Die Frauen vom Karlsplatz: Henny (eBook)

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2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00776-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Frauen vom Karlsplatz: Henny -  Anne Stern
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Aufbruch in eine neue Zeit Lichterfelde, 1913. Das Jahrhundert ist jung, die Moderne hält auch in Berlin Einzug. Doch im Deutschen Kaiserreich ist es für Frauen noch immer schwer, ihren Träumen zu folgen. Die junge, selbstbewusste Henny hat nur ein Ziel: Sie möchte Medizin studieren - und damit die unerfüllte Sehnsucht ihrer Mutter leben, die sie nie kennengelernt hat. Aber der Weg in den Beruf der Ärztin ist für eine Frau ihrer Zeit steinig - selbst für eine Kämpferin wie Henny. Voller Eifer stürzt sie sich in Vorlesungen und die Lektüre medizinischer Fachbücher. Und sie will sich auch nicht von dem sympathischen Assistenzarzt Paul ablenken lassen. Doch schon bald macht Henny eine Entdeckung, die ihr Leben komplett auf den Kopf stellt und das Ende all ihrer Träume bedeuten könnte ... Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg - Band 2 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.

Anne Stern wurde in Berlin geboren und ist Historikerin und promovierte Germanistin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller. Anne Stern lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Anne Stern wurde in Berlin geboren und ist Historikerin und promovierte Germanistin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller. Anne Stern lebt mit ihrer Familie in Berlin.

1.


November 1913, Schöneberg

Immer wieder war da dieser Traum, der Martin hinabzog wie eine Schlingpflanze in das tiefe Wasser eines Ozeans. Der Druck auf seiner Brust war unerträglich. Keine Luft, kein Atemholen möglich. Das Traumbild entwischte ihm, lockte ihn spöttisch und verschwand wieder in den dunklen Höhlen, aus denen es gekommen war.

Das Rascheln eines Kleides, grobe Baumwolle, die über den Boden schleifte. Weiße Spitze darunter. Seidiges schwarzes Haar, das in den Wellen seines Traumes trieb. Ihr helles Lachen, als wäre doch noch etwas möglich. Als wären Zukunft und Vergangenheit bedeutungslos wie eine Spinnwebe, die man eilig mit der Hand fortwischen konnte. Martin stöhnte im Schlaf.

Vor den Fensterläden lauerte die Dämmerung. Doch Martins Traum wollte nicht weichen. Wieder ging es hinunter, in ungeahnte Tiefen des aufgewühlten Meeres. Dort unten wartete sie auf ihn. Die Frau, die er einst geliebt hatte. Ihre grauen Augen richteten sich auf ihn, schimmernd wie Eis, das im Schatten lag. Die Augen einer Toten. Etwas schrie, jämmerlich, hilflos, wie ein junges Kätzchen oder ein Zicklein in großer Not. Er wusste, dort schrie das Kind, das kurz vor dem Tod der Geliebten geboren worden war. Das Kind, das er verraten und verleugnet hatte bis zum heutigen Tag.

Jetzt wimmerte er so laut, knirschte gar mit den Zähnen, dass seine Frau Inge seufzend die Kissen fortwarf und sich über ihn beugte, ihn rüttelte, bis er aus dem Traum auftauchte und die Augen aufriss.

Er sah den schmalen Umriss seiner Ehefrau im Hemd, die Schlafhaube auf den ergrauten Locken, die sich wieder von ihm abgewandt hatte. Sie blieb stumm, doch ihr Rücken war eine einzige Mahnung. Sie setzte sich auf, schlüpfte in die Pantoffeln und trat in den Korridor hinaus. Mit herrischer Stimme rief sie nach dem Mädchen, es solle ihr ein Bad bereiten.

Martin hätte Inge dafür dankbar sein sollen, dass sie ihn von dem drückenden Alp befreit hatte. Stattdessen ärgerte er sich, dass er das schöne und quälende Bild hatte zurücklassen müssen.

Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dämmerung im morgendlichen Zimmer. Einen Moment lang blieb er liegen, dann schwang er die Beine aus dem Bett und stand mit einem leisen Ächzen auf. Fast hätte er den Nachttopf umgestoßen. Er war wohlgefüllt. Seine Blase war auch nicht mehr die alte, dachte er grimmig. Alles zerfiel in seine Bestandteile. Er schlurfte zum Badezimmer, doch die Tür war verschlossen.

