Das verschlossene Zimmer (eBook)

Roman

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2022 | 1. Auflage
560 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-2084-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das verschlossene Zimmer -  Rachel Givney
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Wie viele Geheimnisse erträgt eine Familie?


Krakau, im Frühjahr 1939. Alle Zeichen stehen auf Krieg, denn das Deutsche Reich treibt seine Angriffspläne auf Polen unbarmherzig voran. Die junge Marie aber beschäftigen ganz anderen Fragen: Wer ist ihre Mutter? Warum verschwand sie, als Marie ein Kleinkind war? Und warum verweigert ihr Vater, ein renommierter Arzt, jedes Gespräch über sie? Als sie die Ungewissheit nicht mehr aushält, entschließt Marie sich zu einem drastischen Schritt.


Marie zog eine Haarnadel aus ihrem blonden Haar. Bisher verfügte sie über keinerlei Erfahrungen als Einbrecherin, doch Olaf, ein ortsansässiger Tunichtgut, der zusammen mit ihr in der Straßenbahn zur Schule fuhr, hatte sich ihr gegenüber in dieser Woche damit gebrüstet, dass es ein Leichtes sei, ein Schloss mit einem schmalen Metallstück aufzubrechen. 'Einfach nur reinschieben und ein bisschen hin und her ruckeln', hatte er geprahlt.

Marie musterte den Messingdraht und lächelte. In der Regel sahen die Leute in einer Haarnadel nur ein Accessoire, mit dem man seine Frisur bändigen konnte. Marie sah darin etwas anderes - einen Schlüssel.


Als Marie das Zimmer ihres Vaters aufbricht und durchsucht, riskiert sie, dadurch sein Vertrauen zu verspielen. Doch sie hat keine andere Wahl: Sie muss wissen, was aus ihrer Mutter wurde ...


Rachel Givney erzählt eindrucksvoll davon, was eine Familie ausmacht. Ein Roman, der zutiefst bewegt und nachhallt.



<p><strong>Rachel Givney</strong> hat als Drehbuchautorin schon an vielen der beliebtesten australischen TV-Serien mitgewirkt. Nach längeren Aufenthalten in den USA, Großbritannien und Deutschland lebt die gebürtige Australierin heute wieder in Sydney. Für die Recherchen für <strong>DAS VERSCHLOSSENE ZIMMER</strong> reiste sie mehrfach nach Polen, von wo die Familie ihrer Mutter stammt. Derzeit arbeitet sie an einem Drehbuch und an ihrem nächsten Roman.</p>

Rachel Givney hat als Drehbuchautorin schon an vielen der beliebtesten australischen TV-Serien mitgewirkt. Nach längeren Aufenthalten in den USA, Großbritannien und Deutschland lebt die gebürtige Australierin heute wieder in Sydney. Für Das verschlossene Zimmer reiste Rachel Givney mehrfach für Recherchen nach Polen, von wo die Familie ihrer Mutter stammt. Derzeit arbeitet sie an einem Drehbuch und an ihrem nächsten Roman.

1


HOLZDIELEN


Krakau, Polen, Februar 1939


Als Marie versuchte, ins Schlafzimmer ihres Vaters einzubrechen, plagte sie das schlechte Gewissen. Wie konnte sie ihn nur derart hintergehen! Ihr alter Herr war ein angesehener Bürger der Stadt, der für sich blieb und achtmal in der Woche zur Kirche ging (täglich in der Früh und sonntags sogar zweimal). Neben der Begeisterung für das heilige Sakrament und einem ausgeprägten Interesse am Fortpflanzungsverhalten von Bakterienstämmen besaß er keinerlei ungewöhnliche Neigungen. Ein derart respektloses Verhalten seiner einzigen Tochter hatte er nicht verdient. Doch Marie konnte das brennende Verlangen, etwas – egal, was – über ihre Mutter herauszufinden, nicht länger unterdrücken, und jener Mittwochnachmittag, an dem der Regen auf das Pflaster vor dem Haus prasselte und herrliche Pfützen entstehen ließ, schien ihr für diesen Vertrauensbruch so gut geeignet wie jeder andere Tag.

Man sieht nur, was man sehen will, hatte Maries Vater ihr immer wieder erklärt. Er gab nur selten väterliche Ratschläge; dieser Spruch blieb sein einziger Ausflug in die Welt der Floskeln. Wenn man einem Individuum oder einer Sache nur eine eng begrenzte Bestimmung einräumte, machte das die Welt gleich zu einem sehr viel beschränkteren und weniger interessanten Ort.

