Kelly-Briefe (eBook)

Die Neuausgabe von Wondratscheks Kelly-Briefen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
160 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2685-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kelly-Briefe -  Wolf Wondratschek
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Ist Liebe letztlich ein Ort, unmöglich sich dort zu treffen? Ein Briefwechsel, spontan entstanden, geschrieben von zwei Liebenden.   »Der beste Prosatext, den ich von Wondratschek kenne.« Patrick Süskind im SPIEGEL   »Wondratschek schreibt so, wie Glenn Gould spielte.« Stuttgarter Zeitung Nach diversen Ausschweifungen beschließt ein junger Mann eines Tages, sich in New York selbst in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Vom ersten Tag an fühlt er sich dort wohl und in Sicherheit, während seine Geliebte, und das schon allzu lange, in Europa auf seine Rückkehr wartet. Um sie nicht zu verlieren, versucht er sie mit rücksichtslos verrückten Liebesbriefen bei Laune zu halten. Er wird für sie zum Geschichtenerzähler, zum Erfinder ungeahnter, an Wahnsinn grenzender Zärtlichkeiten. Mit jedem seiner Briefe wirbt er um sie mit Worten, dass davon selbst die Liebe verrückt werden muss. Aber sie scheint ihm mehr und mehr zu entgleiten ... Sein letzter Brief an die Geliebte, seine »Aprikosenkauende Pharaonin«, sein »Ungeheuer«, ist ein trunkener Schrei.

Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der 1980er-Jahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.

Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der Achtzigerjahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.

Danke für Deinen Brief, er hat gutgetan. Ich bin in allen Punkten Deiner Meinung, auch darin, daß Du mich liebst. Mehr noch, ich bin auch damit einverstanden, Dich nie mehr loswerden zu können.

Ich weiß zwar nicht, ob es zu den aufregendsten Dingen zwischen uns gehört, einander ohne Mißtrauen und ohne jede Einschränkung alles glauben zu wollen, was wir sagen, einander schreiben, denken oder nur einfach tun, aber ich beteuere hiermit, gar nie auch nur daran gedacht zu haben, Dich je loswerden zu wollen. Wie sollte ich? Nun gut, es gab Zeiten (und sie werden sich sicher wiederholen), da warst Du mir keineswegs unentbehrlich – keine Frau war das für mich jemals –, aber auch da habe ich mich nach Dir gesehnt. Ich kann mich an keine noch so gedankenlose Sekunde erinnern, in der diese Sehnsucht mich nicht an Dich erinnert hätte. Ich übertreibe nicht. Und doch, ich gestehe es, fühle ich mich auf eigene Kosten und ganz allein mit mir am wohlsten. Wie oft habe ich mich eingeschlossen! Ich war unerreichbar, auch für Dich. Ich schlug Deine Angebote zu gemeinsamen Unternehmungen aus, sei es eine kurze Reise, ein kleines Trinkgelage oder jene Art eines Kurzbesuchs, der genügte, um sich schnell zu lieben, schnell, direkt, anspruchslos, gierig. Ich kannte Dein Klingelzeichen, auch das in Notfällen, aber die Tür geöffnet habe ich nicht, nicht immer jedenfalls – um ehrlich zu sein, habe ich dabei sogar Vergnügen empfunden, und manchmal war der Spaß wohl größer als jener, auf den ich verzichtete.

Ich kann tun und lassen, was ich will. Das ist der Gegenwert, den ich zu bieten habe. Und deswegen liebst Du mich? Mit (fast) keiner anderen Frau habe ich diese Leichtigkeit genossen.