So nahm er den Morgenmantel, der an einem Haken hing, und trat ins Esszimmer, wo eine Kanne Kaffee auf dem Frühstückstisch dampfte. Die Zeitung lag aufgeschlagen an seinem Platz, wie er es verlangte. Auf Trudi, das Mädchen, war Verlass. Hier herrschten die Aufgeräumtheit und der Friede, nach denen es ihn so dürstete. In ihm war Wüste, Chaos, doch in seinem Haus stand alles zum Besten. Seufzend ließ er sich auf den lederbezogenen Stuhl fallen und schenkte sich großzügig Kaffee ein, den er schwarz herunterzustürzen pflegte.

Dann griff er nach der Vossischen. Die kaiserliche Flotte wurde erneut erweitert, um den Wettlauf mit den anderen europäischen Mächten zu gewinnen, las er. Eine neue Steuervorlage war verabschiedet worden, zum Leidwesen der konservativen Kräfte im Land, die sich um ihre Erbschaften und den Großgrundbesitz sorgten. In Kreuzberg war ein Mann von der Straßenbahn erfasst und getötet worden.

Martin warf das Blatt voller Verdruss auf den Eichentisch. Wie ihn das alles langweilte! Als junger Mann hatte er voller Anteilnahme, oft mit glühenden Wangen, die Zeitung verschlungen und sich über die Politiker und ihre Entscheidungen echauffiert. Heute war von dieser Glut nur noch kalte Asche übrig. Das Alter, die Arbeit, die Jagd nach der Professur, nach den hohlen Ehrungen der Wissenschaft, seine lieblose Ehe – all diese Anstrengungen hatten sein inneres Feuer verlöschen lassen. Und er hatte es nicht einmal bemerkt, war nur immer weitergehetzt, hatte gearbeitet, geforscht, gebangt um seinen Ruf, bis tief in die Nacht an der Habilitationsschrift über Neurologie geschrieben, nur um ja nicht abgehängt zu werden. Nun, da er scheinbar alles hatte, stand er mit leeren Händen da.

Und wieder flimmerte ihr Antlitz vor seinem inneren Auge. Sie trug das grobe Hemd der Insassinnen der Psychiatrie, stand mit nackten Füßen auf dem Linoleum des Schlafsaals der neurologischen Abteilung der Charité, und sah ihn an. Augen wie tiefe Seen, auf deren Grund unbekanntes Getier schwamm. Er war nicht klug aus ihr geworden. Dabei hatte er sie erforscht, ihre Seele unter das Licht gehalten und ihre Leiden Stück für Stück hervorgezogen, als sezierte er behutsam ihre Psyche. Und doch hatte er sie nicht verstanden, bis zum Ende nicht. Ihr Traumbild sah ihn an, als wüsste sie alles über ihn.

Wütend grub Martin die Daumen in seine Schläfen und schloss die Augen. Sie sollte verschwinden, ihm das bisschen Leben, das er hatte, nicht weiter vergällen. Dieses Weibsbild! Er stöhnte auf und fuhr zusammen, als er die Stimme seines Sohnes hörte.

«Vater?»

Er blickte auf und sah in die besorgte Miene von Franz. Schnell beeilte er sich, ein Lächeln aufzusetzen. Die Muskeln um die Mundwinkel schmerzten von der Anstrengung. Der Junge kam näher und setzte sich, beobachtete ihn jedoch weiterhin neugierig.

«Hast du schlecht geschlafen?»

Martin winkte ab. «Es ist nichts. Nur ein schlechter Traum, der mich wach gehalten hat. Und du?»

Franz gähnte und rieb sich das Kinn, an dem erst wenige blonde Bartstoppeln sprossen. Er griff nach einer Scheibe Brot und beschmierte sie dick mit Konfitüre. «Wie ein Stein.»

Mit leichtem Neid sah Martin seinem Sohn beim Kauen zu. Wie herrlich war die Jugend, wenn man schlafen und essen konnte, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Ihm dagegen war die Kehle zugezurrt, keinen Bissen würde er hinunterbekommen. Er nahm einen hastigen Schluck vom Kaffee, der inzwischen lauwarm war. Dann stand er auf und strich seinem Sohn im Vorübergehen über das zerzauste Haar. Der ließ es gutmütig über sich ergehen, dabei war er eigentlich zu alt für derlei Zärtlichkeiten. Schon dieses Jahr würde er das Abitur am Prinz-Heinrichs-Gymnasium in der Schöneberger Klixstraße ablegen.