Marie war sich nicht ganz sicher, was ihr Vater mit diesem Ausspruch meinte und warum er ihn so gern verwendete, aber sie würde sich die Redewendung heute zunutze machen, um in sein Schlafzimmer einzudringen. Sie zog eine Haarnadel aus ihrem blonden Haar. Bisher verfügte sie über keinerlei Erfahrungen als Einbrecherin, doch Olaf, ein ortsansässiger Tunichtgut, der zusammen mit ihr in der Straßenbahn zur Schule fuhr – wenn er denn mal dorthin fuhr –, hatte sich ihr gegenüber in dieser Woche damit gebrüstet, dass es ein Leichtes sei, ein Schloss mit einem schmalen Metallstück aufzubrechen. »Einfach nur reinschieben und ein bisschen hin und her ruckeln«, hatte er geprahlt und dann von seinem Zigarillo husten müssen. Marie musterte den Messingdraht und lächelte. In der Regel sahen die Leute in einer Haarnadel nur ein Accessoire, mit dem man seine Frisur bändigen konnte. Marie sah darin etwas anderes – einen Schlüssel.

Sie hatte keine genaue Vorstellung, was sie im Schlafzimmer ihres Vaters finden würde, doch ihr war klar, dass dort irgendetwas sein musste. Briefe oder eine Adresse, unter der ihre Mutter jetzt lebte. Ihr Vater schloss kein anderes Zimmer im Haus ab, nicht einmal sein Arbeitszimmer, wo seine wichtigen Forschungsaufzeichnungen lagen. Eine Tür versperrte man nur, wenn sich etwas Wertvolles dahinter befand.

Während sie die Treppe zu den Räumen ihres Vaters hinaufstieg, hörte sie von draußen ein vertrautes Geräusch, das sich wohl am besten als dumpfes Knallen beschreiben ließ. Frau Nowak von nebenan schichtete mal wieder Sandsäcke auf, einen über den anderen. Die beleibte Dame, kaum einen Meter fünfzig groß, war von der fixen Idee besessen, dass Herr Hitler in den nächsten Tagen einmarschieren würde. Seit drei Jahren schon warnte sie Nachbarn, Freunde und jeden, der ihr zuhörte, dass der Besuch des »Führers« jeden Augenblick bevorstehe. Die Leute schüttelten den Kopf und erklärten sie für verrückt, aber sie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen und errichtete einen Wall vor ihrer Haustür, um sich nachts dahinter zu verbarrikadieren – zusammen mit den anderen Mietern des Hauses, egal ob diese es wollten oder nicht. Tag für Tag verrichtete sie dieselbe Zeremonie und türmte neue Sandsäcke auf, sobald sie derer habhaft werden konnte. Selbst der Regen hielt sie nicht davon ab, ebenso wenig wie ein Sturm es würde. Obwohl Marie das Klatschen der Sandsäcke draußen auf die Nerven ging, verlangte nun ein anderes Vorhaben ihre volle Aufmerksamkeit. Sie stand vor dem Schlafzimmer ihres Vaters und bückte sich, um die Tür genauer zu untersuchen.

Das Schloss befand sich im Türknauf selbst, eine technische Neuerung. Kein anderer Türgriff im Haus besaß ein Schloss, daher vermutete sie, dass ihr Vater es nachträglich eingebaut hatte. Sie zog eine weitere Haarnadel aus ihrer Frisur, denn laut dem Nachwuchskriminellen Olaf bedurfte es zweier Drähte, um ein Schloss zu knacken. Eine Haarsträhne, die sich beim Herausziehen der Nadel gelöst hatte, fiel ihr über das linke Auge und störte ihr Blickfeld. Sie pustete sie weg und schob die Haare hinters Ohr. Sie steckte die beiden Nadeln ins Schloss, zunächst eine in den unteren Teil, dann die andere gleich darüber, und ruckelte mit den beiden Nadeln hin und her, wie Olaf es beschrieben hatte.

Sie ruckelte und ruckelte. Sie ruckelte so stark, dass ihr der Ellbogen wehtat. Nichts geschah. Zwar schien sich der Türknauf etwas zu lockern, aber das Schloss selbst gab nicht nach. Was sollte sie tun? Sie schaute zur Standuhr am Ende des Flurs hinüber. Die Zeiger standen auf kurz vor sechs. Bald würde ihr Vater nach Hause kommen. Sie würde ihr Vorhaben aufgeben müssen. Marie verfluchte sich und die Haarnadeln, in die sie so große Hoffnungen gesetzt hatte, sie verfluchte Olaf wegen seiner nutzlosen Anweisungen und Frau Nowak, die draußen immer noch mit ihrem Wall aus Sandsäcken beschäftigt war. Sie würde es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal versuchen, wenn ihr mehr als ein paar Minuten Zeit blieben, um ihr Vorhaben auszuführen. Sie versuchte, die Nadeln wieder aus dem Schloss zu ziehen. Eine löste sich und fiel ihr in die Hand, die andere dagegen bewegte sich nicht. Marie zog noch einmal, doch das Schloss hielt den Metalldraht wie ein Raubtiergebiss umklammert.

Sie stemmte die Füße in den Boden, packte die Haarnadel und zerrte mit aller Kraft daran. Vor lauter Anstrengung fiel sie rücklings zu Boden, und die Nadel kam frei. Leider löste sich auch der Türknauf, und plötzlich lag die ganze Konstruktion samt Schloss und der noch darin steckenden Haarnadel in Maries Hand. Dort, wo vorher der Knauf gewesen war, klaffte nun ein Loch in der Tür.