Andersherum, Liebste, bist Du damals, ohne daß es zwischen uns Streit gegeben hätte, plötzlich mit einem Gitarrenspieler durchgebrannt (oder war’s sonst ein musikalischer Hochstapler?). Wir saßen in unserem Restaurant, als Dir die Tränen über das Gesicht liefen. Weil Dir das nicht gerade selten passiert, zum Beispiel wenn Du, ohne genau die Gründe zu kennen, glücklich bist, mit allem glücklich, mit Dir selbst, mit mir, mit der Wirkung des Weins, mit der Dunkelheit draußen und der Freude auf eine gemeinsame Nacht, glücklich bis über die eigene Haut hinaus mit allem, was Du gerade siehst, schmeckst, fühlst, nahm ich natürlich an, es gäbe nur unser Einverständnis miteinander – und nicht etwa eine bereits begonnene Affäre, Deine Angst, mich zu verlieren, und die Ungewißheit eines möglicherweise saudummen Abenteuers. Was es zu sagen gab, hast Du gesagt. Ich habe zugehört. Seltsamerweise gefiel mir, was da passierte. Mir gefiel die Situation. Ich fühlte mich erstaunlicherweise sogar erleichtert. Die Situation hatte einen hohen Wert an Wahrheit, fand ich. Und gleichzeitig spürte ich, wie verwirrt Du warst über meine freundliche Gelassenheit, meine geradezu brüderliche Verständnisbereitschaft, wie Du aber nicht anders konntest, als ihr zu trauen. Geh! Geh zu ihm! Geh weg von ihm! Komm zurück, wenn Du willst. Das Risiko, daß ich dann eine andere liebe und Dich nicht mehr haben will, kennen wir beide.

Erinnerst Du Dich, wie Du meine Hand angefaßt und meine Augen nach Zeichen meiner Aufrichtigkeit abgesucht hast? Natürlich beunruhigt, in meinem Blick keine Spur von Eifersucht, von Traurigkeit oder Enttäuschung entdecken zu können! Ich habe keine Theorie, was die Lösung solcher Konflikte betrifft, aber immer habe ich die Unvernunft menschlicher Ekstasen mehr respektiert als die Würde des Verzichts. Im übrigen, Liebste, habe ich nie einer Frau (auch nicht der, die ich liebte) das Recht abgesprochen, zwei Männer (und beide zur gleichen Zeit!) haben zu wollen. Sie muß nur den Schmerz aushalten können, den dieser Konflikt auslöst.

Daß Du dann von dem Kerl, wer immer es war, schon nach einigen Wochen die Nase voll hattest, konnte niemand wissen. Gemeldet hast Du Dich jedenfalls ein halbes Jahr nicht bei mir. Ich habe es, wie Du weißt, von Dritten erfahren – und Dich dann aus Paris angerufen.

Es wäre eine Dummheit, Dich wegen irgendwelcher Affären aus den Augen verlieren zu wollen. Im Gegenteil! Nichts wäre mir lieber, als mit Dir meinen letzten irdischen Orgasmus zu feiern! Von Deiner Hand sterben, sozusagen! Zurückverwandelt noch einmal (zum letzten Mal!) in den unerfahrenen, kleinen Jungen, den Du Dir manchmal gewünscht hast, um an ihm Deine kalte Geilheit auszuprobieren. Eine Phantasie, die Seligkeit eines vollkommen verwahrlosten Spiels, eine Verwandlung. Dein zum Zerspringen klopfendes Herz! Und dann doch nur, wenn Du die Augen wieder öffnest, die Hand zwischen den Beinen.

Offenbar ist uns beiden zwar klar, wie gut wir einander kennen, aber nicht, wie lange das schon andauert. Du warst immer glücklich. Mit mir – und ohne mich. Aber was ist das denn: Glück? Schrieb nicht irgendwer irgendwo einmal: Glück ist ein kleines, lebendiges, zahmes Wort, das alleine tanzt und weint. Etwas in Dir war immer allein, tanzte und weinte und harrte aus.

Du mußt mich genauer wahrgenommen haben, als wir auf der griechischen Insel zum ersten Mal zusammentrafen. Meine Erinnerungen sind nicht sehr intensiv, auch nicht was Dich betrifft. Ich erinnere mich an eine Familie – und mit Familien hatte ich nichts am Hut. Doch, ich habe Dich gesehen. Du schienst gut aufgehoben, auch mit Deiner Unruhe, von deren Ausmaß ich damals ja nichts ahnen konnte. Ich sah, ehrlich gesagt, vor allem Deine Beine. Na ja, Deine Pobacken vor allem. Die muß der Herrgott eigenhändig poliert haben. Deine Augen, nein, die muß ich damals übersehen haben, Gott sei Dank. Wie hätte ich mich noch erholen sollen?

