht. Der schiefe Mund ärgert sie, die hilflos gewordene Sprache macht sie wütend, aber wer soll mich in den laufenden Betrieb einführen, wenn nicht sie, und zwar jetzt? Ihre linke Hand ist verkrampft, mit der intakten rechten hat sie auf ein paar Zettel die Namen der Gäste geschrieben, die sich in der Pension aufhalten.

Haus 1, Zimmer 1: das Ehepaar Petersen

Haus 1, Zimmer 2: die Schwestern Gewiese.

Haus 1, Zimmer 3: Vater Horst, Sohn Lars.

Haus 1: In den umgebauten Kellerraum wird in zwei Wochen ein Herr Bittermann einziehen.

Im Haus 2 wohnen … Ich lese Namen und Zimmernummern, die ich sofort wieder vergesse. Sie hat notiert, wer wie lange bleibt, wer die Ferienwohnungen gemietet hat, wie die frisch Vermählten heißen, die auf dem Dachboden wohnen.

In der Garage wohnt ein Pärchen: schwul, aber nett.

Wieso aber?

Die Liste mit den Zimmerpreisen und das Bargeld sind im Sekretär. In der Schublade mit dem Nummernschloss. Ich erinnere keine Schublade mit einem Nummernschloss, aber ich werde sie finden.

Mit dem Stationsarzt kann ich erst am Abend sprechen. Da habe ich ihr schon alles, was sie braucht, in den Schrank gehängt, die Kosmetik verstaut, ein Stück Lavendel-Seife ans Waschbecken gelegt, eine neue Haarbürste gekauft, den leichten seidenen Schlafanzug mitgebracht.

Und Elfi, die älteste und liebste aus ihrer Puppensammlung. Dreißig Zentimeter groß. ...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtziger Jahre • Ebbe und Flut • Ferienpension • Frankfurt am Main • Fünfziger Jahre • Geheimnis • Holocaust • Küste • Later in life • Liebesgeschichte • Meer • Monika Held • Mutter • Mutter-Tochter • Mutter-Tochter-Beziehung • Mutter-Tochter-Konflikt • Nordsee • Pension • Pia • Puppen • Puppenpension • Sommerferien • Starke Frauen • Urlaub • Zweiter Weltkrieg • zwei Zeitebenen
ISBN-10 3-8412-2928-X / 384122928X
ISBN-13 978-3-8412-2928-1 / 9783841229281
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