Sie sah noch einmal zur Uhr hinüber: Die Zeiger standen auf zwei Minuten nach sechs. Um 6.14 Uhr rechnete sie mit der Rückkehr ihres Vaters, und er war ein sehr pünktlicher Mensch.

Marie überlegte kurz, ob eine Chance bestand, dass er die Tat gar nicht bemerken würde. Er arbeitete als Chirurg in der städtischen Klinik, und seine liebste Freizeitbeschäftigung bestand darin, winzige Organismen unter dem Mikroskop zu untersuchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ein zehn Zentimeter großes Loch in seiner Schlafzimmertür nicht bemerken würde, ging gegen null.

Sie hockte sich hin und wollte den Knauf wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückschieben, als sich die Tür knarrend einen Spalt breit öffnete und sie einen Blick in das dahinterliegende Schlafzimmer ihres Vaters werfen konnte. Durch das Fenster am anderen Ende des Raumes fiel ein Streifen nachmittägliches Licht herein. Schon oft hatte sie sich ausgemalt, wie dieses Zimmer wohl aussehen mochte. Wenn sie nachts im Bett lag, hörte sie manchmal die Dielen knarren und stellte sich vor, was ihr Vater wohl gerade dort drinnen tat. Schrieb er heimlich Briefe an ihre Mutter und flehte sie an zurückzukommen? Sie schaute noch einmal auf die Uhr und huschte dann rasch hinein, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte. Sie würde sich nur kurz umschauen und dann die Tür in Ordnung bringen.

Marie schaute sich im Zimmer um. Holzdielen bedeckten den Boden. Die Bettwäsche verströmte den Duft von Karbolseife, und die Laken schienen von einem ganzen Pfund Stärke in Form gehalten zu werden. Am Kopfende des Bettes thronte ein Kissen, das so unbehaglich wirkte, als hätte ihr Vater es mit Steinen gefüllt. Kein Staubkörnchen verunreinigte die Fensterbänke, kein Krumen Dreck die Bodendielen – hier sah es aus wie in einem Krankenhauszimmer, das unter der Aufsicht einer besonders Furcht einflößenden Oberschwester stand. Marie war enttäuscht, zugleich aber auch ein wenig erleichtert. Insgeheim hatte sie sich schon gefragt, ob sie im Schlafzimmer ihres Vaters womöglich eine Lasterhöhle finden würde, ob er dort drinnen vor einem Altar dem Teufel huldigte oder Akten geheimer Missionen als stalinistischer Doppelagent versteckte. Stattdessen stellte sich heraus, dass er sich im ganz privaten Raum ebenso verhielt wie im öffentlichen: als bescheidener, eher asketischer Mann, der wenige Vergnügungen kannte, die Blusen von Maries Schuluniform ausbesserte, Brot für sie buk und hinter verschlossenen Türen genau so war, wie er nach außen erschien – ein beruhigender, stützender Mensch, dessen Art man wohl auch langweilig hätte nennen können. Seine Korrektheit stand in scharfem Kontrast zu dem offenbar liederlichen Verhalten ihrer Mutter, die allem Anschein nach die Familie aus irgendwelchen selbstsüchtigen Beweggründen verlassen hatte, die nur sie allein kannte.

Ihr Vater schlief in einem Einzelbett. Auf dem Nachttisch stand ein einziges Foto in einem braunen Lederrahmen, das Marie als lächelnde Sechsjährige zeigte. Als hätte sie nicht ohnehin schon ein schlechtes Gewissen gehabt, gab ihr dieses Bild nun den Rest. Anscheinend war Marie die einzige Frau im Leben ihres Vaters – und nun hatte sie ihn hintergangen, indem sie sich Zutritt zu seinem Schlafzimmer verschafft hatte.

An der Wand stand eine Kommode aus stumpfem Rotholz. Marie zog die oberste Schublade auf und durchstöberte Socken und Unterwäsche, die in zwei ordentlichen Reihen eingeräumt waren. Es war ein seltsames Gefühl, die Socken ihres Vaters, die sie bisher immer nur an seinen Füßen gesehen hatte, so aufgerollt zu betrachten. Der Kleiderschrank enthielt steif gestärkte...

Erscheint lt. Verlag 25.2.2022
Übersetzer Ute Leibmann
Sprache deutsch
Original-Titel Secrets My Father Kept
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Antisemitismus • Ärztin • bewegend • Familiengeheimnis • Flucht • Frauenleben • Frauenstudium • Frauenstudium, bewegend • Identität • Jüdisches Leben • Krakau • Lemberg • literarische Unterhaltung • Lwiw • Medizin • Medizingeschichte • Nationalsozialismus • Polen • Tochter • Unvergesslich • Vater • Vorkriegszeit
ISBN-10 3-7517-2084-7 / 3751720847
ISBN-13 978-3-7517-2084-7 / 9783751720847
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