Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. (eBook)
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2703-7 (ISBN)
Kristine Getz, Jahrgang 1983, hat Architektur und Ernährungswissenschaften studiert und arbeitet als Publizistin. Sie lebt in Colorado in den USA mit einem norwegischen Ehemann und italienischen Hunden. 'Poppy' ist ihr Debütroman.
Kristine Getz, Jahrgang 1983, hat Architektur und Ernährungswissenschaften studiert und arbeitet als Publizistin. Sie lebt in Colorado in den USA mit einem norwegischen Ehemann und italienischen Hunden. "Poppy" ist ihr Debütroman.
ZWEITER TAG
MONTAG, 17. JUNI 2019
Emer Murphy.
Polizeipräsidium, Oslo
Nacht auf Montag
»Lottes Cousin, Fabian Moen, wird seit 2010 von Interpol gesucht«, erzählte Mons. »Nachdem Lottes Onkel 2011 verstorben war, hat die Tante, Berit Moen, all das Böse – und damit meinte sie sowohl ihre Nichten als auch ihren Sohn – hinter sich zu lassen versucht.«
Emer stand allein außerhalb des Besprechungszimmers, das zum Großraumbüro des Dezernats gehörte, und lauschte der weithin tragenden Stimme ihres Partners. Sie stellte sich vor, wie er am Whiteboard in dem überfüllten Raum stand und alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Das Briefing hatte bereits vor einiger Zeit begonnen, und sie hatte wirklich vorgehabt, daran teilzunehmen – aber bei dem Gedanken, in den Raum zu gehen, aus dem sie vor sechs Wochen herausgetragen worden war, bäumte sich alles in ihr auf.
»Die Medien haben Fotos von Fabian Moen bekommen«, fuhr Mons fort, »verbunden mit der Aufforderung, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen, sollte jemand etwas wissen. Seine Mutter ist überzeugt davon, dass er tot ist, da er ihr sonst irgendein Lebenszeichen geschickt hätte. Interpol steht ohne jede Spur da.«
Emer verfluchte ihren Körper, die Angst, die sie wieder zu überwältigen versuchte. Der Puls pochte in ihren Schläfen, und ihre Herzschläge spürte sie noch in ihren Fingerkuppen. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Wollte sich zwingen, in den Raum zu gehen und ihren Kollegen mitzuteilen, dass Fabian Lotte noch in ihrer Schwangerschaft 2016 bedroht hatte.
Lautes Gemurmel war zu hören, nachdem Mons mitgeteilt hatte, dass Berit Moen ihm aus eigenem Antrieb Telefon, iPad und Laptop gegeben habe. Auch Wiigs Ferienhaus in Hemsedal war mittlerweile ergebnislos durchsucht worden. Von Poppy fehlte weiterhin jede Spur.
»Weiß jeder, was er zu tun hat? Also los.«
Und dann war das Briefing vorbei.
Es kribbelte in ihrem Nacken. Emer brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Katja Wiberg vor dem Aufzug im Flur stand und sie beobachtete. Verflucht. Sie holte tief Luft und schob sich mit gesenktem Blick durch den Strom der Kollegen, die aus dem Raum drängten. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihr Fragen stellte, was sie denn schon wieder im Präsidium machte.
Mons saß noch am Tisch, auf dem zahllose halb volle Kaffeetassen standen, und aß ein verspätetes Abendessen: einen Proteinriegel. Josef Ibrahim rollte die Leinwand ein, sodass das Whiteboard dahinter zum Vorschein kam. Es war leer. Sie hatten Emers mit der Zeit ziemlich kompliziert gewordene Mindmap über den »Albtraumfall« also weggewischt – vermutlich war der Fall gelöst worden, als sie in der Klinik war.