Der Sohn schien Martin wie ein leuchtender Stern an seinem verdunkelten Himmel. Für ihn lohnte es sich, jeden Morgen aufzustehen, in die überfüllte Stadt Berlin in die Charité zu fahren, den täglichen Stumpfsinn zu ertragen. Der Junge dagegen würde einmal alles erreichen können, was er wollte. Klug war er und dazu hübsch, was Martin immer wieder aufs Neue verwunderte, da er doch Inges und sein Sprössling war, beide von durchschnittlichem Äußeren. War die nächste Generation immer besser als die vorangegangene?

Franz murmelte, mit vollem Mund und Marmelade an der Lippe, einen Abschiedsgruß, schwang die Ledertasche über die Schulter und stülpte sich die Gymnasiastenmütze auf. Martin lauschte den polternden Schritten im Treppenhaus. Wie ein ungestümer Gaul mit den langen Beinen in den Knickerbockers, dachte er und lächelte knapp. Dann ging er zum Bad und rüttelte an der Tür, doch Inge gab keine Antwort. So rasierte er sich rasch am Waschtisch in der Schlafstube, ärgerte sich wie jeden Morgen über den schmutzigen Sprung in der Porzellankanne und schlüpfte in Hemd, Hose und Jacke. Kurz betrachtete er seinen grimmigen Gesichtsausdruck im Spiegel über der Kommode.

Ein Gespräch mit seinem Doktoranden stand heute als erster Termin im Kalender, und diese Aussicht trug nicht dazu bei, dass Martins Laune sich hob. Der junge Mann war in seinen Augen ein Nichtsnutz, ein Emporkömmling ohne Begabung für die Medizin. Doch es war der Sohn eines Kollegen, und er hatte ihn nicht ablehnen können. Und leider galt die Psychiatrie als Auffangbecken für die Talentlosen, deren Hände nicht ruhig genug für die Chirurgie waren. Auch wenn er, Martin, genau wusste, welch diffizile Wissenschaft die Lehre von der menschlichen Seele war.

Die Tür der Wohnung fiel dumpf hinter ihm ins Schloss. Schon eilte er durch die baumlose Sedanstraße der Bahn zu. Immer pfiff hier der Wind, nichts hielt ihn auf. Die Straße lag da wie ein leeres Flussbett. Schöneberg nannte sich Stadt, war aber in seinen Augen nicht mehr als ein sandiges Kaff. Wenn die Wohnung wenigstens im nobleren Schöneberger Westen liegen würde, in der jüdischen Schweiz, wie das Bayerische Viertel wegen der dichten Besiedelung durch wohlhabende Juden auch bezeichnet wurde. Zwar hatte Martin diesen Leuten gegenüber ein gewisses Misstrauen, doch dort waren die Plätze herrschaftlich und die Wohnungen großzügiger als hier auf der Schöneberger Insel. Ärzte, Richter, Industrielle lebten dort. Er, Professor Spitzweg, hätte ebenfalls dorthin gehört! Doch als er die Wohnung gekauft hatte, war er noch nicht auf eine Professur berufen worden, und das Geld war knapp gewesen. Und heute, da sie es sich hätten leisten können, wollte Inge nicht mehr umziehen. Der Junge sei ohnehin bald aus dem Haus, sagte sie, und alte Pflanzen, wie sie und er es seien, schlügen in fremdem Boden keine Wurzeln mehr. Martin hatte zwar nicht das Gefühl, dass er hier in dieser leblosen Straße verwurzelt war, doch er fühlte sich zu schwach, um gegen seine Frau aufzubegehren. Er machte sich ohnehin aus den meisten Dingen nichts.

Gerade noch erwischte er die Bahn nach Berlin, Richtung Friedrich-Wilhelm-Stadt. Sie war voller Männer wie ihm, in dunklen Anzügen, mit Bowler Hats und müden Augen. Wie traurige Pinguine mit Aktentaschen hingen sie an den Griffen und schwankten während...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2022
Reihe/Serie Die Lichterfelde-Reihe
Die Lichterfelde-Reihe
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 1. Weltkrieg • 20. Jahrhundert • Arzt • Ärztin • Berlin • Emanzipation • Familie • Familienroman • Frau • Frauenschicksal • Fräulein Gold • Freundschaft • Generation • Generationenroman • Geschenke für Frauen • Geschichte • Großer Krieg • Historische Romane • Kaiserreich • Lichterfelde • Liebe • Medizin • Roman für Frauen • Saga • Schicksal • Studium • Villenkolonie
ISBN-10 3-644-00776-4 / 3644007764
ISBN-13 978-3-644-00776-5 / 9783644007765
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