Ansonsten war seliger Friede, nicht wahr? Es roch nach Zwiebeln, Knoblauch, nach Salzwasser und geschnittenen Tomaten und nach steiniger Erde, auf der es, unverständlich genug, da und dort sogar blühte. Es gab Schlangen, eine Zisterne, es brüllten Esel in der Mittagshitze. Es gab Sonnenuntergänge und Wein. Deine Kinder haben nie irgendeinen Lärm gemacht, daran erinnere ich mich wie an ein Wunder. Ihr wart angenehme Leute. Etwas zum Beneiden für alle, die gleiche Pläne haben. Ich hatte keine, sondern eine Freundin dabei, eine russische Fotografin, die mir prophezeite, ich würde beim nächsten Meltemi ausrasten. Ich habe gelacht. Doch, doch, meinte sie, es sei dann gefährlich für die Leidenschaft. Ich liebe Explosionen, konnte mir aber, was meinen Gemütszustand betraf, keine vorstellen. Bis dann der Meltemi kam. Er blies drei Tage lang. Die Stimmung veränderte sich. Der Wein schmeckte anders. Das Mißtrauen wuchs. Ich schlief schlecht und war über Kleinigkeiten verärgert. Und schließlich kam es zum Streit. Eine Ohrfeige kostete meine Geliebte das rechte Trommelfell. Dann ließ der Wind nach. Alles veränderte sich wieder zum Guten. Ich bin nicht gerade stolz auf die Methode, eine Geliebte zu bändigen, aber ich begreife Odysseus jetzt besser. Und dann reisten wir ab.

Zum Schluß, und sei es nur, um es endlich loszuwerden und Dich zu beruhigen, die Wahrheit über meine derzeitige Situation; vielleicht verstehst Du dann auch meine Weigerung, Dich hierhaben zu wollen.

Ich war nach einem Zusammenbruch, an dessen Einzelheiten ich mich kaum noch richtig erinnern kann, im hiesigen Virginia-Reiter-Hospital gelandet. Ich hatte zuerst nicht die geringste Ahnung, wohin ich da geraten war. Ich kannte ja nicht einmal die Gegend, und noch weniger die Gründe, die mich veranlaßt haben könnten, mich nachts dort herumzutreiben, auch noch mutterseelenallein. Gut möglich, daß ich es mit der Angst zu tun bekommen hatte, weil ich hinter mir Schritte und einen Pfiff hörte (oder zu hören glaubte), mich also verfolgt und bedroht fühlte – gegen Typen in Turnschuhen, auf Geld, Gold und Stoff scharf, hätte ich bei meinem Schuhwerk keine Chance gehabt, nicht bei den abgelatschten Texasstiefeln, die ich trug; außerdem fehlte dem rechten Stiefel ein Teil des Absatzes –, und daß ich deshalb so zielstrebig auf das einzige, aber hell erleuchtete Gebäude zugesteuert bin, das ich in der Eile überhaupt noch wahrnahm. Es hätte eine Brauerei, ein Lagerhaus oder irgendein Hotel sein können, um mich vor einer tatsächlichen oder eingebildeten Gefahr in Sicherheit zu bringen. Aber nein, es war, wie sich dann herausstellte, gleich die richtige Adresse. Der Zufall wollte es so. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. Ich war endlich in Sicherheit, das fühlte ich trotz meines inzwischen restlos fragwürdigen Geisteszustands – vorausgesetzt, irgendwer setzte mich nicht gleich wieder auf die Straße. Als sich meine Augen an die glatte Helligkeit der...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Briefe • Einsamkeit • Erinnerungen • Leidenschaft • Liebe • Liebesbriefe • Lilo Rinkens • Literatur • Memoiren • New York • Prosa • USA • verzehrende Liebe • Wahnsinn • Wahnsinn der Liebe
ISBN-10 3-8437-2685-X / 384372685X
ISBN-13 978-3-8437-2685-6 / 9783843726856
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