Sie warf einen raschen Blick zur Tür, entspannte sich, weil sie Katja Wiberg nirgends sah, und nahm schräg gegenüber von Mons Platz: »Berit Moen irrt sich. 2016 war ihr Sohn auf jeden Fall noch am Leben. Da hat er Lotte bedroht.«
»Was?« Mons schluckte und warf den Rest des Energieriegels weg. »Es gibt Beweise dafür, dass Fabian vor drei Jahren noch am Leben war?«
»Die E-Mail wurde inzwischen leider gelöscht«, sagte sie. »Aber Alexandra Moen hat ausgesagt, dass er ein paar Wochen, nachdem Lottes Schwangerschaft in der VG verkündet worden war, Kontakt mit Lotte aufgenommen hat.«
Mit einem Mal verschwanden alle Anzeichen von Erschöpfung aus Mons’ Gesicht. »Und, was hat er gesagt?«
»Geschrieben. Eine E-Mail. Moment.« Emer öffnete die Notiz, die sie sich in ihrem Handy gemacht hatte, und las langsam: »Es freut mich, dass du eine kleine Kopie von dir zur Welt bringen wirst. Von der Charlotte, die ich so gut kenne. Du kannst dir sicher sein, dass ich das verfolge.«
»Das ungeborene Kind ist die Kopie von Lotte?«
Emer wollte ihm von Lottes Operationen erzählen, als Mons’ Telefon klingelte. »Bø ist im Samana Spa«, erklärte er, ehe er das Gespräch entgegennahm und auf laut stellte: »Ja?«
»Ich bin gerade in Wiigs Suite.« Die nasale Stimme der Kollegin erfüllte den Raum. »Rosen, Konfekt und eine fast leere Flasche Champagner. Zwei Gläser. Eine der Taschen ist geöffnet. Es sieht so aus, als hätte Jens seine Jeans ausgezogen. Daneben liegt die Verpackung einer Pulsuhr.«
»Hast du die Masseurin sprechen können?«, fragte Mons.
»Per Telefon, ja«, antwortete Bø. »Lotte wirkte während der Behandlung ziemlich gestresst. Sie soll ständig den Kopf gehoben und es nicht geschafft haben, sich wirklich zu entspannen.«
Vielleicht hat sie sich Sorgen wegen des Stalkers gemacht, dachte Emer.
Bø fuhr fort: »Der PR-Verantwortliche hat erzählt, dass die Reservierung für ihre größte Suite am Freitagnachmittag um fünf Uhr gecancelt worden ist, und jetzt kommt etwas, das ich für wichtig halte, Tidemand.« Die Polizistin machte eine Pause. »Die Idee, stattdessen die Wiigs einzuladen, kam indirekt von der Person, die die Reservierung gecancelt hat.«
»Wie meinst du das?«, fragte Mons.
»Ich glaube, es ist am einfachsten, wenn ich dir die E-Mail weiterleite, die der Kundenservice Freitagnachmittag erhalten hat.«
Mit diesen Worten war Bø verschwunden.
Mons öffnete die Mail und las mit hochgezogenen Augenbrauen. Es rumorte in Emers Magen, sie durfte die Medikamente nicht auf leeren Magen nehmen, weshalb ihr Körper sich an die regelmäßigen Mahlzeiten gewöhnt hatte. Es schien ihrem Bauch gar nicht zu gefallen, wenn sie nur dann aß, wenn es gerade einmal passte. Sie nahm einen Proteinriegel von dem Berg, der auf dem Tisch lag, hatte aber Schwierigkeiten, die goldene Verpackung aufzureißen. Ihr Partner las fertig und reichte ihr das Handy – den Blick auf ihre kraftlosen Finger gerichtet. Es wäre mehr als typisch für ihn, wenn er bei seinem Besuch bei ihr im Krankenhaus irgendwie herausgefunden hätte, welche Medikamente sie nahm, und dann auch die Nebenwirkungen gegoogelt hätte. Bevor er ihr seine Hilfe anbieten konnte, warf sie den Riegel zurück auf den Tisch und scrollte zum Beginn der E-Mail. Sie war am Freitag um 17.01 Uhr von einer gewissen Cassandra Carlsen an die Adresse kundenservice@samanaspa.no geschickt worden. Knapp zwei Tage, bevor das Ehepaar Wiig eingecheckt hatte:
Liebes Team vom Samana Spa,
inspiriert von Lotte Wiigs positiven Berichten und ihren wunderschönen Fotos von ihrem Besuch 2018, habe ich von kommendem Sonntag auf Montag einen Aufenthalt bei Ihnen gebucht (wobei ich dieselben Behandlungen reserviert habe, die auch Lotte bekommen hat). Weil Lotte am Sonntag Geburtstag hat und jedes Jahr bei Ihnen feiert, hatte ich gehofft, sie dort vielleicht auch sehen zu können.
Es ist eine Schande, dass die wundervolle Suite nun leer stehen wird, aber krankheitsbedingt muss ich meinen Besuch bei Ihnen leider absagen. Ich nehme wieder Kontakt mit Ihnen auf und buche einen neuen Termin, sobald mir dies möglich sein wird.
Voller Bedauern verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
Cassandra Carlsen
Emer reichte das Handy an Josef weiter, der eine blaue Kapuzenjacke über sein Jeanshemd gezogen hatte. Eine Schande, die wundervolle Suite leer stehen zu lassen? Hatte gehofft, Lotte dort zu sehen?
»Ist es möglich, dass diese E-Mail von Jens kommt?« Sie sah zu Mons. »Hat er die Suite unter falschem Namen gebucht und im letzten Augenblick gecancelt, um so doch noch zu einem Gratisaufenthalt eingeladen zu werden?«
»Verdammt viel Aufwand. Außerdem konnte er sich ja nicht sicher sein, dass sie wirklich anbeißen«, meinte Josef. »Wir müssen versuchen, diese Cassandra Carlsen aufzuspüren.«
Er stand mit Mons’ Telefon in der Hand auf und ging zu einem Kollegen auf der anderen Seite des Großraumbüros. Das IT-Team bestand aus vier Personen, die anderen drei hatten sich gerade alle vor einem Bildschirm versammelt.
»Hallo, Loe, könntest du mal … was guckt ihr denn da?«
Josef sprach leise mit seinen Kollegen, ehe er rief: »He, Tidemand, komm mal!«
Emer folgte ihrem Partner zu den Computern. Die drei anderen – zwei bärtige Typen und eine junge Frau mit kompliziert geflochtenen Haaren – traten zur Seite und gaben den Blick auf den Bildschirm frei.
»Dieses Bild kursiert auf Social Media«, sagte Josef und fragte dann an seine Kollegen gewandt: »Hat die Presse das schon?«
»Noch nicht«, sagte die junge Frau. »Es wird aber nicht lange dauern, bis das in allen Onlineausgaben zu sehen ist.«
Das Bild war in der Mitte geteilt. Links ein rundliches Mädchen mit flacher Brust, schwarzen Haaren und weichen runden Wangen. Sie trug nur einen Slip, Körper und Gesicht waren mit Tuschestrichen markiert. Und rechts – Emer musste die Augen zusammenkneifen, die Auflösung war nicht gut. Ein anderes Mädchen mit großen Brüsten, schmaler Taille, gerader Nase und hohen Wangenknochen.
»Ich weiß echt nicht, wer das sein soll«, sagte Mons irritiert.
»Das ist Lotte.« Emer richtete sich auf. »Vor und nach den...
Erscheint lt. Verlag | 27.5.2022 |
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Reihe/Serie | Die Emer-Murphy-Serie | Die Emer-Murphy-Serie |
Übersetzer | Günther Frauenlob |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Arbeit im Polizeiteam • Carrie Matthison • darknet • entführtes Kind • Ermittlerin • Familiengeheimnis • Homeland • influencer • Instagram • lesbische Ermittlerinnen • Norwegenkrimi • Oslo • Psychische Probleme • Psychopharmaka • Schwedenkrimi • Skandinavienkrimi |
ISBN-10 | 3-8437-2703-1 / 3843727031 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2703-7 / 9783843727037 |
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